Am nächsten Morgen in aller Frühe, als Zio Giacomo noch immer auf dem Meer war und Maria und Bianca noch schliefen, suchte Domenico im Kühlschrank nach etwas Essbarem und machte uns heimlich ein kleines Picknick als Wegzehrung. Ich fand es nicht gut, einfach abzureisen, ohne uns von Zio Giacomo zu verabschieden, doch Nicki meinte: «Es geht leider nicht anders. Sonst macht meine Alte Terror, wenn sie spitzkriegt, dass wir abhauen. Ist unsere einzige Chance.»
Ich fragte mich schon die ganze Zeit, womit wir überhaupt die Busfahrt bezahlen sollten, aber Sorgen machte ich mir deswegen keine mehr. Nicki würde schon was einfallen. Allerdings wusste ich nicht, wie wir all die Sachen einpacken sollten, die Maria uns gekauft hatte, doch Domenico schlug vor, sie einfach mal dazulassen. Also nahmen wir nur das Nötigste mit.
«Wir kehren ja ein anderes Mal wieder zu ihm zurück, bedda mi'», meinte er.
Spätestens jetzt wurde mir klar, dass Domenico anscheinend von seiner Mutter eine Menge Geld zugesteckt bekommen hatte. Wie und wann das passiert war, wusste ich nicht, aber offenbar hatte er es widerstandslos angenommen.
Wir gingen erst mal zu Fuß nach Licata zum Busbahnhof zurück, was eine gute Dreiviertelstunde dauerte. Wir hatten großes Glück, da gerade eine halbe Stunde später ein Bus nach Catania fuhr. Ich genoss es, während der Fahrt meinen Kopf an Domenicos Schulter zu legen und ein bisschen zu dösen. Nicht, weil ich so müde war, sondern weil ich Nicki endlich mal wieder für mich allein hatte. Und er hielt mich die ganze Zeit fest.
Bereits um halb eins waren wir in Catania. Mir war schon die ganze Zeit ziemlich mulmig zumute, weil wir ja nicht darum herumkamen, bei Angel vorbeizugehen und nach dem Motorrad zu fragen. Ich hatte Nicki darüber aufgeklärt, aber aus irgendeinem Grund war er schon längst im Bilde.
Im «Da Vincenzo» war einiges los. Wir mussten erst ziemlich lange warten, bis Angel überhaupt Zeit hatte. Ich war ganz froh, dass sie so beschäftigt war, denn so würde die Sache hoffentlich nicht sehr lange dauern.
Angel hatte wieder ganz rote Flecken auf den Wangen, als sie auf Domenico zustürmte und ihn umarmte. Ich glaubte wieder dieses Knistern zwischen ihnen zu spüren, und sofort zog sich alles in mir zusammen. Und als er sie anlächelte, tauchten die Grübchen in seinen Wangen wieder auf, die doch nur mir gehörten!
Leider hatte Angel keine gute Nachricht für uns, und sie und Nicki diskutierten ziemlich lange über die Sache. Angel hatte ihm offenbar einiges zu erklären. Vielleicht wollte sie aber auch einfach nur so viel Zeit wie möglich mit ihm herausschinden.
«Das Motorrad ist kaputt», klärte Domenico mich später auf. «Ich muss das erst mal reparieren lassen, bevor wir nach Monreale zurückgehen können. Wir können so 'ne lange Strecke nicht mehr fahren. Nicht mit dem kaputten Teil.»
Ich hatte doch geahnt, dass etwas mit dem Vehikel nicht stimmte … so verdächtig, wie das geknattert hatte.
«Und wo lassen wir das reparieren?», fragte ich.
«Ich bring's zu Nonno. Der ist ganz gut in solchen Sachen.»
Angel lächelte und zuckte bedauernd die Schultern. Na, ob sie es wirklich bedauerte? …
Etwas später setzten wir uns auf das lädierte Vehikel, und Domenico startete vorsichtig den Motor, der furchterregend aufheulte.
Zum Glück konnten wir die kurze Strecke zu Nonno noch ohne Schaden hinter uns bringen. Er wohnte jedenfalls nicht weit vom Zentrum in einer Wohngemeinschaft mit einem anderen Typen. Und wir hatten Glück: Es war Siesta-Zeit, und er war zu Hause. Ziemlich verschlafen öffnete er uns die Tür.
«Ecché, ma che combinaste?», grinste er, nachdem Domenico ihm das ganze Dilemma erklärt hatte. Er bat uns rein und brachte das lädierte Motorrad in den Hinterhof.
«Er meint, er kann es uns reparieren, aber erst heute Abend», sagte Nicki. «Das heißt, wir können erst morgen weiterfahren nach Monreale.»
Ich wollte gerade ansetzen und sagen, dass wir ja sowieso noch ein paar Sachen in unserer Bruchbude holen mussten, als Nonno plötzlich ein Gedankenblitz zu kommen schien, den er Domenico voller Begeisterung mitteilte.
Domenico wandte sich wieder an mich: «Nonno lädt uns ein, bei ihm zu pennen heute Nacht. Er organisiert dann gleich noch 'ne kleine Party. Magst du?»
Ganz froh, nicht wieder in diesem Loch übernachten zu müssen, nickte ich. Auf Party hatte ich allerdings weniger Lust. Das hieß, dass ich wieder den ganzen Abend mit mir allein verbringen musste, weil ich ja sowieso nicht mitreden konnte.
Doch Nonno war bereits Feuer und Flamme von dieser Idee und hatte auch Nicki damit angesteckt. Ich tröstete mich damit, dass ich ihn dann in Monreale hoffentlich wieder ganz für mich haben würde. Und dass die zweite Ferienhälfte romantischer und ruhiger verlaufen würde.
«Lass uns die Sachen aus der Bude holen», schlug Domenico vor. «Nonno leiht uns sein Motorrad.»
Gesagt – getan. Wir hatten nicht mehr viel zu regeln in dem verfallenen Haus. Doch als ich zum Andenken ein paar Fotos schießen wollte, verbot Nicki es mir. Manchmal hätte ich ihm echt an die Gurgel springen können. Warum immer so kompliziert?
