12. Zu Besuch bei Marias Famiglia

Am nächsten Morgen klopfte Maria an die Tür.

«Colazione!», rief sie.

Ich setzte mich auf und blickte auf die Uhr. Fünf vor neun.

Ich wollte die Leiter runterklettern, als mein Blick auf Domenicos kupferfarbenen Haarschopf fiel, der im unteren Bett unter der Decke hervorlugte. Nicki war offensichtlich irgendwann in der Nacht zurückgekommen.

Maria klopfte nochmals.

«Ma che ave? 'Unn ce'a fazzu chiù cu chista …», stöhnte Domenico und warf sich auf die andere Seite.

Maria gab jedoch nicht auf.

«E vatinne, lassame ire!», brüllte er und warf die Decke über seinen Kopf.

Es war nichts zu machen. Ich stand schließlich auf, um Maria zu erklären, dass Nicki vorerst nicht ansprechbar war.

«Wir fahre heute zu meine Famiglia», sagte sie. «Ich will Domenico mitkomme.»

Schließlich stand Domenico doch auf und verschwand im Bad. Maria schimpfte, weil Domenico ihr schon wieder die Zigaretten geklaut hatte.

Etwas später kam er heraus und hatte sich mit Zio Giacomos Rasierapparat frisch rasiert. Er warf mir einen verstohlenen Blick zu und wollte an mir vorbeigehen.

«Deine Mutter will mit uns zu ihrer Familie fahren», sagte ich vorsichtig, um eine Gelegenheit zu finden, mich ihm wieder zu nähern.

«Ich weiß», sagte er.

«Willst du das auch?»

«Ich weiß nicht. Ich hab sie noch nie im Leben gesehen …» Er schaute an mir vorbei und schien etwas zu suchen.

«Nicki … wegen gestern Nacht …»

Er zuckte mit den Schultern. «Vergiss es. Ich zwing dich ja zu nix.»

Grrrr. Jetzt ließ er wieder den Coolen raushängen. So machte er es immer, und ich hatte keine Chance dagegen.

Etwas später, als ich in Marias Schlafzimmer ging, um mir ihre Gesichtscreme zu leihen, saß Bianca auf dem Bett. Sie hatte gerade ihr T-Shirt ausgezogen. Mein Blick fiel ungewollt auf ihre Brandnarbe am Rücken.

Bianca drehte sich sofort um. «Glotz nicht so», blaffte sie mich an.

«Tut mir leid», sagte ich erschrocken. «Ich wollte mir nur Gesichtscreme holen.»

«Man klopft vorher vielleicht an», meinte sie.

Ich knurrte. Ich hätte dieses Mädchen am liebsten geschüttelt. Ich schnappte mir die Creme und wollte verschwinden, doch Bianca stellte sich mir in den Weg. Sie riss mir die Creme aus der Hand und trat mir auf den Fuß.

«Aua!»

«Nützt dir doch eh nichts, die Creme. Du bist sowieso hässlich!», höhnte sie. «Und peinlich und naiv dazu! Überhaupt keine Ahnung vom Leben!»

«Ja, vielen Dank auch», gab ich zurück. «Du hast keine Ahnung, was selbst ich schon alles erlebt habe!» Ich hätte am liebsten ergänzt, dass sie immerhin noch eine Mutter hatte und ich nicht wusste, wie lange meine noch leben würde.

Bianca funkelte mich böse an und versetzte mir noch einen Tritt ans Schienbein. Ich unterdrückte einen Aufschrei. Einen Augenblick später wurde sie von Domenico gepackt, der hinter uns ins Zimmer getreten war.

«Piuma, finiscila. Schluss jetzt!», befahl er und zog sie von mir weg. Bianca riss sich aus seinem Griff los und rauschte erhobenen Hauptes an ihm vorbei zur Tür hinaus.

Domenico kam zu mir und wollte mich berühren, zog dann aber seine Hände sofort wieder zurück. Mensch, so hatte ich es ja nun wirklich nicht gemeint …

«Mach dir nichts draus», sagte er leise. «Ich weiß, Piuma ist mühsam und zickig. Zu mir auch. Aber sie leidet unglaublich, weißt du.»

Na super. Mussten alle ihren Frust immer an mir auslassen? Jetzt war ich Isabelle los, und dafür durfte ich mich wieder mit Bianca rumschlagen. Voll der Hammer!

