10. Zio Giacomo

Als wir wieder wach wurden, bog der Bus gerade in eine Seitenstraße ein. Ich hatte die ganze Zeit schon wahrgenommen, dass er sich durch den Verkehr einer Kleinstadt gekämpft hatte und nur meterweise vorwärtsgekommen war. Doch nun kam er endgültig zum Stillstand, und Maria drehte sich zu uns um.

«Eccoci!»

Wir rappelten uns auf und kletterten aus den Sitzen. Domenico wandte sich zu mir und streckte mir seine Hand hin. Als ich sie nahm, merkte ich, dass sie eiskalt war – ein Phänomen, das eher selten bei ihm vorkam. Und dazu noch bei dieser Hitze im Bus! Mir lief der Schweiß in Bächen runter. Ich war froh, endlich an der frischen Luft zu sein.

Maria holte das Gepäck heraus, während ich mich umsah und Domenico sich schnell eine Zigarette reinzog. Wir waren auf einem kleinen Busbahnhof mitten in Licata – jedenfalls nahm ich an, dass dies Licata war. Doch offenbar waren wir noch nicht definitiv am Ziel, denn Maria winkte ein Taxi heran.

Domenico, Bianca und ich saßen wieder in der gleichen Formation auf dem Rücksitz wie zuvor in Catania. Während der Fahrt, die ganz offensichtlich Richtung Hafen führte, beobachtete ich, wie Maria sich mit dem Fahrer unterhielt und dabei einfach die Hand auf sein Bein legte. Der Fahrer schien leicht nervös zu sein. Was bezweckte Maria mit dieser Geste? Wollte sie sich einen neuen Kunden angeln? Oder kannte sie den Mann?

Wir fuhren den Strand entlang und bogen schließlich in eine holprige, sandige Seitenstraße, die einen kleinen Hang hinaufführte. Maria hieß den Fahrer, hier anzuhalten. Anscheinend waren wir nun endgültig am Ziel.

Wir stiegen aus. Der Boden war trocken und staubig. Ich schaute den Hang hinunter, und vor uns erstreckte sich das Meer. Maria zündete sich eine Zigarette an und drehte sich zu Domenico um, der sich mit unergründlichem Blick in alle Richtungen umsah.

«Facci strada, Domé», sagte Maria. «Tu, a'a strata a canusci.» Sie zog den Foulard etwas enger um ihre Schultern.

Domenico schaute seine Mutter an und schüttelte nur den Kopf.

«Ma sì, comu no. Amunì!»

Wollte Maria damit andeuten, dass Domenico wusste, wo er sich befand? Dass er schon mal hier gewesen war?

Domenico schüttelte wieder den Kopf, dann ging er zu seiner Mutter, um sich an ihrer Zigarette eine eigene anzuzünden. Auch diese kleine Geste erschien mir so seltsam. Wieso nahm er nicht einfach sein eigenes Feuerzeug?

Er setzte sich auf einen Stein und schob seine Hand unter sein T-Shirt. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht. Wieder kam er mir vor wie ein kleiner, verwirrter Junge, der nicht mehr wusste, wohin er gehörte.

«Domé!», sagte Maria eindringlich. «Ma, 'unn te rricordi de' to' zio Giacomo?»

Zio Giacomo? Wer war Zio Giacomo? Ich wusste nur, dass Zio Onkel bedeutet …

Domenico starrte auf seine Zigarettenspitze.

«E amunì…» Maria zog ihn am Arm.

Schließlich stand er auf und schmiss die Kippe auf den Boden. Ich dachte schon, er würde ausrasten, doch er drehte sich um und ging zaghaft ein paar Schritte den Weg entlang. Dann blieb er stehen und wandte sich zu mir um. Sein Blick hieß mich eindeutig, ihm zu folgen. Ich ging zu ihm und legte meinen Arm um ihn.

Maria nickte befriedigt und warf ihre Zigarette ebenfalls weg. Eine gewisse Spannung lag in der Luft …

Domenico steuerte auf ein kleines Häuschen am Hang zu, das wie so viele Häuser hier auf Sizilien dringend einen Anstrich und eine Renovierung nötig gehabt hätte. Kurz davor blieb er wieder stehen und wartete, bis seine Mutter bei ihm war. Vorsichtig löste er sich von mir. Bianca folgte uns mit verschlossener Miene. Maria überholte uns und klopfte an.

Es dauerte eine Weile, bis sich im Haus etwas regte, doch Maria machte keine Anstalten, nervös zu werden. Sie wartete geduldig, bis Schritte zu hören waren und die Tür geöffnet wurde. Ein älterer Mann mit zerzausten weißen Haaren und einem blauen T-Shirt stand vor uns. Sein weißer Schnauzer erinnerte mich irgendwie an einen Seebären. Er rieb sich die Augen – einerseits, weil er eben erst aufgestanden zu sein schien, andererseits, weil er wohl seinen Augen nicht recht traute …

«Ciao zi'…», sagte Maria und lächelte schüchtern.

Jetzt kam Leben in die Augen des Mannes. Viele kleine Fältchen wurden um sie herum sichtbar, als sie anfingen zu strahlen wie zwei funkelnde Sterne. Fast erinnerten sie mich ein wenig an die Augen von Pfarrer Siebold. Sichtlich überwältigt von seinen Emotionen streckte der Mann seine Arme nach Maria aus.

«Ma, veru è? Tu si? O cori me vene, Maria! Figghia mia, bedda do zio!» Mit diesen Worten drückte er sie fest an sich und küsste sie auf die Wange, als wäre sie eine verschollene Tochter von ihm. Das war doch nicht etwa ihr Vater? …

Lautstarke Freudenbekundungen wurden ausgetauscht, und sowohl Maria wie auch der Mann wischten sich dabei mehrmals über die Augen. Es war eindeutig, dass sie sich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatten …

Dann fiel der Blick des Mannes erstmals auf Domenico, und ein großes Fragezeichen erschien in seinen Augen.