Etwas später bei Nonno richteten wir es uns einigermaßen gemütlich ein. Nonno schleppte eine Matte heran, auf der ich schlafen konnte, und Nicki würde auf dem Sofa pennen.
Bald kam auch Nonnos Mitbewohner nach Hause, und ich staunte nicht schlecht, als ich ihn wiedererkannte. Es handelte sich um niemand anderen als Chicco, den ich als richtigen Bilderbuch-Italiener mit Haar-Gel und Armani-Sonnenbrille in Erinnerung hatte. Und genauso sah er auch immer noch aus. Nonno brachte uns allen Bier, und wir setzten uns auf den Balkon, damit die Jungs rauchen konnten. Ich fürchtete schon, mich für die nächsten Stunden wieder langweilen zu müssen, doch Nicki legte den Arm um mich und zog mich nahe an sich heran, damit ich mich nicht so allein fühlte.
Etwas später trafen auch all die anderen ein, die Nonno eingeladen hatte. Eine Menge Wein und Bier und Snacks wurden aufgetischt. Das ganze Wohnzimmer war auf einmal voller Leute, Mädchen und Jungs – und dann sah ich auch sie. Angel.
Die hatte mir echt noch gefehlt! Musste die immer überall dabei sein?
Einige setzten sich aufs Sofa, andere hingen draußen auf dem Balkon rum. Aber egal, wo Nicki und ich uns aufhielten – Angel stand immer in seiner Nähe. Vor allen Dingen musste ich langsam aufpassen, dass Nicki nicht zu viel Wein trank. Ich wusste ja, dass er Gefahr lief, die Kontrolle zu verlieren, wenn er mal einen gewissen Pegel überschritten hatte. Aber das war gar nicht so einfach, solange Angel dauernd in seiner Nähe stand und ihm immer wieder die Flasche reichte. Sie bot sie auch mir an, doch ich lehnte dankend ab. Ich wollte unbedingt nüchtern bleiben. Ich vertrug ja nicht viel, und ich wollte nicht wieder dasselbe Desaster erleben wie damals in Sandros Bar, als mein Kopf zu schwer geworden war, um noch auf Nicki aufzupassen.
«Nicki, es reicht jetzt», flüsterte ich, nachdem er und Angel schon fast die ganze Flasche leergetrunken hatten.
«Easy, Süße», sagte er. «Hab keine Angst. Das ist doch gar nichts. Ich hör nachher gleich auf.» Er trank den letzten Rest und stellte die Flasche auf den Tisch.
«Ja, das sagst du immer. Und dann hast du's doch nicht im Griff. Außerdem hast du mir ja auch gesagt, dass ich knallhart sein und auf dich aufpassen soll.»
«Ja, aber das ist das letzte Mal für lange Zeit, dass ich meine Freunde hier sehe», entgegnete er. «Hey. Mach dir doch jetzt mal keinen Kopf.»
«Okay, vielleicht denkst du auch mal daran, dass es für mich ziemlich langweilig ist, weil ich nämlich nicht so viel Sizilianisch verstehe.»
«Ja, ich weiß.» Sein Blick traf sich mit dem von Angel, dann legte er den Arm um mich und zog mich hinaus auf den Balkon.
«Tut mir ja leid», meinte er, als wir eine kleine Nische für uns allein fanden. «Aber ich konnte Nonno die Idee nicht abschlagen. Nur noch diesen Abend, ja? Den Rest der Ferien verbringen wir zwei ganz allein, versprochen.»
«Wirklich? Auch bei Salvatore nicht dauernd Partys?»
«Nee, echt nicht. Ich muss nicht mehr ständig Partys haben. Das ist doch vorbei … hey!» Er küsste mich sanft auf die Lippen. «Ich bin doch auch lieber mit dir allein, ehrlich.»
«Okay … Du, Nicki, ich will dich echt nicht nerven, aber ich wäre froh, wenn du jetzt nichts mehr trinken würdest.»
«Geht klar», meinte er leise. «Hast ja Recht …» Er schlang seine Arme um meine Hüften, presste sie fest an die seinen und wiegte mich ein bisschen. Ich spürte, dass er aus irgendeinem Grund traurig war, aber ich wusste nicht, warum … Ich fühlte nur, dass es etwas mit mir zu tun hatte.
Ich war erleichtert, als ich sah, dass Angel gerade mit einem anderen Jungen redete, als wir nach einer Weile wieder reingingen. Allerdings entging mir der Seitenblick nicht, den sie auf Domenico warf.
Etwas später brachte Nonno eine Riesenschüssel mit Bowle in die Runde. Angel machte sich sofort an die Arbeit und begann, ein paar Gläser zu füllen. Dann trat sie zu uns und drückte Nicki und mir mit einem sanften Lächeln je eins in die Hand.
Ich schnupperte daran. «Da ist doch Alkohol drin?»
«Nicht viel», meinte Nicki.
«Nicki …»
«Maya … glaub mir. Da ist kaum was drin. Das sind vor allem Früchte.»
Ich probierte vorsichtig davon. Dass nicht gerade wenig Alkohol drin war, konnte ich deutlich riechen und schmecken. Als Nicki das Glas ziemlich schnell leer hatte, bat ich ihn deshalb, kein neues mehr zu holen. Ich musste schon die ganze Zeit auf die Toilette, doch ich traute mich nicht, ihn allein zu lassen. Doch dann ließ meine volle Blase mir keine andere Wahl mehr. Weil vor mir bereits zwei Mädchen warteten, musste ich etwas länger anstehen. Herrje, woher kamen bloß auf einmal die vielen Leute? Es schien, als hätte Nonno halb Catania eingeladen!
Es dauerte zehn Minuten, bis ich endlich fertig war und mich wieder zu Domenico gesellen konnte. Ich fand ihn in der Küche, und er stellte gerade ein leeres Glas auf den Tisch. Und natürlich stand Angel neben ihm! Diese Hexe hatte die Gelegenheit natürlich zielsicher genutzt. Ich traute ihren unschuldig dreinblickenden Augen immer weniger!