«Aber da kann ich doch auch nichts dafür.»

«Nein. Aber sie ist zu allen so. Niemand kann sie leiden. Das ist ja das Problem. Keine Pflegefamilie will sie haben. Im Heim macht sie die anderen Kinder fertig. Sie leidet unter Mingos Tod, weißt du. Er war der Einzige, der mit ihr klarkam. Seit er tot ist, ist irgendwas in ihr kaputt. Sie hat nie geweint, aber ich weiß, dass es so ist. Ich weiß auch nicht, wie er's gemacht hat. Ihn hat sie nie angeblafft. Sie waren so viel zusammen. Sie hat auch oft für ihn geklaut.»

Ja, stimmt, das vergaß ich oft … Bianca litt natürlich ebenfalls unter Mingos Tod, genau wie Domenico. Nur redete sie noch weniger darüber als ihr großer Bruder. Ich dachte an das Mitleid, das ich für sie empfunden hatte …

«Zu mir ist sie auch zickig, aber mir macht es nix aus», sagte er. «Ich kenn sie halt.»

«Tut mir leid, ich habe echt Mühe mit ihr», gestand ich. «Es … fällt mir schwer, sie zu mögen.»

«Verlange ich ja auch nicht von dir», sagte er und verließ den Raum wieder.

Maria kam mit verheultem Gesicht aus der Küche. Offenbar hatte sie ein langes Gespräch mit dem Zio gehabt. Zio Giacomo folgte ihr, sein Gesicht sah nachdenklich, aber nicht hoffnungslos aus.

Er nickte Domenico zu und klopfte ihm auf die Schulter.

«Amunì, acchianate», sagte er.

Domenico drehte sich zu mir und bat mich mit stummem Blick, mit ihm ins Auto zu steigen.

Maria verschwand im Schlafzimmer und kam etwas später mit einem anderen T-Shirt wieder heraus, das nicht so viel Einblick gewährte. Sie trug auch nur wenig Schmuck. In ihrem Gesicht waren Angst und Nervosität zu erkennen.

Wir quetschten uns schließlich zu fünft in das kleine Auto von Zio Giacomo.

Unterwegs hielten wir noch schnell vor einem kleinen Laden. Maria wollte offenbar Gastgeschenke mitbringen. Sie kaufte eine Unmenge ein. Vor allen Dingen brachte sie auch Nicki noch ein paar Sachen mit, die er dringend brauchte, und mich wunderte, dass er sie tatsächlich annahm.

Etwas später fuhren wir in eines der kleinen Gässchen Licatas hinein und hielten vor einem einfachen Haus. Der Boden war hier übersät mit Abfall. Offenbar schmissen die Leute einfach alles auf die Straße. Eine ältere, rundliche Frau stand auf der oberen Terrasse und hängte Wäsche auf. Zio Giacomo rief ihr etwas zu und winkte ihr.

Marias Blick wirkte ziemlich versteinert. Sie klammerte sich an ihrer Handtasche fest und stellte sich hinter Zio Giacomo. Fast wirkte sie wie ein kleines Mädchen, das Schelte erwarten musste. Der Zio machte ihr Mut und tätschelte ihr beruhigend die Schulter. Bianca drückte sich an ihre Mutter, und Nicki blieb in meiner Nähe.

«Madonna santa! Talé cu c'è!» Die Frau auf dem Balkon ließ vor Schreck ein Paar Unterhosen fallen, und sie landeten direkt vor unseren Füßen. Sie rannte ins Innere der Wohnung, rief irgendwas und kam dann aus dem Haus gestürmt.

Ich hatte sofort erkannt, dass es Marias Mutter – und somit Domenicos Großmutter – sein musste. Sie hatte dieselben Augen und hohen Wangenknochen wie Maria, und auch wenn sie nun ziemlich dick war, musste sie einst eine schöne Frau gewesen sein. Ihr Haar war genauso lockig wie das von Maria, aber es zeigten sich viele graue Strähnen darin. Nur die Nase war im Gegensatz zu der schmalen, feinen Nase von Maria grob und klumpig. Ich schätzte sie auf um die sechzig.

«Ciao Ma'», sagte Maria ziemlich zurückhaltend. Ich fragte mich echt, wie lange Maria ihre Eltern wohl nicht mehr gesehen hatte. War es möglich, dass dies schon neunzehn Jahre her war? Oder sogar noch länger?

