Am nächsten Morgen wurde ich früh wach, weil eine frische Brise durch das offene Fenster wehte. Ich stand auf, duschte und zog mich an. Ich wollte nachsehen, ob Domenico mittlerweile angekommen war, doch ich fand ihn nirgends. Seine Sachen, die Salvatore für ihn bereitgelegt hatte, standen immer noch unberührt da.
Würde er überhaupt wieder auftauchen? Oder hatte er vor, in Catania bei Angel zu bleiben? Ich lachte bitter bei dem Gedanken. Er war mich ja nun los, also konnte er machen, was er wollte …
Ich überlegte mir, was ich nun mit mir anfangen sollte. Zu dumm, dass der Rückflug erst für eine Woche später gebucht war. Zwei Wochen Sizilien mit Domenico – es hätten die schönsten Ferien aller Zeiten werden sollen. Nun war das alles ins Wasser gefallen … Ob es möglich war, den Flug umzubuchen und einen früheren Rückflug zu bekommen? Vielleicht sollte ich einfach mal zum Flughafen fahren und mich erkundigen.
Ich beschloss, genau das zu tun. Ich konnte natürlich auch einfach bei der Fluggesellschaft anrufen, aber irgendwie musste ich mir ja die Zeit vertreiben, und ein Ausflug zum Flughafen war wenigstens ein Ziel.
Und eigentlich fand ich es ganz gut, wenn ich nicht in der Wohnung sein würde, falls Domenico eintreffen würde. Er sollte nämlich ruhig sehen, dass ich es ernst meinte und dass er sich wirklich anstrengen musste, wenn er das alles wiedergutmachen wollte.
Ich packte alles, was ich brauchte – Handy, Geld, Ausweis, Fotoapparat und ein bisschen Proviant – in meine Handtasche und verließ das Haus.
Es war noch ziemlich früh am Morgen. Monreale war soeben zum Leben erwacht, und die Leute waren auf dem Weg zur Arbeit. Ich kam an der Schule vorbei und sah zu, wie ein paar Schüler in das Gebäude reingingen. Ohne es zu merken, blieb ich stehen. Ich dachte an die verschlossene Kammer und daran, dass ich trotz allem immer noch zu gern wissen wollte, was dahinter verborgen war. Auch wenn es mit Domenico ein für allemal vorbei sein würde – ich hatte nun so lange mit diesen offenen Fragen und diesen ungelösten Geheimnissen gelebt, dass ich es zu gerne noch erfahren hätte. Vielleicht würde ich ja nun jemanden finden, der mir diese Tür öffnen konnte.
Und so beschloss ich, es einfach zu wagen, bevor ich zum Flughafen fuhr. Denn ob Domenico mir meine Nachforschungen übelnahm oder nicht – das war jetzt völlig egal.
Ich war gar nicht mal so nervös, als ich die Tür öffnete und mich einfach unter die Schüler mischte. Echt, irgendwann war man einfach abgehärtet. Ich hatte nun so vieles erlebt und so viele Dinge schon gewagt, dass das hier fast eine Kleinigkeit war. Wenn man es mit der Sache in «Toni's Kitten» verglich …
Ich ließ mich von der Menge die Treppen hinauftreiben. Oben stahl ich mich leise davon, schlich durch den kleinen Flur und dann die kleine Wendeltreppe hinauf zu der geheimnisvollen Tür. Vorsichtig drückte ich den Türknauf hinunter. Sie war natürlich immer noch verschlossen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als jemanden zu fragen.
Ich ging wieder runter und irrte zuerst ein wenig in den Gängen umher, in der Hoffnung, dass mir jemand begegnen würde. Ich legte mir mit meinen spärlichen Schulkenntnissen ein paar italienische Sätze zurecht, mit denen ich mein Anliegen formulieren konnte. Aber wie sollte ich den Leuten erklären, warum ich unbedingt einen Blick hinter diese Tür werfen wollte?
Schließlich fand ich mich vor dem Zimmer neben der Kommode mit dem Madonnenbild wieder. Es war das Zimmer, aus dem damals bei unserer letzten Reise diese blonde Reiseleiterin getreten war, die mir die Zeichnung von Domenico gegeben hatte. Ich hörte Stimmen hinter der verschlossenen Tür. Vermutlich war dies so eine Art Lehrerzimmer.
Ich beschloss, hier anzuklopfen, obwohl ich mir immer noch nicht schlüssig war, wie ich die ganze Sachlage nun erklären sollte. Bald darauf hörte ich eine Antwort, die ich als «Herein» deutete. Ich öffnete die Tür, und sofort verstummten die Stimmen.
Ein paar Leute saßen in dem kleinen Zimmer um einen Tisch versammelt. Zwei Nonnen waren unter ihnen. Alle starrten mich an.