Ich ging sofort zu ihm und hängte mich in seinen Arm. Ich hasste es, die eifersüchtige, besitzergreifende Zicke spielen zu müssen, aber Angel begriff offenbar einfach nicht, dass Nicki nun zu mir gehörte.
«Was hast du jetzt wieder getrunken?», fragte ich ihn leise.
«Nur 'ne Cola», sagte er, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es nicht die Wahrheit war. In dem Glas waren eindeutig Reste einer roten Flüssigkeit zu sehen.
«Sag mir bitte, was du getrunken hast», flüsterte ich eindringlich.
«Principessa, jetzt hör endlich auf», stöhnte er. «Nerv nicht dauernd rum. Ich weiß schon, wann ich genug hab.»
«Nein, das weißt du eben nicht», knirschte ich. «Und gerade vorhin hast du mir versprochen, nichts mehr zu trinken! Sonst bist du nämlich keinen Deut besser als deine Mutter!»
«Mann, die Bowle hat doch kaum Alk drin!», sagte er, doch ich hörte, dass seine Zunge beim Sprechen ein wenig anstieß. Er schlang seinen Arm um mich und schob seine Hand unter mein T-Shirt. Ich merkte, dass er nicht mehr ganz so fit war, wie er tat. Dass er sich sogar leicht an mir abstützte.
Ich wurde richtig wütend! Ich hatte einfach null Chance. Ich konnte nichts machen, um Tiger-X vor sich selbst zu schützen. Das einzig Richtige war, gar nicht erst mit ihm auf Partys zu gehen. Seine Hand streichelte meinen Bauch. Ich schob sie unsanft zurück. Unter diesen Umständen konnte ich seine Berührungen nicht genießen. Das erinnerte mich zu sehr an Janets Geschichte … Und er musste das doch auch wissen, verflixt noch mal.
«Was geht denn ab, ey?», sagte er beleidigt. «Kann man dir denn gar nix mehr recht machen?»
«Du weißt genau, was los ist», gab ich zurück.
«Ey, erst beklagst du dich, dass du dich allein fühlst, und dann ist es dir nicht recht, wenn ich dich streichle. Was soll ich denn dann noch machen?» Er riss Angel die Zigarettenschachtel aus der Hand, zündete sich eine Lucky Strike an und scherte sich nicht mehr darum, dass er den ganzen Raum mit dem Qualm einnebelte.
Da platzte mir endgültig der Kragen. Ich löste mich ganz von ihm und stampfte davon. Ich konnte ja doch nichts machen, um ihn vom Trinken abzuhalten. Ich verzog mich auf den Balkon, wo zwar auch eine Menge Leute rumhingen, aber wo keiner auf mich achtete. Ich stellte mich ans Geländer und starrte hinunter auf die Straßen.
Ach, wenn Nicki doch nur endlich mit mir über diese furchtbare Geschichte aus seiner Vergangenheit reden würde! Dann würde nicht so viel Verwirrung entstehen, und ich könnte seine zärtlichen Berührungen wieder genießen. Und er müsste sich nicht über meine Reaktionen wundern … Aber so stand ständig dieses hässliche Ding zwischen uns, und es fing langsam aber sicher an, unsere Beziehung anzugreifen.
Ich drehte mich wieder um. Insgeheim hatte ich gehofft, Nicki würde mir folgen und mich suchen, doch er hatte es nicht getan. Ich seufzte. Bestimmt hatte er noch mehr Bowle getrunken. Wahrscheinlich sogar aus lauter blödem Trotz, weil Tiger-X eben immer noch in ihm schlummerte und sich nicht gern rumkommandieren ließ. Schon gar nicht von einer Frau!
Ich ging zurück in die Küche, doch dort war er nicht. Chicco nickte mir grinsend zu und hob sein Glas. Ich fragte nach Domenico, doch Chicco zuckte nur mit den Schultern. Angel war auch nicht mehr hier. Ich nahm an, dass sie beide im Wohnzimmer sein würden, doch auch dort fand ich sie nicht. Langsam wurde es seltsam. Die letzte Möglichkeit war, dass Nicki auf der Toilette war. Tatsächlich war sie besetzt, und ich wartete davor. Doch der, der nach ein paar Minuten aus der Tür trat, war auch nicht Nicki.
Wo war er denn bloß? Er war doch nicht etwa weggegangen? Ob er im Hinterhof war und nach dem Motorrad sah?
Allerdings war es mir unheimlich, dass auch Angel wie vom Erdboden verschluckt war. Ein ziemlich übles Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Ich stand im Flur und überlegte unschlüssig, was ich machen sollte, als mir auf einmal die Schlafzimmertür ins Auge stach. Sie war nur angelehnt, und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass dort jemand drin war …
Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, die Tür zu öffnen. Ich wusste nicht, warum ich mich das überhaupt traute. Vielleicht war es dieser untrügliche Instinkt in mir, der mich dazu verleitete. Ich stieß also die Tür sachte auf – und glaubte im nächsten Moment meinen Augen nicht zu trauen.
An der Wand stand Angel, mit zurückgeworfenem Kopf und oben frei gemacht, und davor Domenico, der sie festhielt und leidenschaftlich ihre Haut küsste – nicht nur am Hals, sondern auch weiter unten … und das so wild und ungestüm, wie er mich nie geküsst hatte. Angel stöhnte lustvoll auf, während Domenico sie noch fester packte und seine Hand langsam in ihre Hose gleiten ließ …
Ein paar Sekunden lang rührte ich mich nicht. Das Ganze war wie ein Film, der vor mir ablief. Einen kurzen Moment wurde mein Gefühlsausbruch noch von einem kleinen Zweifel in Schach gehalten – dem Zweifel, ob dieser Film wirklich real war und ob das wirklich Nicki war … und ob ich vielleicht nicht doch gleich aus einem bösen Traum erwachen würde …
Doch der Film war real, denn es waren Nickis kupferrote Haare und es war sein unverkennbares Tattoo am Oberarm. Und es waren die mir so bekannten Lederbändchen um seine Handgelenke …
Und gleich darauf blitzte der Ring an Angels Daumen auf – der Ring, den ich noch immer in Erinnerung hatte und den auch Domenico damals getragen hatte. Der Ring, der offensichtlich das Symbol ihrer Freundschaft gewesen war …
Und wenn ich in dem Moment etwas begriff, dann war es das: dass es sich hier nicht um einen Traum handelte … sondern um ein ganz böses Erwachen!