Gemessen an der ziemlich hysterischen Reaktion ihrer Mutter musste es auf jeden Fall ziemlich lange her sein. Sie überschüttete ihre Tochter mit einem Schwall sizilianischer Worte, die wie eine Mischung aus Wiedersehensfreude und Vorwürfen klangen. Zio Giacomo warf ein paar beschwichtigende Worte ein. Domenicos Großmutter musste eine ziemliche Furie sein.

Ich schaute Nicki aus den Augenwinkeln an. Sein Blick war ohne jede Regung auf seine Großmutter gerichtet, und er sah nicht aus, als hätte er besonders Lust, sie näher kennenzulernen.

Als die Frau nicht mehr aufhörte zu zetern, trat Zio Giacomo dazwischen und versuchte sie zu besänftigen. Er winkte uns herbei. Domenico wollte erst nicht, doch Zio Giacomo blieb beharrlich. Er packte Domenico an den Schultern und stellte ihn vor sich.

«Talé, Graziella, chistu è Domenico, to nipute.»

Die Frau hörte auf zu lamentieren und schaute Domenico überrascht an.

«Me nipute?»

«Sì, e chista è so' soru, Bianca.» Jetzt fasste Zio Giacomo auch Bianca am Arm und schob sie vor sich. Bianca kaute an ihren Nägeln. Ganz wohl schien ihr auch nicht zu sein.

Die Großmutter, deren Name offensichtlich Graziella war, beäugte beide. Dann drehte sie sich um und rief etwas ins Haus hinein.

«Giovà, Luì, viniti cà, prestu!»

Irgendjemand gab von drinnen Antwort. Graziella wiederholte ihren Ruf etwa dreimal, bis endlich eine Tür klapperte und noch zwei Frauen herausgestürmt kamen.

Ich erkannte Marias Schwestern auf Anhieb von den Fotos her, auch wenn sie nun ein paar Jahre älter waren. Die Ähnlichkeiten mit Maria waren nicht zu übersehen. Auch sie hatten diese typischen hohen Wangenknochen und fast ebenso viel Oberweite wie Maria. Allerdings waren beide etwas größer als sie. Die eine der beiden, die ich als die älteste der drei Schwestern einstufte, war, wie ihre Mutter Graziella, ebenfalls schon ziemlich dick, und ihr krauses Haar zeigte am Ansatz bereits graue Strähnen. Im Gegensatz zu Maria hatte sie dieselbe Knollennase wie Graziella. Auch sah sie eher robust aus und trug weder Schmuck, noch war sie geschminkt.

Die andere Schwester war auch ein wenig füllig, hatte aber dieselbe schmale Nase wie Maria, was ihr ein weitaus hübscheres Aussehen verlieh gegenüber ihrer älteren Schwester. Und sie war auch die Einzige der vier Frauen, die glattes Haar hatte. Sie schien auch mehr auf ihr Äußeres zu achten als ihre ältere Schwester, hatte ihre Wangen sanft mit Rouge bearbeitet und trug große goldene Ohrringe und eine goldene Halskette. Sie war mir um einiges sympathischer als die andere Schwester, was wohl daran lag, dass sie nicht so hysterisch keifte. Allerdings war Maria mit Abstand die Hübscheste, weil sie dieses schön geformte, spitze Kinn hatte, das sie glücklicherweise auch Nicki vererbt hatte. Und ich war froh, dass Domenico nicht dieselbe Knollennase wie seine Großmutter hatte!

Die Nettere der beiden Schwestern ging auch gar nicht auf Graziellas Gezeter ein, sondern trat sofort auf Maria zu und umarmte sie. Dasselbe machte sie auch mit Domenico und Bianca.

Mittlerweile waren mehrere Kinder aus dem Haus gerannt gekommen, insgesamt zwei Jungs und drei Mädchen. Sie blieben vor uns stehen und beäugten uns neugierig.