Maria legte ihre Hände um Domenicos Schultern und schob ihn vor sich. Und Nicki ließ es einfach geschehen.

«Ò zi', a Domenico t'o ricordi?»

«Domenico?» Der Zio nahm Domenico genauer in Augenschein, und sein Mund blieb vor Erstaunen offen.

«'Unn è vveru … Chistu è Mimmo, o nico mia?»

«Iddu è», bestätigte Maria seine ungläubige Frage.

Der Zio schüttelte fassungslos den Kopf. Dann stürzte er sich regelrecht auf Domenico und fiel ihm mit gleicher Überschwänglichkeit um den Hals, wie er es eben bei Maria getan hatte. Dieses Mal wischte er seine Tränen jedoch nicht mehr weg.

Ich selbst kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ich fragte mich langsam echt, was am Schluss bei dieser Geschichte noch alles rauskommen würde. Und über allem stand die Frage: Wer war dieser Mann? Was für eine Rolle hatte er in Domenicos Leben gespielt? Denn dass er eine wichtige Rolle gespielt hatte, war ganz offensichtlich …

Und dann ging mir ein Licht auf! Natürlich! Dass ich da nicht gleich draufgekommen war …

Dieser Zio – das war der Fischer mit dem schwarzen Schnauzer, den Domenico mehrmals gezeichnet hatte! Nur dass sein Schnauzer inzwischen nicht mehr schwarz war wie auf den Bildern, sondern eben weiß. Immerhin waren Domenicos Erinnerungen mindestens dreizehn Jahre alt ...

Der Zio war nun ein paar Schritte zurückgetreten, um Domenico von Kopf bis Fuß mustern zu können. Ich verfolgte aufmerksam jede von Nickis Regungen, aber es war schwierig, sie zu deuten. Er sah aus, als hätte er eine komplett andere Welt betreten, von der er noch nicht wusste, was sie für ihn bereithielt – ob Freude oder Leid, Geborgenheit oder Zerrissenheit.

«Quantu criscisti, figghiu mia! Mimmo do Zizì … comu eri tu nico, e to frate puru … ma unn'è? Unn'è Michele?»

«Pace all'anima sua», sagte Maria leise und bekreuzigte sich mit gesenktem Blick.

Der Zio schaute Maria bestürzt und ungläubig an.

«Morse du' anni fa, Zi'», flüsterte sie traurig.

Der Zio schüttelte den Kopf. Er wirkte schockiert, seine Augen glitzerten. «E comu?»

«Droghe.» Maria strich sich die Haare aus der Stirn. «Eroina.»

Man brauchte nicht viel Italienisch zu verstehen, um zu kapieren, dass Maria dem Zio eben erklärt hatte, dass Mingo vor zwei Jahren an einer Überdosis Heroin gestorben war …

«No, ppi carità, 'unn è vveru, Micheluzzu nostro!» Der Zio schlug die Hände über dem Kopf zusammen und stieß Worte tiefster Bestürzung aus. «Trasite, trasite puru!» Er winkte uns mit den bei Italienern so typischen hektischen Handbewegungen ins Haus hinein. «Cùntame tutt'e cose!»

Auf einmal stutzte er und drehte sich wieder zu uns um. «E 'ste picciotte cu sunnu?» Sein Blick war nun auf Bianca und auf mich gerichtet.

Maria stellte uns vor. Erst Bianca, und der Zio – wie ich ihn nun insgeheim getauft hatte – war erneut ganz außer sich, als er erfuhr, dass Maria noch eine Tochter hatte. Offenbar hatte der Zio noch nie was von Biancas Existenz gehört, was darauf schließen ließ, dass Maria seit ihrem Weggang aus Sizilien nie wieder hier gewesen war.

«Incredibile! Precisa a ttia, è!» Zärtlich schloss er auch Bianca in seine Arme, sah sie an, sah wieder zu Maria und lächelte glücklich.

Es war so ziemlich das erste Mal, dass ich Bianca lächeln sah. Richtig lächeln, nicht dieses selbstgefällige Grinsen. Ich war erstaunt, dass diese abgebrühten Augen überhaupt noch ein ehrliches Strahlen zustande kriegten, und aus irgendeinem Grund rührte mich das richtig. Wieder kam dieses tiefe Mitleid für sie in mir hoch, von dem ich mir nicht so richtig erklären konnte, woher es kam. Ja, ich freute mich regelrecht für sie, dass sie endlich einmal geliebt und willkommen geheißen wurde.

Zuletzt kam ich dran und wurde als Domenicos Freundin vorgestellt, was dem Zio offenbar sehr gefiel. Auch ich wurde umarmt und geherzt, doch bevor der Zio mich mit einem Schwall sizilianischer Begrüßungsworte überschütten konnte, erklärte Maria ihm, dass ich aus Deutschland kam.

Der Zio schaute mich an, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er das nicht schon vorher bemerkt hatte. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich ein wenig Italienisch in der Schule gelernt hatte, und er lächelte erfreut.

Schließlich folgten wir dem Zio endgültig ins Haus. Ähnlich wie in der damaligen Kellerwohnung, in der Nicki und Mingo gelebt hatten, führte der Hauseingang direkt in eine kleine, vollgestopfte Küche, in der alles ziemlich schäbig und kaputt aussah. Doch mittlerweile hatte ich mich so an dieses einfache Leben gewöhnt, dass mir das kaum noch auffiel. Im Moment war ich wieder ganz zufrieden damit, wie sich die Dinge gerade entwickelten. Dieser Zio musste eindeutig einen guten Part in Domenicos Leben gespielt haben, und nun erfuhr ich vielleicht sogar mehr aus Nickis Kindheit, als ich mir je zu träumen gewagt hatte. Und nicht zuletzt hatte der Zio tatsächlich was von Pfarrer Siebold, wenn ich auch noch nicht genau wusste, was es war …

Das Wohnzimmer, in das uns der Zio führte, grenzte gleich an die Küche und wirkte trotz seiner Bescheidenheit gemütlich und freundlich. Die Möbel kamen eindeutig aus einer anderen Zeit als der unseren und hatten schon bessere Tage gesehen. Kein Teil passte zum anderen. Der Steinboden war ziemlich kaputt, und alte, abgewetzte Teppiche sollten wohl die schlimmsten Stellen verbergen.