Angel drehte ihren Kopf in meine Richtung, und ihr Blick begegnete dem meinen. Triumph machte sich in diesem sonst so unschuldigen Engelsgesicht breit, und sie klammerte sich noch fester an Domenico.
Und nur den Bruchteil einer Sekunde später schrie ich auf …
Domenico drehte den Kopf zu mir, und seine Augen wurden starr vor Entsetzen. Ich sagte irgendwas, an das ich mich nicht mehr erinnern kann, und er stieß Angel so brutal von sich weg, dass sie gegen eine Kommode knallte und schmerzerfüllt aufkreischte.
«Warte, Principessa …» Er wollte nach mir greifen, doch er griff ins Leere, weil ich schon entwischt war.
Sein Anblick war so kläglich und demütigend, dass nackte Wut in mir hochstieg. Hinter ihm stahl sich Angel aus dem Zimmer. Sie blickte mich hasserfüllt an und knöpfte sich im Gehen die Bluse wieder zu. Das gab mir den Rest.
Domenico musste sich an der Wand abstützen. Ich sah beim Zurückschauen, dass er weit davon entfernt war, nüchtern zu sein. Ich bekam noch mit, wie er über seine eigenen Füße stolperte, bevor ich die Flucht ergriff und ins Wohnzimmer stürmte.
Lauter Menschen umgaben mich, und der Lärm, den sie veranstalteten, dröhnte in meinen Ohren. Ich tapste orientierungslos herum, suchte irgendwo einen Halt, ein freies Plätzchen, wo ich mich verkriechen und mich ausheulen konnte. Denn nun war alles vorbei, das wusste ich. Mein ganzes Leben war in diesem einen Augenblick in den Keller gestürzt. Alles, wofür ich geglaubt und gelebt hatte, war in diesem einen Moment komplett zerstört worden.
Ich war aufs Gemeinste betrogen worden, eiskalt hintergangen, hatte vergeblich geliebt und gelebt. Ich hatte mich auf dem rechten Weg gewähnt, hatte geglaubt, das Richtige zu tun, ja, war überzeugt gewesen, dass Nicki ein Teil meines Lebens war. Alles, was ich mir mit so viel mühevoller Arbeit, behutsam und doch eisern, erkämpft hatte, war in diesem einen Moment total in sich zusammengestürzt, und ich fand mich nur noch in einem tiefen, schwarzen, verlassenen Loch wieder.
Ich war eindeutig im falschen Film gelandet. In dem Film, vor dem sie mich alle gewarnt hatten – Paps und Frau Galiani und all die andern.
Es gab also tatsächlich etwas, das diese tiefe Verbundenheit hatte zerstören können.
«Maya … bedda mi' …» Ich sah Domenico wieder. Er kam mit unsicheren Schritten auf mich zugewankt, stützte sich mal hier ab und mal da, ehe er die Hand nach mir ausstreckte, um sich an mir festzuklammern.
«Lass mich los!!!», schrie ich.
«Warte doch … ey, ich kann's dir erklären! Maya, komm zu mir …» Er wollte mich an seinen Körper ziehen, doch ich machte mich mit aller Kraft los, was dank seinem betrunkenen Zustand nicht so schwierig war wie sonst.
«Dafür gibt's keine Erklärung», würgte ich hervor.
Und dann begann ich plötzlich alles rauszulassen: «Das ist es also, was du willst? Sex mit der erstbesten Tussi? Na schön. Aber weißt du eigentlich, wie ich mich fühle, ich, die süße, kleine, unschuldige Maya? Wie die letzte Kuh! Wie oft möchte ich dir nahe sein, aber du magst dann nicht reden und ziehst dich ständig zurück und hast deine Macken und Depressionen. Aber mit irgendwelchen Dahergelaufenen geht's dann plötzlich! Ich habe es so satt, wie du mich behandelst. Ich bin genauso eine Frau wie alle anderen auch, aber du bist ja nicht Manns genug, dich mal klar und endgültig zu mir zu stellen, ohne gleich jedem Rockzipfel nachzuschauen! Ich weiß, du bist es gewohnt, dass dir die Frauen nachlaufen wie läufige Hündinnen und du nur mit dem Finger zu schnippen brauchst. Aber wenn du's mal richtig bringen sollst, mit einer wie mir, die nicht besoffen ist, dann stammelst du ‹Non posso› und heulst fast los. Glaubst du, mir macht es Spaß, unter diesen Umständen auf dich zu warten?! Deine Zähne, deine Narben, deine Suchtprobleme, dein ganzer Alkohol ... deine ganze kaputte Art kotzt mich nur noch an.»
Ich sah sofort, wie die Tränen aus seinen Augen rannen, als ich das sagte. Ja, ich hatte ihm mit diesen Worten einen Dolch ins Herz gebohrt, ich hatte genau die Waffe benutzt, mit der ich ihn am meisten verletzten konnte. Aber er hatte mich auch verletzt, und wie!
«Und für so was hebe ich mich auf?! Ich fühle mich wie der letzte Dreck wegen dir und deinem dämlichen Mutterkomplex, und du hast nichts Besseres zu tun, als mich zu betrügen?», schrie ich ihn weiter an. «Glaubst du, ich könnte keine anderen Freunde haben, anständige, gesunde Freunde, die gut drauf sind und die nicht eine Million Probleme haben und es sicher nicht nötig haben, sich bei irgendwelchen billigen Flittchen Bestätigung zu holen, sondern etwas mit mir anzufangen wüssten? Ach, geh mir vom Leib! …»
Ich wandte mich ab und flüchtete wieder zurück in den Flur. Ich war selber erstaunt, was ich da alles von mir gegeben hatte, und ich wusste, dass ich ihn damit zutiefst getroffen hatte. Aber es war mir in dem Moment egal. Alles, wonach ich mich sehnte, war nur noch, meinen eigenen Schmerz ganz laut herauszuschreien.