Als sich die Woge der Aufregung endlich etwas geglättet hatte, wurden wir ins Haus hineingebeten. Ich hätte so gerne mehr von den Gesprächen verstanden, und ich nahm mir vor, später Domenico zu fragen. Ich ließ ihn nicht aus den Augen und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass er ganz gelassen wirkte. Er machte auch keine Anstalten, wegzulaufen. Irgendwie schon fast seltsam. Vor seinem Vater in Norwegen hatte er viel mehr Angst und Respekt gehabt …

Offenbar lebte die ganze Familie zusammen im selben Haus, in zwei verschiedenen Wohnungen. Die Nettere von Marias Schwestern (ich hatte noch nicht herausgefunden, wie sie in Wahrheit hießen) verschwand kurz in der unteren Wohnung, auf deren Türschild der Name Giardina stand. Sie holte eine Tüte und folgte uns danach in den oberen Stock, der mit Cavallaro angeschrieben war.

Die Frauen zogen sich sofort in die Küche zurück, und es sah ganz danach aus, als würden sie etwas zu essen fabrizieren. Sie waren immer noch ganz aus dem Häuschen und redeten wild durcheinander. Marias Gesicht war hochrot vor Aufregung. Sie wischte ihre Stirn mit einem Taschentuch ab. Die Nettere der beiden Schwestern unterhielt sich mit ihr, während die andere Schwester der Mutter in der Küche half und die Kinder in keifendem Tonfall herumscheuchte.

Domenico zog sich in eine ruhige Ecke zurück und setzte sich auf einen Stuhl, wo er scheinbar unbeteiligt die ganze Szene in Augenschein nahm. Bianca blieb bei ihrer Mutter, und Maria wiederum suchte immer noch Schutz in Zio Giacomos Nähe. Ich gesellte mich zu Domenico.

«Was geht da eigentlich genau ab?», fragte ich und nickte Richtung Küche, wo Graziella und die etwas dickliche Schwester Marias heftig debattierten.

«Sie diskutieren darüber, wie alt ich bin», sagte er genervt. «Und dass meine Mutter uns schon mit siebzehn gekriegt hat.»

«Sag mal, wie heißen deine Tanten eigentlich?» Ich wollte immer die Namen der Leute wissen. Gleichzeitig fiel mir auf, wie merkwürdig es sich für mich anhörte, dass das hier tatsächlich Domenicos Tanten waren.

«Die mit den Locken heißt Giovanna, und die andere Luisa», sagte er scheinbar unberührt. Er erhob sich und ging mit einer Zigarette auf den Balkon hinaus. Meine Gegenwart war offenbar mal wieder nicht erwünscht …

Unterdessen ging der Zio in die Küche und versuchte wieder einmal mehr, Graziella zu beruhigen. Die Kids hatten sich inzwischen alle um Bianca geschart, und Bianca schien das richtig zu genießen. Die Mädchen waren ebenfalls Abbilder ihrer Mütter: Zwei von ihnen hatten krauses Haar, und die dritte hatte glattes Haar. Die krausen Mädchen waren etwas pummelig, die mit dem glatten Haar hingegen zarter und feiner. Die Jungs waren nach demselben Muster gestrickt: Einer war kraus und pummelig, und der andere glatthaarig und schlank. Ich stellte gerade fest, dass es sich hier ja um Domenicos Cousins und Cousinen handeln musste, und überlegte, wie alt sie wohl waren. Die beiden Jungs schätzte ich ungefähr auf zehn Jahre oder so. Die Mädchen waren in verschiedenen Altersstufen. Die Größte konnte durchaus fünfzehn, sechzehn sein. Die Kleinste von ihnen, das war die mit dem glatten Haar, musste ungefähr in Biancas Alter sein.

Bald wurde uns ein üppiges Essen serviert. Der Tisch war fast zu klein für alle, und wir mussten eng zusammenrücken. Luisa – ja, jetzt wusste ich endlich, wie die nettere der beiden Schwestern hieß! – hatte aus der unteren Wohnung ein paar Zusatzstühle geholt, damit wir alle Platz hatten.

Domenico und ich verdrückten uns ganz ans Ende des Tisches.

Es gab eine Ofenspezialität aus Auberginen, Mortadella, Tomatensauce und viel Parmesan. Domenico erklärte mir, dass das Parmigiana hieß. Giovanna klatschte jedem von uns eine riesige Portion auf den Teller. Ich hatte zwar einen Bärenhunger, doch das war nun wirklich etwas übertrieben gut gemeint …

Während des Essens beobachtete ich Domenicos Verwandte. Es ging zu wie in einem Hühnerstall. Konnten die nicht in einer normalen Tonlage sprechen? Ich fand, dass Luisa und Giovanna sich ziemlich anzofften.