Der Zio wies uns an, um den Esstisch Platz zu nehmen, und verschwand sofort wieder in der Küche. Maria folgte ihm, um ihm zur Hand zu gehen, und bald schon war das Brutzeln von Öl in einer Pfanne zu hören. Da ich von dem Proviant kaum was verzehrt hatte, war ich tatsächlich enorm hungrig.

Domenico war vor dem Fenster stehen geblieben, wo eine Menge eingerahmter Fotos auf einer kleinen Kommode gruppiert waren. Sehr vorsichtig nahm er eines der Bilder in die Hände. Ich wäre am liebsten zu ihm gelaufen und hätte dasselbe getan, aber ich beschloss, meine Ungeduld zu zügeln und zu warten. Außerdem spürte ich, dass er in Ruhe gelassen werden wollte.

Bianca allerdings nahm keine Rücksicht darauf, sondern ging zu ihm hin und schmiegte sich an ihn, während er ein Bild nach dem anderen in die Hand nahm und jedes von ihnen lange betrachtete.

Ich überlegte, was ich mit mir anfangen sollte, und ging dann zu Zio und Maria in die Küche. Der Zio war dabei, Fische auszunehmen und zu entgräten, während Maria Gemüse wusch. Sie drehte sich zu mir um und lächelte mich an. «Wir essen fra un po'», sagte sie.

«Kann ich was helfen?», fragte ich höflich.

«No, lassa stare!» Maria winkte ab. «Assètteti, ca ora si mangia … sitze, sitze, wir jetzt essen!»

Unschlüssig ging ich wieder zurück ins Wohnzimmer. Ich hätte liebend gern geholfen und mich nützlich gemacht, anstatt hier untätig rumzustehen. Domenico und Bianca waren immer noch intensiv mit den Fotos beschäftigt, und solange Bianca dermaßen an Domenico klebte, hatte es keinen Zweck, sich dazwischenzudrängen.

Doch bald war der Tisch gedeckt mit sizilianischen Köstlichkeiten, Pasta, frittierten Auberginen, eingelegten Zucchini, Paprika, Artischocken und vielem mehr.

Wir nahmen Platz. Ich saß neben Domenico, und Bianca saß ihm gegenüber. Maria schenkte uns wie selbstverständlich ordentlich Wein ein. Auch Biancas Glas füllte sie.

Dann wurde viel erzählt und geredet. Erst mal wollte der Zio eine Unmenge von Maria wissen. Ich verstand wenig von der Unterhaltung, da sie alle im stärksten Dialekt redeten. Nur ab und zu schnappte ich ein paar Satzfetzen auf, die ich verstand.

Maria erzählte dem Zio offenbar ein paar Dinge aus ihrem Leben. Sie trug immer noch ihren Foulard über ihren Schultern, um ihre Oberweite zu verdecken. Vermutlich wollte sie beim Zio einen guten Eindruck machen. Sie wirkte ab und zu etwas nervös, fuhr sich immer wieder mit der Hand durch ihr unbändiges Haar. Jedes Mal, wenn ihr Weinglas leer war, goss sie wieder nach. Ob der Zio über ihre Alkoholprobleme Bescheid wusste? Ich hatte den Eindruck, dass er jemand war, dem man nicht so leicht etwas vormachen konnte. Seine Augen wirkten scharf und aufmerksam. Ich fragte mich, ob er hier ganz allein lebte. Hatte er keine Frau?

Merkwürdigerweise wurde Mingo bei den ganzen Gesprächen überhaupt nicht mehr erwähnt. Aber dann fiel mir ein, dass Maria und der Zio sich wohl schon in der Küche ausgiebiger darüber unterhalten hatten und das Thema aus Rücksicht auf Domenicos Gefühle hier nicht mehr anschnitten.

Nachdem wir den zweiten Gang serviert bekommen hatten – gebratenen Fisch mit Gemüse –, wandte sich der Zio an Domenico und stellte ihm vorsichtig ein paar Fragen. Domenico antwortete leise und zurückhaltend, während Maria sich bereits ihr sechstes oder siebtes Glas Wein einschenkte.

Zum Nachtisch gab es Früchte und verschiedene Käsesorten, und als wir später aufstanden, schwankte Maria ein wenig und musste sich für einen kurzen Moment an Zio festhalten. Sie kicherte, und der Zio tätschelte beschwichtigend ihre Schulter und sagte etwas, das wie eine kleine Ermahnung klang.

Ich half Zio und Maria, das Geschirr in die Küche zu tragen, und bestand darauf, wenigstens beim Abtrocknen helfen zu dürfen. Der Zio strahlte mich wieder an und fragte etwas. Maria grinste, als sie mir die Frage übersetzte.

«Er frage, ob du heirate Domenico?»

Ups, mussten die jetzt so direkt fragen?

«Na ja, wir haben darüber geredet …», sagte ich ausweichend, doch Maria lächelte und übersetzte es dem Zio. Er strahlte noch mehr, so dass seine Augen wieder von den unzähligen Lachfältchen eingerahmt wurden.

Nachdem wir mit dem Abwasch fertig waren, wollte Maria unbedingt mit uns in die Stadt zum Einkaufen fahren. Trotz meiner Anmerkung, dass ich ja kein Geld hatte, insistierte sie, dass ich mitkam. Der Zio entschuldigte sich und zog sich in sein Schlafzimmer zurück. Ich wunderte mich darüber, dass er um diese Uhrzeit anscheinend schon wieder ein Nickerchen machen wollte. Es war sechs Uhr.