Ich sah mich um, und als letzte Rettung ergriff ich die Türklinke der Wohnungstür. Ich wollte weg, nur weg! Ich musste meine Ruhe haben, musste nachdenken, beten, einfach allein sein. Mein Herz hämmerte so stark, dass meine Hand es um ein Haar nicht geschafft hätte, die Klinke runterzudrücken.
Nicht mehr als eine halbe Minute später stand ich auf der Straße. Ich schaute nach links und nach rechts, unschlüssig, wohin ich gehen sollte. Endlich entschied ich mich für die kleine Gasse auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dort konnte ich mich immerhin gut verstecken.
Ich kauerte mich in der verborgenen Nische einer Mauer nieder und legte den Kopf auf meine Knie.
Dort heulte ich erst mal den ganzen Schmerz heraus. Ich wusste nicht, ob mir außer der Nachricht von Mamas Krankheit jemals etwas so dermaßen wehgetan hatte.
Wie oft musste meine Seele noch diesen Schmerz erleiden? Wie oft wurde sie noch gefoltert? Warum brach immer wieder alles zusammen, was ich so sorgfältig mit Nicki aufzubauen versuchte? Warum überhaupt hatte ich so an ihn geglaubt, obwohl mich viele gewarnt hatten? Alles schien wieder einmal vergeblich gewesen zu sein, sogar Pfarrer Siebolds Worte, die er zu Nicki gesprochen hatte. Mein Herz, das mich immer wieder in diese Richtung gelenkt hatte, hatte mich aufs Übelste irregeleitet. Die innere Stimme, die so leise zu mir gesprochen und mich immer wieder ermutigt hatte, ihn nicht aufzugeben, war ein reiner Trugschluss gewesen. Alles nur Einbildung, Lüge, Selbstbetrug.
Und all diejenigen, die mich gewarnt hatten, hatten mal wieder Recht gehabt – gerade Frau Galiani. Ja, sie, die mich vor kurzem mit dieser ewig gleichen Ermahnung so genervt hatte – sie hatte leider wieder mal mitten ins Schwarze getroffen.
Domenico war nicht fähig, auf längere Dauer eine Beziehung zu führen. Er war instabil, zerstört in seinem Inneren – da war ein Loch in seinem Herzen, das selbst seine guten Absichten immer wieder verschlang.
Alles, was ich mir für die Zukunft erhofft hatte, verschwand nun wieder hinter einer dunklen Wolke, wurde unwirklich und schemenhaft. Eine lange Zeit des Leides würde mir nun bevorstehen, und niemand würde mir nun in der Trauer um meine Mutter noch beistehen. Der einzige Mensch, der mir in dieser Zeit Halt gegeben hatte, betrog mich nun auf das Hinterhältigste. Ich wusste nicht, wie ich jemals mit dieser inneren Wunde fertigwerden sollte, ob ich je wieder lachen und die Sonne sehen konnte.
Tja, dass das Märchen bei der Laterne eben doch nicht nur ein schönes Märchen gewesen war, hatte ich ja schon lange erkannt … Aber dass es so enden würde, hätte ich mir nun doch nicht ausgemalt. Er hatte den Bund, den wir damals geschlossen hatten, endgültig zerbrochen …
Als ich mich leergeweint hatte, stand ich mit zittrigen Knien wieder auf. Mich fröstelte richtig. Am liebsten wäre ich weit weggelaufen, aber wo sollte ich denn hingehen? Ich war ja total von Nicki abhängig. Ich hatte nur wenige Cent in der Tasche – und er hatte all das Geld, das er von seiner Mutter bekommen hatte. So viel Klarheit hatte ich trotz meines verzweifelten Zustandes.
Ich wankte zurück zur Straße und zu dem Haus, wo Nonno wohnte, und klingelte an der Haustür. Eine Weile blieb ich noch unten stehen und hegte tatsächlich den Gedanken, ob ich einfach im Hausflur übernachten sollte, um Domenico nicht mehr begegnen zu müssen.
Aber dann verwarf ich den Gedanken. Ich war hier auf Sizilien nun mal auf ihn angewiesen.
Müde schlich ich in die Wohnung. Sie war nun viel leerer als vorhin. Eine Menge Leute waren schon gegangen. Ich hatte überhaupt keine Peilung, wie lange ich in dieser Gasse gekauert hatte. Als ich ins Wohnzimmer trat, prallte ich sofort mit Domenico zusammen.
«Ey, da find ich dich», stieß er verzweifelt hervor und packte mich. Ich sah sofort, dass er geheult hatte. Seine Augen waren knallrot und nass vor Tränen.
«Wo warst du? Ey, bin fast durchgedreht! Mach das nie wieder, Maya, echt! Geh nicht von mir weg, ey!»
«Dann überleg dir bitte, was du tust», entgegnete ich eisig. «Bevor du dich betrinkst und mit Angel rummachst.»
Ich wollte ihn von mir wegstoßen, doch dieses Mal war sein Griff stärker.
«Ey, ich wollte nicht … sie hat mich verführt … Minghia, no! Maya, per favore, credimi … ich wollte nicht …»
«Ja, danke. Das kannst du deiner Großmutter erzählen! Jetzt hast du ja eine.» Ich wunderte mich selber über meine gefasste Stimme. Meine Brust bebte, als ich in seine blaugrauen Augen sah. Was war er nur für ein Mensch? War das wirklich der Nicki, den ich liebte? Der mir so vertraut war?
Ich drehte mich wieder von ihm weg, wollte ihn nicht mehr sehen.
«Du kannst mich mal, Domenico. Echt. Das ist das Ende. Du bist … du bist … einfach voll krank im Kopf! Anders kann ich das nicht nennen! Du bist keinen Deut besser als deine Mutter … du beklagst dich über ihr Alkoholproblem und verbockst selber alles, nur weil du zu besoffen warst, um überhaupt zu begreifen, was du getan hast!»