«Worüber streiten die denn?», fragte ich Domenico.

«Die streiten ja gar nicht», meinte er.

«Doch, klar. Die schreien sich ja richtig an.»

«Ist doch normal» sagte er. «Die reden immer so.»

«Du bist doch hier das erste Mal in deinem Leben, oder?», fragte ich argwöhnisch. «Du warst noch nie vorher da?»

Er zuckte mit den Schultern. Mich wunderte langsam gar nichts mehr …

Bianca saß bei den anderen Mädchen und schien sich offenbar mit ihren Cousinen bestens zu verstehen. Luisa hatte vorsichtig ein Gespräch mit Maria angefangen, während Giovanna und Graziella sich weder um Domenico noch um Maria scherten.

Ich war fertig mit dem Essen und lehnte mich zurück. Doch wenn ich geglaubt hatte, das sei jetzt das Ende der Gaumenfreuden, hatte ich mich geirrt. Schon wieder kam Giovanna mit einem vollen Topf und klatschte mir Fleisch mit Gemüse auf den Teller. Ich wollte protestieren, doch Giovanna duldete offenbar keine Widerrede. Auch Domenico kriegte seinen Teller gefüllt.

«Wollen die uns mästen?», flüsterte ich.

«Iss einfach, was du magst», sagte Domenico. «Ich schaff auch nicht mehr viel …»

Doch da hatte ich nicht mit Giovanna gerechnet. Sie keifte ziemlich rum, als sie unsere nur halb geleerten Teller vom Tisch nahm. Gleich darauf scheuchte sie die Kinder aus dem Raum.

«Die hat ja Haare auf den Zähnen», sagte ich.

«Das kannst du laut sagen», murmelte er.

Nach dem Essen wusste ich auch endlich sämtliche Namen und das Alter der Kids: Die beiden Jungs hießen Enrico und Giuseppe und waren tatsächlich zehn und elf Jahre alt, die beiden kraushaarigen Mädchen Teresa und Adriana waren fünfzehn und dreizehn, und Loredana, das kleine zarte Mädchen, war neun. Ich hatte also nicht schlecht geschätzt. Auch mit den Haaren hatte ich richtig getippt: Loredana und Enrico waren die Kinder von Luisa, und die anderen drei gehörten zu Giovanna.

Während Giovanna und Graziella wieder in der Küche werkelten und Bianca von den anderen Kids rausgezogen wurde, kam Luisa zu uns herüber und setzte sich neben Domenico. Der Zio hatte sich mit Maria, die immer noch ganz verheulte Augen hatte, zu einem Gespräch zurückgezogen und schien sie zu trösten. Offenbar hatten Graziella und Giovanna ihr so ziemlich alles vorgehalten, was sie in den letzten Jahren falsch gemacht hatte.

Luisa legte Domenico vorsichtig die Hand auf die Schulter und stellte ihm ein paar Fragen. Sie schien die Einzige zu sein, die sich für ihn interessierte.

Domenico antwortete ihr sehr zurückhaltend, und ich bekam mit, dass es um Mingo ging. Anscheinend wusste Luisa darüber Bescheid, dass noch ein Zwillingsbruder existiert hatte.

Als wir uns etwas später zur Siesta aufs Sofa verkrochen, während die anderen in ihren Zimmern verschwanden, fragte ich Domenico, ob Luisa tatsächlich wusste, dass es Mingo gegeben hatte.

Er antwortete mir nur mit einem kargen «Ja» und kuschelte dann seinen Kopf auf ein Kissen.

«Warum nimmst du nicht meine Schulter?», fragte ich.

«Ich dachte, du magst es nicht mehr», sagte er abweisend.

«Doch, klar», antwortete ich. «Es wäre einfach nur leichter für mich, wenn wir endlich mal über deine früheren Mädchenbeziehungen reden würden.»

«Ich weiß echt nicht, was das zur Sache tut», knurrte er. «Ich hab dir tausendmal verklickert, dass es vorbei ist. Warum musst du da ständig drauf rumreiten?»

Nein, man konnte einfach nicht mit ihm darüber reden. Ich war eine Frau und wünschte mir eine geklärte Situation für unsere Beziehung. Er war ein Mann und hielt von solchen Gesprächen offenbar nichts. Es war absolut hoffnungslos. Ich seufzte innerlich und schloss die Augen. Eine Weile dösten wir vor uns hin.