Ich suchte Domenico, doch von ihm war keine Spur zu sehen. Nur Bianca kauerte neben der Kommode und schaute sich immer noch die Fotos an. Ich hätte sie gern nach Domenico gefragt, doch die Kleine würde mir ja bestimmt keine brauchbare Antwort geben. Also ließ ich es bleiben.

Maria war offensichtlich über Domenicos Abwesenheit nicht im Geringsten beunruhigt. Sie öffnete ihre Handtasche, die sie auf einem der Stühle vergessen hatte. Sie wühlte darin und fand offenbar nicht, was sie suchte.

«Unn' è ca misi i me' sigarette? C'è de mòrere …» Sie rollte mit den Augen und ging in die Küche, doch gleich darauf stieß sie wieder zu uns.

«Nicht gut, wenn Kleine immer stehle meine sigarette», stöhnte sie. «Ich ihm gebe jetzt zwei pacchetti, aber nicht genug. Ich muss schon wieder kaufe, Madonna santa! Aber jetzt wir fahre in città und kaufe schöne Sachen für meine Kleine und du, ja?»

«Aber es ist doch schon spät», warf ich ein. «Reicht das noch für einen Einkauf?»

«Sì, come no», antwortete sie. «Hier nicht wie Germania, lange offen.» Sie holte eine Visitenkarte aus ihrem Portemonnaie und zückte ihr Handy. Nach ein paar Minuten hatte sie uns ein Taxi bestellt.

Wir standen zu dritt vor dem Haus und warteten, und ich hätte zu gern gewusst, wohin Nicki sich nun schon wieder verkrochen hatte. Aber weder Bianca noch Maria wirkten beunruhigt, und ich wusste ja auch, dass es nun mal zu seinem Wesen gehörte, ab und zu einfach unterzutauchen. Doch ganz kriegte ich meine Sorge, dass er irgendwann doch noch abhauen würde, nicht weg.

Als das Taxi kam, war ich ziemlich erstaunt, dass es sich wieder um denselben Taxifahrer wie vorher handelte. Doch dieses Mal ließ Maria mich vorne beim Fahrer Platz nehmen, weil Bianca sich standhaft weigerte, neben mir zu sitzen. Na wunderbar. Zudem fragte ich mich immer noch, was ich ohne Geld auf dieser Shoppingtour sollte.

Wir fuhren wieder in das Städtchen Licata rein, doch wegen des Verkehrs kamen wir nur langsam vorwärts. Ich fühlte mich so fehl am Platz, dass ich es kaum erwarten konnte, endlich auszusteigen. Maria drückte dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld in die Hand und wechselte ein paar Worte mit ihm, während ich mich umschaute.

Licata war ein typisch sizilianisches Städtchen, ähnlich wie die anderen Ortschaften, die ich kennengelernt hatte. Die gewohnten engen Gässchen und die gelblichen, renovierungsbedürftigen Fassaden der Häuser gehörten auch hier zum Stadtbild.

«Viele, viele Jahre ich nicht gekommen in meine Stadt», erklärte Maria und sah sich ebenfalls um. «Hier geboren und in Schule gehen … vor viele Jahre.» Ihre Stimme klang leise und wehmütig. Sie wandte ihr Gesicht von mir ab und zündete sich eine Zigarette an. Ich fragte mich, was es für ein Gefühl sein musste, nach so vielen Jahren wieder nach Hause zu kommen – an den Ort, wo man seine Kindheit verbracht hatte … Und ich konnte nicht verhindern, dass auch in mir eine schmerzhafte Wehmut aufstieg, wenn ich an mein eigenes Zuhause dachte. An mein Zimmer, an Mama, an Paps …

Ich musste dringend irgendwo meinen Akku aufladen!

Wir fanden ein Einkaufszentrum, das anscheinend erst vor kurzem eröffnet hatte, denn Maria kannte es nicht. Wir gingen als Erstes in einen Klamottenladen, und Maria wies mich und Bianca an, uns auszusuchen, was wir wollten. Ich glaubte, nicht recht zu hören, doch Maria beruhigte mich.

«Keine Sorge. Ich genug Geld. Du kannst nehmen, was du willst», sagte sie.

Bianca ließ sich das nicht zweimal sagen und wühlte sich großzügig durch die Auslagen. Ich war wesentlich zurückhaltender. Maria wollte mir das wirklich alles bezahlen? Aber die Aussicht darauf, ein paar eigene Sachen zum Wechseln zu haben, war einfach zu verlockend. Schließlich suchte ich mir ein Paar Shorts, ein Paar Leggins, zwei T-Shirts und ein wenig Unterwäsche aus – so hatte ich wenigstens das Nötigste.

«No, scia', du kaufen mehr, mehr», forderte Maria mich auf. Sie suchte kurzerhand ein paar Sachen zusammen, von denen sie dachte, dass sie mir stehen würden, und ich musste zugeben, dass sie einen guten Geschmack hatte. Insgeheim stellte ich fest, dass es tatsächlich Spaß machte, mit ihr einzukaufen.

Am Schluss erstand sie für uns alle für fast fünfhundert Euro Klamotten. Auch für Domenico hatte sie ein paar Sachen gekauft, und ich bemerkte, dass sie seinen Stil durchaus kannte. Danach kaufte sie Bianca und mir noch jede Menge Kosmetikartikel, Lebensmittel und weitere Zigaretten für sich und Domenico. Zuletzt hatte sie fast achthundert Euro hingeblättert. Ich wunderte mich, wie locker sie mit dem Geld umging. Auch für den Rückweg rief sie uns wieder ein Taxi, und wieder war es derselbe Fahrer.

Als wir etwas später mit Tüten beladen die letzte Wegstrecke zu Zios Haus zu Fuß zurücklegten, rannten uns zwei Hunde entgegen und sprangen an uns hoch. Ich hoffte, dass Domenico inzwischen wieder aufgetaucht war, doch das Haus war ganz leer. Der Zio schlief entweder noch oder war weggegangen.