Ein Schluchzer bahnte sich wieder den Weg aus meinem Herzen, und ich konnte mich endlich von ihm losreißen. Ich musste irgendwie an sein Geld kommen. Ich musste weg hier. Ich musste irgendwie allein einen Weg nach Monreale finden. Denn ich ertrug es nicht länger, bei ihm zu sein.
«Süße, nun bleib doch da!», rief er mir hinterher, als ich mich von ihm entfernte. «Ich brauch dich! Ich liebe dich! Du bist die Frau meines Lebens! Non andare via, 'unn iritinne! Ich will dich doch heiraten!»
Ich flüchtete aufs Sofa, das gerade frei geworden war. Ein Pärchen war soeben aufgestanden und dabei, sich zu verabschieden. Von Angel war nichts mehr zu sehen. Die anderen scherten sich zum Glück nicht um mich.
«Ey!» Domenico war mir gefolgt und ließ sich neben mir nieder. Er packte mich erneut und wollte mich an seinen Körper pressen.
«Maya …»
«Lass mich los!», stieß ich keuchend hervor, doch schon lag ich an seiner Brust. Seine Brust, die mir so oft Geborgenheit und Trost gespendet hatte. Die mir immer noch vertraut war … und die für mich ein Ort der Zuflucht gewesen war.
«Cori mia, es tut mir so wahnsinnig leid», schluchzte er verzweifelt, und die Tränen flossen in Strömen aus seinen Augen. «Ich wollte das wirklich nicht. Ti amo tanto. Fazzu tutto chiddu ca vo', Maya! Du bist mein Ein und Alles. Bitte glaub mir doch! Bleib bei mir. Ohne dich kann ich doch gar nicht leben. Bitte. Ich hab nie so 'n Mädchen wie dich gehabt. Ich werde dich nie wieder zerbrechen. Ich schwör's.»
Er heulte nun wirklich herzzerreißend, und sein Weinen klang in meinen Ohren wie Wellen, die mich umspülten. Ich spürte richtig, wie ihm beim Weinen alles in seiner Brust wehtat, und ich fing selber an zu heulen.
«Du hast … das Versprechen bei der Laterne gebrochen, Nicki …», brach es aus mir hervor. «Ich … ich kann nicht …»
«Wenn du gehst … dann will ich nicht mehr leben …», drang es schluchzend aus ihm, und wir saßen ineinander verkeilt da und weinten beide. Er hielt sich an mir fest, während ihn die Heulattacken fast krampfartig überkamen. Ich hatte ihn nie so verzweifelt gesehen, und es brach mir fast das Herz, trotz dem, was er getan hatte …
Aber es war zu Ende. Mein Vater würde ausrasten. Er würde Nicki nach Strich und Faden die Leviten lesen und ihm für immer Hausverbot geben, das wusste ich.
Wir bekamen überhaupt nicht mit, wie die Partygäste nach und nach das Wohnzimmer verließen. Vielleicht auch wegen uns? … Irgendwann waren wir ganz allein, umgeben von Essensresten, leeren Flaschen, Gläsern, zerknüllten Papptellern und Servietten. Die Wohnung war dunkel und leer, und ebenso fühlten wir beide uns nach all dem Weinen. Hinzu kam eine bleierne Müdigkeit, die uns so schläfrig machte, dass wir irgendwann mitten in all dem Schmerz einfach eindösten.
Als ich viel später die Augen aufmachte, lagen wir beide ineinander verschlungen auf dem Sofa, und irgendjemand hatte eine Decke über uns ausgebreitet. Ich war zu müde, um mir einen anderen Platz zum Schlafen zu suchen, also kroch ich fest in Nickis Arme und schlief einfach weiter. Ich war so fertig, dass mir im Moment alles egal war.
Als ich das nächste Mal erwachte, wurde es draußen hell. Zuerst wusste ich gar nicht, wo ich war und was eigentlich passiert war, bis langsam die Erinnerungen zurückkehrten und der bohrende Kummer in meinem Inneren erwachte.
Neben mir sah ich Domenico schlafen. Sein Gesicht, das mir so vertraut war, wirkte auf mich plötzlich wieder wie das Gesicht eines Fremden. Wie am Anfang, als er für mich nur der blöde Angeber gewesen war. Damals, als er neu in die Klasse gekommen war und ich noch nicht den leisesten Schimmer davon gehabt hatte, wie sich das alles weiterentwickeln würde.
Einen Moment lang wollte ich einfach wieder nur glauben, dass das alles nur ein böser Traum gewesen war, dass ich irgendwann davon aufwachen und voller Erleichterung feststellen würde, dass das alles gar nie passiert war … aber die Wirklichkeit ließ sich leider nicht ausradieren …
Ich stand auf und schlich erschöpft zur Toilette. Auf dem Weg dorthin versuchte ich, ein paar klare Gedanken zu fassen. Vielleicht war es ja ganz gut gewesen, dass es passiert war. Vielleicht war ich jetzt noch rechtzeitig gewarnt worden, bevor ich mich mit Domenico verlobte. Vielleicht erkannte ich jetzt das Positive an dieser Situation noch nicht, aber irgendwann würde ich es sehen …
Als ich von der Toilette zurückkam, hatte auch Domenico die Augen aufgeschlagen. Er richtete sich stöhnend auf und fasste sich an die Stirn. Dann sah er mich an, und ich blieb ruckartig stehen. Konnte er sich überhaupt daran erinnern, was er getan hatte? Oder war er so sternhagelvoll gewesen, dass er wieder mal einen Filmriss gehabt hatte?
Seine Lippen bebten, als er mich anschaute.
«Sag nicht, du kannst dich nicht erinnern», sagte ich leise.
Er rappelte sich mühsam auf und torkelte zu mir.
«Süße …»
«Du musst mir nichts erklären, Ni…, Domenico», sagte ich schwach. «Es ist eh aus zwischen uns.» Ich drehte mich um und begann, meine Sachen zusammenzupacken.
Ich fühlte, wie schockiert er war, als ich das sagte.