«Deine Großmutter und Giovanna haben noch gar nicht mit dir geredet», stellte ich etwas später fest, als wir wieder wach waren.

«Klar. Für sie bin ich nur u figghiu di buttana. Der Hurensohn.» Ganz vorsichtig legte er nun doch seinen Kopf auf meine Schulter.

«Giovanna finde ich total unsympathisch», bemerkte ich.

«Ja, ein richtiger Hausdrachen», sagte er trocken.

«Aber Luisa scheint dich zu mögen», sagte ich.

Er antwortete nichts. Ich streckte meine Hand aus und berührte sein Haar. Warum hatte ich das Gefühl, dass er wieder so weit von mir wegdriftete? Dachte er überhaupt noch an unsere bevorstehende Verlobung? Kein einziges Wort war mehr darüber gefallen …

«Könntest du dir vorstellen, hier zu leben?», fragte er auf einmal leise.

«Hier?»

«Na ja … nicht direkt hier. Auf Sizilien, mein ich.»

«Wieso fragst du das?»

«Es wäre die einzige Möglichkeit, Bianca zu retten.»

«Erklär mir das bitte genauer», bat ich.

Er verdrehte die Augen. «Meine Mutter will, dass wir alle hierherziehen, weißt du. Ich könnte für die beiden sorgen, für sie und für Bianca. Meine Mutter müsste dann nicht mehr … na, du weißt schon … und Piuma könnte bei uns aufwachsen. Das Jugendamt würde sie dann möglicherweise freigeben. Und ich könnte Manuel vielleicht sogar hierher mitnehmen.»

Das gefiel mir nun aber ganz und gar nicht.

«Ich dachte, du willst gar nichts mehr mit deiner Mutter zu tun haben?»

Er antwortete mir nicht, sondern starrte das Bild an der Wand gegenüber an.

«Ja, und wie stellst du dir das denn vor?», fragte ich weiter. «Sollen wir alle hier leben? Wo soll ich dann studieren?»

Er schloss die Augen. «Weiß ich doch auch nicht. War nur 'ne Idee. Ich mein, ich könnte ja arbeiten und für dich sorgen, dann müsstest du nicht mal studieren …»

«Sag mal, hast du einen Knall?», fuhr ich ihn an.

«Wieso?» Er kramte eine Zigarette aus der Hosentasche und drehte sie zwischen seinen Fingern.

«Wenn du glaubst, ich möchte so eine dicke Hausmamma wie Giovanna werden, hast du dich geirrt», stöhnte ich.

Da lachte er auf einmal lauthals los. Ich fand das gar nicht lustig.

«So war das doch nicht gemeint, duci mia!», grinste er.

«Wie denn?», fragte ich, doch er kam nicht mehr zum Antworten. Mittlerweile waren die Männer heimgekommen, und Zio Giacomo winkte Domenico heran.

Domenicos Großvater erkannte ich sofort an der ebenmäßigen, schmalen Nase. Seine Gesichtszüge zeugten von Strenge, und ich konnte mir irgendwie gut vorstellen, dass er seine Töchter geschlagen hatte. Immerhin hatte er Domenico seine schöne Nase vererbt.

Zio Giacomo unterhielt sich mit ihm und wollte anscheinend, dass Domenico dazustieß. Maria war nicht zu sehen. Vermutlich hatte sie vor ihrem Vater die Flucht ergriffen. Bianca war mit den Mädchen beschäftigt. Teresa war gerade dabei, ihr das Haar zu stylen. Giovanna gluckte ständig um die Mädchen rum. Bianca schien zum ersten Mal richtig zufrieden zu sein.

Ich hingegen fühlte mich ziemlich verloren unter all den vielen Leuten. Zwei weitere Männer befanden sich noch im Raum, und ich nahm an, dass es die Ehemänner von Luisa und Giovanna waren. Ich kam mir fast vor wie in einem Bienenstock. Luisa und Graziella standen schon wieder in der Küche. Kein Wunder, dass die Frauen so dick waren, wenn sie sich den ganzen Tag mit Essen beschäftigen mussten – aber nun, ich korrigierte meine kritischen Gedanken schnell damit, dass sie dafür sehr gastfreundlich waren und umsichtig für uns alle sorgten …

Und dann war Domenico auf einmal mittendrin in der Familie, nachdem Zio Giacomo ihn seinem Großvater Giuseppe vorgestellt hatte. Alle standen mit einem Mal um Nicki herum und stellten ihm Fragen. Der Bann schien gebrochen zu sein. Wie und warum das geschehen war, konnte ich nicht ganz nachvollziehen. Vielleicht lag es daran, dass der Großvater Domenico anscheinend trotz allem akzeptierte. Und Nicki schien sich gar nicht mal so fremd zu fühlen. Er lächelte sogar ein bisschen und wechselte ein paar wenige Worte mit seinem Großvater.