«Scusi …», stammelte ich.
Und dann fielen mir vor Erleichterung fast die Augen aus dem Kopf, als ich die blonde Reiseleiterin wiedererkannte. Signora Castiglione! Oder besser gesagt, Professoressa Castiglione.
«Guten Tag …», stotterte ich. «Sie … Sie sprechen Deutsch, nicht wahr? Sie sind doch Signora Castiglione.»
«Ja.» Die blonde Frau stand auf und musterte mich neugierig. Einen Moment lang konnte sie mich offensichtlich nicht einordnen.
«Ich … ich war vor zwei Jahren mit meinem Vater hier», erklärte ich. «Ich weiß nicht, ob Sie sich an uns erinnern. Mein Vater ist Arzt, und wir haben zwei Jungen gesucht … diese Zwillingsbrüder, die hier immer eingebrochen haben …»
Sie stutzte, dann erhellte sich ihr Gesicht. «Ach ja, ich erinnere mich. Du hattest mir dieses Foto mit dem hübschen Jungen gezeigt. Wie war noch mal dein Name?» Sie kam um den Tisch herum und reichte mir die Hand.
«Maya. Maya Fischer …» Ich schlug ein.
«Ach ja, stimmt. Und? Hast du die Jungen gefunden?»
«Ja.» Ich holte tief Luft. «Ja … und … ich bin nun hier, weil ich noch eine Frage habe. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?»
Sie schaute etwas zögernd auf die Versammlung.
«Magst du fünf, zehn Minuten warten? Wir müssen noch etwas fertig besprechen. Nachher habe ich Zeit für dich.»
Ich nickte. «Natürlich.»
«Warte am besten draußen vor der Pforte.»
Ich bedankte mich und verschwand nach draußen. Ich setzte mich neben die eine Laterne auf eine kleine Mauer und konnte nun nicht mehr verhindern, dass mein Herz wieder mächtig klopfte. Trotz dieser abgrundtiefen Enttäuschung über Nickis Verhalten war ich wahnsinnig aufgeregt, was ich in dem Zimmer finden würde.
Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis die Signora endlich erschien.
«Entschuldige. Es dauert immer wahnsinnig lange, bis jeder noch seinen Senf dazugegeben hat. Italiener reden immer so viel!» Sie lächelte. «Also, was möchtest du gern wissen?»
Froh, mein Anliegen nicht auf Italienisch kommunizieren zu müssen, entschied ich mich einfach für die Wahrheit.
«Also, mein Freund und sein Bruder sind ja vermutlich hier in diesem Kloster oder dieser Schule aufgewachsen. Hier muss früher eine Nonne namens Rosalia Lucia gelebt haben. Und mein Freund erinnert sich an ein bestimmtes Zimmer. Er hat es mir gezeigt, aber es ist verschlossen. Und ich würde nun gern rausfinden, was in diesem Zimmer ist. Damit … damit er seine Erinnerungen wiederkriegt, verstehen Sie?»
Ich ärgerte mich, dass ich Domenico immer noch meinen Freund nannte. Das musste ich sofort ändern.
Die Signora sah mich nachdenklich an. Ihre Augenbrauen waren immer noch so fein mit Kajal nachgezeichnet, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich vermutete, dass sie jünger war, als ich dachte. «Ein Zimmer? Welches Zimmer denn?»
«Es ist ganz oben. Wo diese kleine Wendeltreppe hochgeht. Im dritten Stock. Ich kann es Ihnen zeigen.»
«Ach, diese kleine Kammer im Turm meinst du? Sie wird schon lange nicht mehr benutzt.»
«Hat da mal jemand drin gewohnt?»
«Puh, da fragst du mich etwas. Möglicherweise haben ab und zu Nonnen drin gewohnt.»
«Kann ich da reingehen?»
«Wozu? Es gibt nicht viel Interessantes drin.»
«Trotzdem … vielleicht finde ich ja doch einen Hinweis für meinen Freund … für Domenico. Also so heißt er, mein F…, also der Junge, der eben hier aufgewachsen ist.»
«Nun gut, von mir aus. Ich kann sie dir gern aufschließen.» Die Signora zuckte mit den Schultern. «Ich denke aber nicht, dass du dort drin was findest. Gehen wir rauf.»
Okay, sie mochte meine Bitte ja ziemlich merkwürdig finden, aber Hauptsache, ich bekam die Kammer aufgeschlossen.
Ich folgte ihr ins Lehrerzimmer, wo sie einen Schlüsselbund aus einem Schrank holte. Als wir etwas später die Wendeltreppe zum Turmzimmer hochstiegen, platzte ich beinahe vor Spannung.
Die Signora schloss die Tür auf, und ich trat nervös ein.