«Duci mia … wir müssen miteinander reden», stammelte er. «Ich habe … ich kann es dir wirklich erklären …»
«Es gibt keine Erklärung dafür, das hab ich dir doch gesagt», erwiderte ich.
«Doch, die gibt es …» Ich fühlte seine Hand auf meiner Schulter. «Ey, komm … bitte …»
«Nicki, es hat keinen Zweck. Ich kann dir nicht mehr vertrauen. So kann ich keine Beziehung mit dir haben. Das geht einfach nicht.»
«Lass mich doch bitte erklären, wie es wirklich war!», bat er mit kratziger Stimme.
«Das weißt du doch selber nicht mehr. Du warst doch sturzbetrunken.»
«Nee, so betrunken war ich nicht, wie du denkst. Ich weiß genau, was abgegangen ist. Bitte …»
Ich hörte auf zu packen und drehte mich zu ihm.
«Was willst du mir denn noch erklären? Sag doch einfach die Wahrheit. Sag, dass du Angel liebst. Das hab ich ja schon lange gemerkt. Sei einfach ehrlich und gib zu, dass du lieber hier auf Sizilien leben willst. Fertig. Basta.»
Er schüttelte den Kopf. «Das … wäre aber nicht die Wahrheit. Komm jetzt her. Bitte. Wir setzen uns aufs Sofa. Ich will mit dir reden.»
«Ja, das hätten wir schon lange tun können», sagte ich bitter. «Weißt du noch, wie oft ich dich darum gebeten habe? Dass du mir endlich erklärst, was in der Vergangenheit los war und warum du so vielen Mädchen wehgetan hast?»
«Das weißt du doch», entgegnete er gequält. «Die Psychoheinis haben dir doch alles über mich erklärt, ist es nicht so? Sie haben dir doch gesagt, warum ich so bin, wie ich bin.»
«Ich möchte es aber gern von dir hören, weißt du», sagte ich. «Was du bei all diesen Dingen gefühlt hast. Was in dir abgegangen ist.»
«Ja, Mensch, ey!», brüllte er auf einmal wieder los. «Was in mir abgegangen ist? Ey, du hast meine kranke Mutter doch kennengelernt, oder nicht? Was muss ich dir denn da noch alles erklären? Warum verstehst du denn nicht endlich, dass es mir grausam wehtut, über all diesen Mist zu reden? Dass ich mich selber dafür hasse und so?»
«Okay, sag mir wenigstens eins: Hast du Angel auch betrogen?»
«Maya …»
«Bitte!»
«Oh Mann, ey! Jetzt hör doch auf! Ich hab dir doch gesagt, dass ich früher echt krank war, okay?»
«Du hast sie also auch betrogen?»
Er knallte eine leere Zigarettenpackung in die Ecke.
«Hör zu, ich hatte dauernd diese beknackte Angst, okay? Ich bin nicht der Supertyp. Angel hat es gewusst. Alle haben es gewusst! Janet hat es gewusst. Suleika … alle! Mensch, ich hab's nicht auf die Reihe gekriegt! Weiß ich doch selber! Mist, Maya, ich hab dich immer geliebt! Glaub mir das doch!» Tränen spritzten aus seinen Augen. «Ich weiß, dass ich ein kranker Idiot bin! Okay? Aber ich liebe dich!»
«Hast du das alles zu Angel auch gesagt?» Ich hatte das Gefühl, als würde meine Stimme irgendwo im Raum herumschweben und gar nicht aus mir herauskommen.
«Maya … jetzt glaub mir doch endlich … ich hab dich immer geliebt! Ey, als du damals hier aufgetaucht bist … ich bin fast durchgedreht! Ich hab mit Angel nie dasselbe erlebt wie mit dir!»
«Aber warum … warum machst du das? Brauchst du einfach … eine … mit der du … Sex haben kannst? Ist es das? Weil ich dir das noch nicht geben will?»
Ich hatte das Gefühl, fast keine Luft mehr zu bekommen. Egal, was er mir sagte – der Schmerz ließ sich nicht mehr lindern. Das, was geschehen war, würde nicht so einfach rückgängig zu machen sein.
«Nein, das ist es nicht …», erwiderte er niedergeschlagen.
«Was dann? Nicki … ehrlich … du … du hast alles, was ich noch habe, kaputtgemacht», schluchzte ich mit bebender Stimme. «Meine Mutter wird vielleicht nicht mehr lange leben, meine Eltern gehen auf Weltreise … Ich muss von zu Hause weg. Du warst der Einzige, den ich noch hatte, verstehst du? Ich hab bald keine Familie mehr! Du hast nun sogar mehr Familie als ich! Du hast eine Familie in Norwegen, du hast Halbgeschwister, du hast hier deinen Onkel … Und ich? Ich hab niemanden mehr! Ich weiß, dass du viel Mist erlebt hast! Ich weiß, dass du traumatisiert bist! Aber das entschuldigt nicht alles, Nicki!»
Ich weinte und trat ans Fenster. Ich schaute hinunter auf die Straße, auf das Leben, das sich dort abspielte … während das Märchen in meinem Herzen nun endgültig ausgelöscht schien.
Domenico kam zu mir und schlang seine Arme um mich. Er legte den Kopf an meine Schulter und ließ seine Tränen in mein Haar fließen.
«Bitte bleib bei mir», flüsterte er mit heiserer Stimme.
«Ich … Nicki, bitte … ich …»
«Ey, ich hab dir doch diese Kette geschenkt.» Er griff hektisch an meinen Hals und nahm das silberne Herz zwischen Zeigefinger und Daumen. «Die Kette, die …»
«Weiß Angel über deine Narben Bescheid?», hörte ich mich selber fragen und hatte zuerst keine Ahnung, warum ich überhaupt auf diese Frage kam.
Er ließ die Kette wieder in meinen Ausschnitt gleiten.
«Ja …»
«Hat sie sie gesehen?»
«Maya …»
«Sag es mir!»
«Ja … sie hat sie gesehen …»
«Hast du mit ihr geschlafen?»
«Süße … jetzt hör mal …»
«Bitte sag endlich die Wahrheit!»