Etwas später saßen wir schon wieder um den Esstisch, und während der Mahlzeit wurde Bianca von Graziella und Giovanna nach Strich und Faden verwöhnt und ständig Mischina genannt, was so viel wie arme Kleine bedeutet.

Und ich, ich stand auf einmal total im Abseits. Jedenfalls fühlte ich mich so. Ich war die Einzige, die die Sprache nicht verstand, und kaum einer redete mit mir. Nur Zio Giacomo versuchte mich ab und zu ins Gespräch einzubeziehen, aber das war natürlich ziemlich schwierig. Domenico unterhielt sich mit den Ehemännern von Giovanna und Luisa und kümmerte sich kaum um mich, und auch Maria war mit sich selber beschäftigt. Ganz offenbar war sie sehr aufgewühlt durch die Begegnung mit ihrer Familie. Damit fielen meine beiden Dolmetscher also weg.

Als überhaupt keiner mehr auf mich achtete, stand ich auf und trat hinaus auf den Balkon. Ich kam mir wirklich total überflüssig vor. Es war mittlerweile dunkel draußen. Die schwer havarierte Straßenlaterne in der Gasse gab ein grünliches Licht ab. Der ganze Boden war voller Abfall. Ein Hund bellte irgendwo in der Nähe.

Das mit Nicki und mir funktionierte anscheinend doch nicht, stellte ich traurig fest.

Doch dann trat er auf einmal neben mich und berührte vorsichtig meinen Arm.

«Hier bist du also», stellte er leise fest. «Ich hab dich gesucht.»

«Echt? Ich dachte, ich sei hier langsam fehl am Platz», murmelte ich bedröselt.

«Wieso denkst du das?», fragte er sanft.

«Weil du mich überhaupt nicht mehr beachtest. Und weil ich spüre, dass du viel lieber hier leben möchtest.»

Er zuckte mit den Schultern. «Dafür ist es eh zu spät. Wir hätten damals vor zwei Jahren gar nicht von hier weggehen sollen, Mingo und ich …»

Ui, das tat weh …

«Ich dachte, du wolltest mich wiedersehen …» Langsam aber sicher krochen die Tränen in mir hoch.

«Wollte ich ja auch …»

«Aber du bereust es jetzt, stimmt's?»

Er schüttelte den Kopf und streichelte gedankenverloren meine Hand. «Ich hab eher Angst, dass du es bereust, dass ich zurückgekehrt bin …»

«Wie kommst du denn darauf?» Wieso war denn alles so furchtbar verwickelt?

«Weil du … so anders bist … nicht mehr so wie früher.»

«Wie anders?»

Er richtete seinen Blick auf die grüne Straßenlampe, während er sich eine Zigarette ansteckte.

«Schwer zu beschreiben», sagte er.

Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte.

«Ich liebe dich», flüsterte er wehmütig. «Das weißt du. Ich hab dir gesagt, dass ich dir nicht immer das geben kann, was du brauchst, aber ich versuch dir alles zu geben, was ich habe. Ich weiß, dass ich schwierig bin, okay? Tut mir ja leid. Ich versuch ja dauernd, mich zu ändern, aber es ist halt nicht immer leicht.» Er zog sachte an seiner Kippe und versuchte, den Rauch nicht zu tief zu inhalieren.

«Ich …» Ich suchte nach den richtigen Worten, um ihm ein weiteres Mal zu erklären, was mich am meisten beschäftigte, doch da wechselte er abrupt das Thema. Offenbar wollte er nicht mehr weiter darauf eingehen.

«War jedenfalls interessant, meine Familie zu treffen», meinte er stattdessen.

«Du scheinst gar nicht schockiert zu sein», stellte ich fest, froh, dass ich nicht länger nach den richtigen Worten suchen musste. Es hatte ja eh keinen Zweck …

«Ich weiß auch nicht. Ich glaub … irgendwie hab ich es doch gewusst … Ich hab ja gewusst, dass sie existieren.»