Auf den ersten Blick war es wirklich nichts anderes als eine kleine Kammer. Bis auf ein Bett, ein kleines Bücherregal, einen Tisch, einen Stuhl und ein Bild über dem Bett an der Wand war nichts weiter drin. Ein alter, geflickter Teppich lag am Boden. Das war auch schon alles …
Ich war richtig enttäuscht. Aber was hatte ich denn anderes erwartet? Was hatte ich zu finden gehofft? Lauter Fotos von den Zwillingen an der Wand? Oder ein Bild von Mamma Rosalia? Einen Hinweis, dass Domenico und Mingo in diesem Zimmer gewohnt hatten?
«Sieh dich ruhig um», sagte die Signora. «Aber schließ nachher wieder ab. Ich lass dir den Schlüssel da.»
«Darf ich auch Fotos machen?», fragte ich.
«Sicher.» Sie nickte mir zu und ließ mich allein.
Ich vertiefte mich in die Materie. Zuerst trat ich ans Fenster und schaute hinaus. Ich sah über die Dächer von Monreale bis weit hinunter in das Tal. Doch ich wollte mich nicht zu lange mit der Aussicht aufhalten. Meine Aufmerksamkeit wurde viel mehr von dem kleinen Regal in Beschlag genommen, das voll war mit Büchern. Ich trat hinzu und schaute sie mir an. Eine alte Bibel und sonstige Schriften. Ein paar verrostete Kerzenständer. Nichts Außergewöhnliches …
Trotzdem zückte ich meine Kamera und schoss Bilder von jedem Winkel des Zimmers. Ich ging etwas näher an das Bett heran und schaute mir das Bild an. Es war eine alte Malerei, und es zeigte zwei Kinder, die über eine wackelige Brücke liefen und über denen ein Schutzengel wachte. Sicherheitshalber machte ich davon auch ein Foto. Vielleicht konnte sich Domenico an irgendetwas davon erinnern …
Dann trat ich wieder zum Bücherregal und nahm ein Buch nach dem anderen in die Hände. Es waren diverse katholische Lehrbücher und Bücher über Heilige, die irgendwelche Wunder erlebt hatten, soweit ich dies den italienischen Titeln entnehmen konnte.
Vorsichtig nahm ich die alte Bibel in die Hand. Sie war groß und schwarz und sah ziemlich gebraucht und abgewetzt aus. Ich schlug die vergilbten, stockfleckigen Seiten auf und blätterte ein wenig darin herum. Sie war voll mit Hinweisen, mit Randnotizen, die jemand von Hand da reingeschrieben hatte. Offensichtlich hatte jemand fleißig darin studiert. Ja, es schien fast, als hätte sich da jemand mit allem ausgiebig auseinandergesetzt und ein halbes Tagebuch an den Rand der Seiten geschrieben. Ich versuchte, ein paar dieser Notizen zu lesen. Die Handschrift war gestochen scharf, aber klein und verschnörkelt.
Wem diese Bibel wohl gehört hatte?
Ich klappte sie zu und schlug sie auf der ersten Seite wieder auf. Und beinahe hätte ich sie mit einem Aufschrei fallen lassen, als ich die drei Worte dort las. Meine Hände zitterten richtig.
Mit der gleichen Handschrift, mit der die Notizen verfasst worden waren, standen die drei Worte auf der ersten Seite:
Suora Rosalia Lucia.
Mein Herz hämmerte, als ich diesen weiteren Realitätsbeweis von Domenicos Erinnerungen in den Händen hielt. Er hatte tatsächlich Recht gehabt: Es war das Zimmer von Mamma Rosalia gewesen. Seine Erinnerungen waren nicht einfach nur wirre Trugbilder gewesen. Sie waren wahr, tatsächlich wahr, wie auch die Begegnung mit Zio Giacomo bewies. Nicki hatte sie einfach nur nicht mehr richtig einordnen können …
In dem Moment wusste ich sofort, dass er diese Bibel kriegen musste – sofern man mir erlaubte, sie mitzunehmen. Das war das beste Andenken an seine Pflegemutter, das er kriegen konnte.
War es das gewesen, was ich hatte finden müssen?
Doch im selben Augenblick drang wieder die Tatsache von seinem Betrug mir gegenüber in mein Bewusstsein und holte mich schnell wieder runter auf den harten Boden.
Moment mal, es kam ja wohl nicht in Frage, dass ich jetzt allzu euphorisch wurde! Ich würde ihm die Bibel bringen, ja, aber damit war dann auch Schluss.
Ich schaute mich weiter in dem Zimmer um. Wo hatten wohl Domenico und Mingo übernachtet? In dieser Kammer gab es ja keinen Platz mehr für weitere Betten.