Bianca schmiss sich wie selbstverständlich vor den Fernseher, während Maria all die Tüten in eines der Schlafzimmer beförderte. Ich ging zuerst aufs Klo und gesellte mich dann zu Maria.

«Oh, eccoti. Da bist du ja», sagte sie. «Und Domenico, wo?»

«Keine Ahnung», sagte ich achselzuckend.

«Gib mir deine robbe … eh, Wäsche. Ich das waschen.» Sie deutete auf die verschwitzten Kleider, die ich anhatte.

«Gern, danke. Kann ich mir was von meinen neuen Sachen nehmen?»

«Ma sì.» Maria nahm eine der Tüten zur Hand und wühlte darin. Sie zog eines der hübschen Kleidchen hervor, die sie mir ausgesucht hatte.

«Da, mettiti questo, das anziehen. È sapuritu. Ich waschen deine robbe.»

Ich hatte eigentlich eher an etwas Praktisches gedacht, doch ich wollte Maria nicht beleidigen. Also nahm ich das Kleidchen und ging damit wieder auf die Toilette.

Als ich zurückkam, warf Maria einen prüfenden Blick auf mich. Offenbar war sie mit meiner Erscheinung noch nicht ganz zufrieden.

«Besser mit cintura. Gurtel», sagte sie.

An einen Gürtel hatte ich nicht gedacht, doch Maria warf mir kurzerhand einen ihrer eigenen zu. Tatsächlich sah das besser aus, das Kleid hing nun nicht mehr wie ein Sack an mir.

«Schön», sagte Maria mit prüfendem Blick auf mich. «Du hubsche Mädchen. Ich mache deine Haare, mache dich schön. Du gehe mit Domenico heute Abend aus, tanze oder Bar, ja?»

Ich glaubte nicht, dass daraus etwas werden würde, doch ich war ganz froh, mir die Zeit vertreiben zu können. Und ich sah gerne hübsch aus für Nicki … falls er denn endlich mal wieder auftauchen würde. Maria hatte schon ihre Styling-Sachen ausgepackt. Sie hatte sogar einen Lockenstab mitgenommen.

«Bianca ich auch immer mache schöne riccioli», meinte sie und suchte eine Steckdose.

Ich setzte mich aufs Bett, während Maria mir zuerst das Haar bürstete. Ich konnte uns dabei im Schrankspiegel zusehen und empfand auf einmal eine seltsame Vertrautheit mit Maria, die ich mir kaum erklären konnte. Es kam mir fast so vor, als würde ich sie schon immer kennen. Ich fühlte mich Domenico gegenüber beinahe ein wenig schuldig, dass ich so empfand, aber ich konnte es nicht ändern …

«Sciarria mit Domenico? Streit?», fragte Maria, während sie meine Haarsträhnen mit dem Stab zu Locken drehte.

Ich zuckte die Schultern. «Nun, ich weiß auch nicht. Er verschwindet manchmal einfach oder redet überhaupt nicht mehr mit mir.»

«Oh, capisco. Mit Domenico immer schwierig, weißt du. Sehr schwierig. Er … viele Schmerzen, du weißt … hier.» Sie presste ihre Hand auf ihre Brust. «Alles sehr schwer in seine Leben. Ich viele Fehler, ich weiß. Nicht gute mamma. Ohne Michele alles schlimmer … Domenico soffre, eh, leiden, weil Zwillinge immer zusammen und jetzt allein. Meine Ex-Mann auch schlage viel mit cintura, du weißt? Und mache Bianca weh. Sehr schlimm. Domenico dir gesagt?»

«Nein.» Ich schüttelte den Kopf. «Es braucht ziemlich viel, bis Domenico mir was erzählt.»

«So schlimm, Mädchen. Domenico immer weine viel. Große Schmerz. Ich probiere troste, aber impossibile. Michele weine nie, aber immer aggressivo, sai come? Lunatico era. Alcide schlage meine Junge viel. Sehr schlechte Mann, meine Ex-Mann. Nicht gut, große Fehler ich gehe mit ihm in Germania. Er mache kaputt meine kleine Bianca, mischina a figghia mia.»

Ich sah Maria an, schaute in ihre schönen Augen, die mit einem perfektem Lidstrich nachgezeichnet waren. Mit geschickten Fingern hantierte sie an meinen Haaren herum. Sie war offenbar geübt darin, Frisuren zu machen. Ich fragte mich, wofür sie überhaupt einen Lockenstab benötigte, da sie ja selbst ziemlich krauses Haar hatte. Vielleicht hatte sie ihn nur für Bianca mitgenommen.

«Domenico in Germania nicht glucklich, mi capisci? Domenico und Michele immer Probleme mit Deutsch, nicht gut in Schule. Probleme mit andere Kinder, mit Lehrer … sehr schwer. Lehrer helfen auch, gute Lehrer, schon, aber keine Chance. Domenico immer traurig in Germania, aber hier glucklich. Hier nicht weine, hier seine Land. Wenn Domenico klein und wir gehe weg von Sicilia, Domenico immer fragen: Gibt mare in Germania, gibt gelsi in Germania, gibt pesce spada in Germania? Aber das gibt nicht in Germania. So kleine Junge, er und Michele … Picciriddi erano. Er habe cartolina von Sicilia mitnehme und immer anschaue, jede Tag. Und immer er viel weinen, viel. Domenico weine und ich immer sage, alles gut, wenn ich habe Geld, wir gehen in Sicilia. Ich alles versteckt, weißt du, alle nostalgia von Sicilia. Zu viele Schmerz, Domenico muss alles vergessen, ich habe gedacht. Dann Domenico und Michele groß, so schnell … Ich weiß nicht mehr, aber so schnell groß und alles weg, weißt du.»

Ich sah im Spiegel, wie sie ihren Blick von mir abwandte und sich verlegen durch die Haare strich. Irgendetwas war da, irgendetwas machte ihr zu schaffen. Waren es Schuldgefühle, die sie plagten, weil sie ihre Kinder so oft im Stich gelassen hatte? Oder … dachte sie an die Sache bei der Geburt?