«Deine Familie ist aber gar nicht so übel», stellte ich fest. Er schaute mich ziemlich verwundert an.

«Ich meine … eigentlich sind sie ziemlich normal. Ich hab auch schwierige Tanten.»

«Echt? Denkst du, meine Familie ist normal?» Er schien diesen Gedanken kaum fassen zu können.

«Ja, auf jeden Fall. Genau genommen ist sie sogar unkomplizierter als meine Familie. Bis auf Giovanna …»

«Ja, Giovanna ist schrecklich», grinste er. «Und die Nonna auch.»

«Meine Großmutter – also die Mutter meines Vaters – war auch fürchterlich», erzählte ich. «Jetzt lebt sie im Altersheim. Sie war streng und hat ganz ekelhaft gekocht.»

Er lachte. «Was man von meiner Familie ja nicht behaupten kann …»

«Na ja … genau genommen hast du nun mehr Familie, als ich es habe», sagte ich wehmütig.

«Deine Großeltern sind alle tot, was?», fragte er nachdenklich. «Bis auf diese Großmutter, die so eklig kocht …»

«Ja, meine Eltern haben mich eben spät gekriegt, und sie waren beide wiederum die Jüngsten zu Hause. Und die Geschwister meiner Mutter reden ja nicht mehr mit ihr, wegen der Geschichte mit Tommy. Ich hab nur Kontakt mit Tante Lena und Tante Ruth, das sind die Schwestern meines Vaters.»

«Krass», meinte er und legte liebevoll den Arm um meine Schultern.

«Es ist so: Du hast die größere und komplettere Familie als ich. Und jetzt hast du sogar zwei Familien: eine in Norwegen und eine hier auf Sizilien.»

«Stimmt …», meinte er, selber über die Erkenntnis verblüfft. Nach einer Weile fügte er hinzu: «Wir wären wohl nie so abgestürzt, Mingo und ich, wenn wir hier in Sizilien hätten bleiben können …»

«Dann hätten wir uns aber auch nie kennengelernt», warf ich ein.

«Nein …»

Diese Einsicht tat mir weh, und ich spürte, dass es ihm ähnlich ging. Unsere Herzen waren immer noch fest miteinander verwoben, und es gab vermutlich nichts, was diese Verbundenheit zerstören konnte …

Wirklich nichts? Ich wusste nicht, warum diese Frage auf einmal wieder in meinem Kopf auftauchte. Dennoch war ich irgendwie froh zu erkennen, dass Domenico in seiner Kindheit auf Sizilien doch auch viel heile Welt erlebt hatte. Dass nicht alles nur zerrüttet gewesen war.

Er sah mich an und lächelte ein wenig. Vorsichtig drückte er die Zigarette auf dem Balkongeländer aus und wischte die Asche mit der Hand auf die Straße.

«Das Beste an allem ist echt Zio Giacomo», sagte er, und ich hörte seiner Stimme an, dass er tatsächlich so etwas wie Glück empfand. «Der ist so total in Ordnung!»

Ich konnte ihm nur beipflichten.

«Er nennt dich immer wieder Mimmo. Das finde ich echt süß», meinte ich.

Er verdrehte die Augen und wirkte dabei fast wie ein kleiner Junge, dem man gerade gesagt hatte, dass er wieder ein Stück gewachsen sei. «Das ist hier in Italien ja eigentlich der Kosename für Domenico», klärte er mich auf. «Aber komm mir ja nicht auf die Idee, mich so zu nennen!»

Ich lachte. «Keine Angst. Für mich bleibst du doch Nicki.»

«Weißt du was, wir fahren morgen wieder nach Catania und dann nach Monreale zurück», entschied er schließlich. «Ich muss sowieso das Motorrad holen und es Salvatore zurückbringen. Und ich will endlich von meiner Mutter weg. Und dann haben wir auch endlich unsere Sachen wieder, Geld und Ausweis und Medikamente und so.»

Ich nickte. Mir war es ganz recht. Nicht, weil es nicht schön war bei Zio Giacomo. Aber dann hatte ich Domenico endlich wieder für mich …

«Wir können Zio Giacomo ein anderes Mal besuchen», sagte er. «Nur du und ich, ja?»

«Sehr gern», antwortete ich.