«Ja, verflixt noch mal, ich hab mit ihr geschlafen. Mehrmals. Okay?»
«Mit T-Shirt?»
«Mensch, muss ich das so genau erzählen? Es war …»
Ich zog mich entnervt von ihm zurück. Wenn ich einen kleinen, klitzekleinen Augenblick geglaubt hatte, er würde mir endlich Zugang zu diesem Geheimnis gewähren, war ich jetzt auf alle Fälle einmal mehr eines Besseren belehrt worden.
«Maya … warum verstehst du denn nicht endlich … ey, alles, was ich wollte, war, es mit dir richtig zu machen!», stieß er verzweifelt hervor. «Ich wollte doch nur diese beknackten Geschichten vergessen. Ich wollte einfach nur, dass wir es zusammen schön haben. Du … du kannst … wenn du das alles wüsstest, dann … würdest du …» Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.
«Dann würde ich dich verlassen?», flüsterte ich. «Willst du das sagen? Tja, zufällig kenn ich diese Geschichten, Nicki …»
Er schaute mich mit bebenden Lippen an. Seine Augen glühten, und trotzdem konnten sie mein Herz nicht mehr erreichen. Delia hatte mir mal gesagt, dass Männern, die ihre Frauen betrügen, in Ewigkeit nicht mehr zu trauen sei und dass sie so einem Typen sofort den Laufpass geben würde …
«Was weißt du denn alles?» Seine Stimme war nur noch ein Hauch.
«Das spielt keine Rolle mehr. Ehrlich … jetzt müssen wir da auch nicht mehr drüber reden. Tut mir leid, Ni…, Domenico, ich brauch jetzt erst mal Zeit für mich», sagte ich. «Ich muss viel nachdenken. Ich kann einfach nicht mehr.»
Er sah mich traurig an und wandte sich dann geschlagen ab. Resigniert zog er eine Zigarette aus einer der herumliegenden Schachteln und steckte sie zwischen seine Lippen. Offenbar waren wir ganz allein in der Wohnung. Chicco und Nonno hatten anscheinend irgendwo auswärts übernachtet.
«Hast du etwas Geld für mich?», fragte ich matt. «Ich will den Bus nach Monreale nehmen.»
«Nee, ich bring dich doch hin», entgegnete er.
«Nein, danke», sagte ich. «Ich fahr allein.»
«Ey, spinnst du? Das kommt nicht in Frage.»
«Nicki, ich möchte jetzt einfach allein sein, okay?» Ich warf ihm einen unmissverständlichen Blick zu. «Ich reise jetzt nach Monreale. Ich möchte gern mein Geld und meinen Ausweis wiederhaben. Wir … sehen uns dann irgendwann dort, okay? Aber lass mich bitte allein gehen.»
Er rührte sich eine Weile lang nicht von der Stelle und vergaß ganz, seine Zigarette anzuzünden. Schließlich nahm er sie wieder aus dem Mund, ging zu seinen Sachen und kramte etwas Geld hervor. Er drückte mir zwei Hunderter in die Hand. «Da! Nimm!»
«Danke», sagte ich kühl.
«Ich bring dich zur Busstation», bot er an.
«Ich nehme mir ein Taxi», entgegnete ich.
Er antwortete nichts mehr darauf und wehrte sich schließlich auch nicht mehr, als ich zur Tür ging.
«Pass auf, dass du nicht abgezockt wirst», sagte er leise, bevor ich die Wohnung verließ.
«Ich komm klar», sagte ich.
«Hast du was zu essen?»
«Danke, ich kann für mich allein sorgen.»
Trotz der Wut brach es mir fast das Herz, ihn einfach so stehenzulassen, aber er hatte es nicht anders verdient.
Zuerst lief ich einfach durch die Straßen und suchte die Piazza Stesicoro. Zum Glück verlief ich mich ausnahmsweise mal nicht. Danach beschloss ich, den Weg bis zur Busstation zu Fuß zurückzulegen. Ich wollte so viel Geld wie möglich sparen. Wer wusste denn, wozu ich es noch brauchen würde.
Bei der Station musste ich geschlagene anderthalb Stunden warten, bis wieder ein Bus nach Palermo fuhr. Ich würde also erst am Abend dort ankommen. Mir blieb aber auch wirklich gar nichts erspart …
Die Fahrt schien mir unendlich lange, und ich döste fast die ganze Zeit, weil ich immer noch so müde und erschlagen vom Weinen war. Der Schmerz folterte mich und drückte mir fast die Luft ab. Ich hatte kaum Hunger und daher nur ein kleines Panino runtergewürgt.
Um halb acht fuhren wir in Palermo ein, und ich wusste, dass ich wohl kaum noch einen Bus nach Monreale kriegen konnte, also musste ich ein Taxi suchen. Da kaum einer Englisch konnte, dauerte es eine Weile, bis ich mich durchgefragt und endlich ein Taxi gefunden hatte.
Um Viertel vor neun war ich in Monreale. Salvatore begrüßte mich überschwänglich und überhäufte mich mit einem Redeschwall. Ich versuchte ihm zu erklären, dass Domenico noch unterwegs war und irgendwann mit dem Motorrad eintreffen würde. Denn offensichtlich war er noch nicht hier.
Ich durfte wieder mein Zimmer beziehen. Alle meine Sachen waren zum Glück noch da, Salvatore hatte sie für uns aufbewahrt.
Froh, endlich wieder in Monreale zu sein und mein Geld und meinen Ausweis zu haben, zog ich mich bald darauf in mein Zimmer zurück, nachdem Salvatore mich mit lauter Esswaren eingedeckt hatte. Es kam mir fast so vor, als hätte er es darauf angelegt, ein bisschen mit mir flirten. Und für eine winzige Sekunde blitzte der Gedanke in mir auf, dass ich das einfach ausnutzen konnte, um mich an Domenico zu rächen. Doch mir war nicht nach Flirten zumute, und außerdem fand ich das lächerlich.
Ich hatte sowieso nur noch ein Bedürfnis: unter die Bettdecke zu schlüpfen und lange zu schlafen.