«Keine Sicilia mehr, er nicht mehr frage, er nichts mehr sage, er nicht mehr weine. Er und Michele immer weg, in discoteca, immer alcool, droghe, alles, weißt du. Canne, ecstasy, cocaina, eroina … gefährlich. Sempre fusi. Immer Polizei, deutsche Polizei. Eh … Sozialamte, Jugendamte. Arresto, prigione. Alles nicht gut. Und wir in diese kleine Wohnung, weißt du, o vidisti? Gar nicht gut. Aber keine Geld, sai com'è …»

Sie hob ein blaugraues T-Shirt hoch, das in einer Ecke gelegen hatte. Ich hatte es noch gar nicht bemerkt und war ganz überrascht, als sie es mir unter die Nase hielt. Es war Nickis T-Shirt! Aber wie kam das bloß hierhin? Und wann und warum hatte er es ausgezogen und einfach hier hingeschmissen? Maria krempelte es um und zeigte mir ein paar Blutspuren auf der Innenseite.

«Siehst du? Immer das. Immer mit Messer, alles kaputt hier, cicatrici … Haut kaputt.» Sie legte die Hand auf ihren Bauch. «Du sehen kaputte Haut? Das gemacht in meine Wohnung, alles Blut. Ich muss rufe ambulanza. Domenico dann viele Woche in clinica, sai?»

Ich nahm das T-Shirt und untersuchte es. Es war nicht viel Blut, aber es tat mir zutiefst weh, dass er es wieder getan hatte. Aber seltsam, dass er das T-Shirt einfach hier in dieses Schlafzimmer geschmissen hatte, wo es ja jeder finden konnte. Ob er gewollt hatte, dass seine Mutter es sah?

Maria redete schon weiter, und ich hatte mit einem Mal den Eindruck, als sehne sie sich richtig danach, jemandem ihr Herz auszuschütten.

«Wenn Domenico in clinica, Michele weg und ich nicht mehr finde. Ich rufe polizia, aber polizia nicht finde. Wenn Domenico zuruck von clinica, Michele komme zuruck auch. Alles immer schwierig, Mädchen, weißt du.»

In ihrer Miene zeigte sich die Erschöpfung all der vergangenen Jahre. Zweifelsohne hatte sie es auch nicht leicht gehabt mit Nicki und Mingo. Sie wandte ihr Gesicht wieder von mir ab, holte ihren Flachmann aus der Handtasche und trank einen hastigen Schluck. Dann schickte sie sich an, meinem Haar den letzten Schliff zu verpassen. Die Locken, die sie mir gedreht hatte, ringelten sich um mein Gesicht und verpassten mir einen richtig romantischen Look. Ach, wenn Nicki mich doch nun sehen könnte …

«Vedi, ich Probleme mit Trinke, Domenico Probleme mit das da.» Sie legte wieder die eine freie Hand auf ihren Bauch, um die Narben anzudeuten. «Und mit Sigaretta. Ich immer sage: smettila di fumare, Domenico, nicht gesund, aber er nicht höre mich. Schon wenn kleine Junge, nicht höre mich. Jetzt, polmoni rovinati … Lunge kaputt. So. Fertig!»

Ich schaute mich an. So eine schöne und professionelle Frisur hatte noch nicht einmal Nicki je an mir zustande gekriegt. Maria war ja schon fast eine Friseuse.

«Du sehr schone Mädchen», betonte sie noch einmal.

«Du findest mich schön?»

«Ma sì. Warum, du glaube nicht?»

Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte weder besonders schöne braune Haut noch besonders schönes Haar, noch war ich sonst irgendwie besonders … fand ich jedenfalls.

«Du und Domenico, ihr … una bella coppia, schones Paar», sagte sie. «Dann du heirate Domenico und bist meine nuora. Eh, meine Schweger … nuora!» Sie lachte ihr klingendes Lachen. «Das ist gut. Du bist gutes Mädchen, Domenico braucht gutes Mädchen. Du helfe Domenico, ja? Sei gut zu meine Junge, ja?»

«Ja … das versuche ich schon die ganze Zeit», seufzte ich.

«Magari ihr beide leben in Sicilia? Nicht jetzt … poi, später. Domenico arbeite in albergo, kann gute Arbeit finde mit tedesco, Deutsch. Schöne Land, meine Land, la bella Sicilia. Ihr lebe am Meer, viele Sonne, mare e spiaggia. Besser als Germania. In Germania alles kalt und grau. Leute auch kalt. Nicht gut.»

Auf Sizilien leben … na ja, so weit konnte ich nun wirklich noch nicht denken. Wir mussten erst mal die Verlobung zustande kriegen, Nicki und ich. Und dafür gab es noch einige Hürden zu überwinden …

Doch eine andere Frage stand nun viel mehr im Vordergrund, und eigentlich hatte ich sie gar nicht so direkt stellen wollen. Aber nun purzelte sie fast wie von selbst aus mir heraus, und vielleicht lag das daran, dass Maria mir in dem Moment wirklich schon fast wie eine vertraute Freundin vorkam.

«Sag mal … hast du mir nicht erzählt, dass die Geburt von Domenico und Mingo sehr schwer war? Ich meine … vielleicht ist das mit ein Grund, warum es immer so problematisch war mit den Zwillingen. Kannst du mir nicht sagen, was da genau passiert ist? Es würde mir sehr helfen, Domenico besser zu verstehen, weißt du.»

Ich fand, dass mir die Formulierung echt gut gelungen war, doch mir entging nicht, wie sich Marias Gesicht sofort versteinerte.

«Oh, du willst wisse … das, ja», sagte sie und drehte mir den Rücken zu, um scheinbar etwas in ihrem Koffer zu suchen. «Was willst du wisse genau?»

«Ähm … also, es gibt Gerüchte, dass du … die Kinder nicht haben wolltest. Dass du … sie bei der Geburt … ähm … weggeben wolltest.» Ich konnte ja das Ding nicht so offensichtlich beim Namen nennen.

«No, ma che dici!», sagte sie, immer noch ihrem Koffer zugewandt. «Ich weiß, du meine, diese Lehrerin sagen Wahrheit. Sie dir sage, ich schlechte Mutter, ich wolle Kinder wenn geboren … eh … strangolare. Nicht wahr, Mädchen, alles nicht wahr! Ich liebe meine Kinder.»

Natürlich. Wie sollte sie so was auch zugeben? Es würde vermutlich gar nicht möglich sein, je des Rätsels Lösung zu erfahren …

«Aber Domenico hat diese Alpträume», sagte ich vorsichtig. «Woher kommen die denn bloß? Weißt du das?»

«Ja, Geburt … schwierig, weißt du. Michele ganz blau …», sagte sie nur und schloss den Koffer wieder.

«Und Domenico?»

«Nix mit Domenico», sagte sie. «Du nicht alles glauben, was du hören, scemonita.»

Das war ihre sanfte Aufforderung, das Thema zu beenden. Ich hätte zu gerne noch erfahren, wer von den Zwillingen eigentlich der Erstgeborene gewesen war – auch so ein Rätsel, das bis zu diesem Tag immer noch nicht gelöst war. Aber ich traute mich nicht mehr, weitere Fragen zu stellen.

Im Wohnzimmer saß Bianca immer noch allein vor dem Fernseher. Maria fragte sie sofort nach Domenico, doch Bianca zuckte nur mit den Schultern.

«Madonna santa», stöhnte Maria und ging in die Küche, um etwas zu essen zu machen. Ich hingegen war mir nicht sicher, ob Bianca nicht doch mehr wusste, als sie zugeben wollte. Unschlüssig blieb ich stehen und starrte auf die Fotos auf der Kommode. Zu gern hätte ich die Bilder ausgiebig unter die Lupe genommen, aber ich wollte dafür unbedingt allein im Raum sein. Schließlich rang ich mich durch und fragte Bianca noch einmal nach Domenico, auch wenn ich mit einer niederschmetternden Antwort rechnen musste.

«Hat Domenico dir wirklich nicht gesagt, wo er hingegangen ist?»

Bianca drehte langsam ihren Kopf zu mir. In ihre Augen trat ein gefährliches Funkeln.

«Nein. Und daran bist nur du schuld! Du hättest besser auf ihn aufpassen müssen», blaffte sie mich an.

«Tja, wie soll ich auf ihn aufpassen, wenn du ihn dauernd für dich allein haben willst?», konterte ich.

«Pass auf, was du sagst!», drohte sie mir böse.

«Bianca, a finemu?», wies Maria ihre Tochter zurecht. «A corpa 'unn è a so! U sa chi to frate sinne fui quannu 'unn ce'a fa chiù!»

Was immer Maria auch sagte – ich interpretierte es so, dass sie durchaus Bescheid wusste, dass Domenico ständig abhaute, wenn er mit irgendwas nicht klarkam. Und langsam aber sicher fing ich wirklich an, mir ernsthaftere Sorgen zu machen …

Der Zio war nun auch wieder wach und gesellte sich zu Maria in die Küche. Bald schon saßen wir wieder um den Tisch und aßen eine Kleinigkeit – wobei diese «Kleinigkeit» aus einer reichhaltigen Auswahl der Reste von unserem verspäteten Mittagessen bestand. Ich hatte vorhin so viel verdrückt, dass ich eigentlich kaum mehr Hunger hatte. Trotzdem füllte ich mir aus lauter Höflichkeit den Teller. Es war fast elf Uhr abends, als wir fertig waren, und ich fühlte mich so pappsatt, dass ich fast Seitenstechen bekam. Die letzten Salsiccia-Reste verfütterte ich an die Hunde, nachdem ich gesehen hatte, dass auch der Zio, Maria und Bianca dies taten.

Nach dem Essen zeigte mir Maria, wo ich schlafen konnte. Es gab ein Zimmer mit einem Kajütenbett sowie das Schlafzimmer mit dem Doppelbett, auf dem ich vorhin mit Maria gesessen und das der Zio wohl früher mit seiner Frau geteilt hatte.

«Du und Domenico schlafe hier», sagte Maria und zeigte mir das Kajütenbettzimmer. «Zio Giacomo muss raus in Nacht, a mare, also ihr schlafe da.»

Zio musste ans Meer? Ah so, klar, er war ja von Beruf Fischer!

Ich sah mich um. Hier drin sollten wir übernachten? So, wie es aussah, benutzte Zio Giacomo das untere Bett zum Schlafen, denn das Laken war zerwühlt und das Kissen plattgedrückt.

«Ich hole frische lenzuola für Bett», beruhigte Maria mich. «Ich muss schlafe mit Bianca in große Bett. Meine Bianca habe Angst alleine in Zimmer, wenn Türe zu, du weißt. Mi capisci?»

«Ja, ich weiß», sagte ich.

«Keine Angst, alles gut», sagte sie. «Domenico kommt wieder, er immer so mache. 'Unn ti scantari, bald kommt.»

Hoffentlich, dachte ich.

Maria setzte sich etwas später mit dem Zio noch ein wenig hinaus in den Garten und trank ein weiteres Gläschen Wein mit ihm. Offenbar hatte für Zio Giacomo der Tag nun in dieser Stunde begonnen, in der andere zu Bett gingen. Tja, das erklärte auch die Fischerboote, die Nicki immer gezeichnet hatte …

Bianca blieb ebenfalls bei ihnen, und obwohl Zio Giacomo auch mich einlud, mich zu ihnen zu setzen, entschuldigte ich mich. Erstens verstand ich ja eh nicht viel von der Unterhaltung, und zweitens wollte ich allein sein, um all das verarbeiten und vor allen Dingen endlich die Fotos auf der Kommode studieren zu können.

Leider hatte ich nur schwaches Licht zur Verfügung, als ich mich vor die Kommode stellte und ein Bild nach dem anderen in die Hände nahm. Ich musste sie mir deswegen nahe vor die Augen halten, doch das, was ich darauf alles entdeckte, war fast mehr, als ich mir erhofft hatte.

Das erste Foto zeigte Maria als junges Mädchen, umgeben von zwei anderen jungen Frauen, die offensichtlich ihre Schwestern waren. Sie hatten allesamt ähnliche Gesichtszüge, aber Maria war mit Abstand die Hübscheste. Sie hatte als Einzige dieses spitze Kinn und diese wunderschönen geschwungenen Augenbrauen, die auch Nicki von ihr hatte.

Und dann blieb mir ein paar Sekunden lang der Atem weg, als ich den Tigerzahn um ihren Hals erblickte. Es war nicht irgendein Tigerzahn – es war der Tigerzahn!

Uff! Domenico trug also tatsächlich die Kette, die seine Mutter früher getragen hatte?! Mein Verdacht, dass ihn mehr mit seiner Mutter verband, als er zugeben wollte, erhärtete sich mehr als je zuvor. Ich hatte mich ab und zu gefragt, woher er diesen Tigerzahn eigentlich hatte, doch seltsamerweise hatte ich nie bis zu einer möglichen Antwort darüber nachgedacht. Ich fürchtete langsam aber sicher, dass ich nie ganz kapieren würde, was in seiner Seele alles abging.

Immer noch aufgewühlt von dieser kleinen Entdeckung, stellte ich das Bild wieder hin und nahm das nächste zur Hand. Es war ein Familienfoto von Zio Giacomo mit seiner Frau und zwei Jungs, und tatsächlich: Der Zio hatte früher einen schwarzen Schnauzer gehabt und den Bildern, die Domenico von ihm gemalt hatte, recht ähnlich gesehen. Es war einfach unglaublich, was für eine Treffsicherheit Nicki beim Zeichnen hatte. Seine inneren Bilder mussten erstaunlich präzise sein – und zu meiner großen Freude auch wahr.

Offenbar hatte der Zio doch eine Familie gehabt. Die Söhne waren inzwischen wohl erwachsen und von zu Hause ausgezogen. Aber wo war seine Frau?

Und dann schrie ich fast auf, als ich das nächste Bild entdeckte.

Zwei rothaarige kleine Jungs saßen nebeneinander auf einem Fischerboot und grinsten mit ihren Wangengrübchen in die Kamera. Hinter ihnen stand Maria und lächelte ebenfalls. Sie hatte ihr Haar mit einem bunten Kopftuch zurückgebunden, um es vor dem Wind zu schützen, der an diesem Tag offensichtlich ziemlich stark gewesen sein musste.

Auf dem nächsten Bild saßen die Zwillinge vor dem Haus, und Maria hatte ihre Arme um ihre beiden Jungs gelegt. Ich bekam richtig Gänsehaut, als ich das Foto in den Händen hielt, das mir Rätsel über Rätsel aufgab. Waren die Zwillinge am Ende doch nicht in Monreale, sondern hier in Licata aufgewachsen? Wie musste ich das alles einordnen?

Ich stellte alle Bilder wieder so hin, wie ich sie vorgefunden hatte. Wenn doch nur Domenico endlich wieder auftauchen würde! Ich fühlte eine richtige Sehnsucht nach ihm. Zu gern hätte ich mit ihm über all das geredet …

Aber er war nun mal nicht da, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten und mich schlafen zu legen – trotz meiner schönen Frisur, die Nicki nun wohl doch nicht zu Gesicht bekommen würde.

Maria hatte beide Betten frisch bezogen. Trotzdem wählte ich das obere Bett, weil es mir komisch vorkam, im selben Bett zu schlafen, das Zio Giacomo benützte. Ich zog das neue Nachthemd an, das Maria mir gekauft hatte, und genoss es, mir mit meiner neuen eigenen Zahnbürste die Zähne ausgiebig zu schrubben.

Doch ich konnte nicht gleich einschlafen. Die Sorge um Domenico drehte sich in meinem Kopf und wurde immer größer. Was mir am meisten zu schaffen machte, war, dass er mich immer noch ganz aus seiner Welt ausklammerte, wenn er überfordert war. Dass er es immer noch nicht schaffte, einfach mit mir über das zu reden, was ihn gerade beschäftigte. Dabei wollten wir uns doch bald verloben und zusammen nach Berlin ziehen … und ich hoffte so sehr, dass sich das dort echt bessern würde, wenn er nicht mehr mit seinem alten Umfeld und seiner Mutter konfrontiert war.

Als ich nach einer Stunde immer noch keinen Schlaf fand, hielt ich es nicht mehr aus und stand auf. Ich schlüpfte wieder in meine Klamotten und zog das neue Jäckchen an, das Maria mir ebenfalls gekauft hatte. Es hatte keinen Sinn, um den Schlaf zu ringen, wenn er nicht kommen wollte.

Als ich ein wenig durchs Haus wanderte, sah ich durch die Fenster, dass draußen vor der Haustür Licht brannte. Sachte trat ich in die Küche und öffnete die Tür.

Vor dem Haus lag ein Fischernetz am Boden, das vorher noch nicht dagewesen war. Ein ziemlich abgetakelter Wagen mit einem Anhänger stand daneben, und an dem Anhänger war eine Lampe befestigt und beleuchtete den Boden und das Netz. Offenbar bereitete sich Zio Giacomo auf seine Arbeit vor. Von ihm selbst war nichts zu sehen, aber ich nahm an, dass er bald auftauchen würde.

Ich ging unschlüssig um das Haus herum und ein paar Schritte den Hang hinunter. In der Dunkelheit hörte ich das Meer rauschen. Die Luft war herrlich frisch. Sie lud geradezu ein zu einem romantischen Nachtspaziergang …

Und dann erblickte ich auf einem Felsvorsprung die dunkle Silhouette einer Person, und als eine Zigarettenspitze in der Dunkelheit aufglühte, wusste ich, wer das war.