Ich stöberte noch ein wenig weiter in den Büchern, fand aber keine weiteren Hinweise mehr. Zuletzt schaute ich auch noch unter das Bett, doch auch da war nichts Weiteres mehr zu finden. Und doch hatte ich so eine Intuition, dass es da noch irgendwas geben musste …
Ich ging mitsamt der Bibel runter ins Lehrerzimmer zu Professoressa Castiglione. Sie saß gerade vor dem Computer und war dabei, einen Brief zu schreiben. Sie hob ihren Kopf und schaute mich an.
«Na, hast du was gefunden?»
«Ja. Kann es sein, dass eine Nonne namens Rosalia Lucia in dieser Mansarde gewohnt hat? Sie muss vor über zehn Jahren gestorben sein.»
«Das kann ich dir nicht sagen. Ich arbeite ja erst seit etwa drei Jahren hier. Fakt ist, dass das Turmzimmer schon lange nicht mehr benützt wird. Aber es ist durchaus anzunehmen, dass da Nonnen drin wohnten. Ein Teil der Schule gehörte ja zum Kloster.»
«Kann man das rausfinden?»
«Ich denke schon. Es gibt noch ein paar Nonnen, die hier schon seit über zwanzig Jahren oder noch länger leben. Suora Riccarda zum Beispiel. Die müsste Rosalia Lucia, oder wie sie hieß, ja eigentlich gekannt haben.»
«Kann man sie fragen?»
«Sicher. Wir können mal nachsehen, ob sie hier ist.»
«Haben Sie denn überhaupt Zeit?», fragte ich unsicher. «Sie haben doch bestimmt viel zu tun …»
«Ja, klar, etwas Zeit kann ich mir schon dafür nehmen. Außerdem machst du mich ja echt langsam neugierig mit dieser Sache.» Sie lachte. Dann fiel ihr Blick auf die Bibel in meiner Hand.
«Ach ja, ich wollte Sie noch fragen, ob ich diese Bibel mitnehmen darf», bat ich. «Sie gehörte Suora Rosalia.»
«Sicher, ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Die verstaubt wohl schon seit Jahren in dieser Kammer. Aber ehrlich, du machst mich nun wahnsinnig neugierig. Was hat es denn mit dieser Suora Rosalia auf sich?»
«Sie war die Pflegemutter meines … von Domenico und seinem Bruder, und er möchte nun … äh … etwas über sie rausfinden», erklärte ich. «Er … er hat nichts mehr von ihr, wissen Sie. Kaum noch Erinnerungen …»
«Verstehe», sagte sie und klickte mit der Maus, um den Computer runterzufahren.
«Dein Freund heißt Domenico?» Sie sah mich nachdenklich an.
«Ja», sagte ich und hätte am liebsten hinzugefügt, dass er nicht mehr mein Freund war, aber das ging die Professoressa ja gar nichts an.
«Schöner Name», sagte sie. «Ach ja – war das der Junge, der so gut malen konnte? Von dem wir damals die Zeichnung gefunden hatten? Jetzt kann ich mich nämlich wieder daran erinnern.»
«Ja, genau», sagte ich.
«Hmm …» Die Signora stand auf und kam zu mir. «Warte mal, bei dem Stichwort Zeichnung fällt mir jetzt etwas ein …»
Ich schaute sie gespannt an.
«Auf dem Dachboden sind einige Bilder verstaut. Gemälde, die jemand mit Öl gemalt hat. Ich habe sie mal entdeckt, als ich etwas gesucht habe. Ich weiß nicht, von wem sie stammen, aber ich habe immer angenommen, dass eine dieser Nonnen sie gemalt hat.»
«Ja?»
«Wir können gern mal raufgehen, wenn du möchtest. Ich weiß nicht, ob das was mit dieser Nonne und deinem Freund zu tun hat, aber … mir ist es einfach eingefallen.»
Ach, warum redete sie immer von meinem Freund? Und warum machte ich das hier eigentlich für ihn? Er hatte es doch überhaupt nicht verdient!
Ich beruhigte mich damit, dass ich es letztendlich für mich selber tat, um meine langgehegte Neugierde endlich zu befriedigen – was mir nach all den Jahren Geheimniskrämerei von Domenicos Seite her ja mehr als zustand. Und es würde mir guttun, endlich zu wissen, was wir beide eigentlich jahrelang an Ballast in unserem gemeinsamen Rucksack herumgeschleppt hatten …
Wieder klopfte mein blödes Herz vor Aufregung, als wir auf dem Weg zum Dachboden waren. Mist, konnte ich nicht einfach mal ruhig und cool bleiben? Außerdem, was hatte Professoressa Castiglione gesagt? Ölgemälde? Hatte Domenico etwa als Kind schon Ölgemälde gemalt? Das konnte doch fast nicht sein. So begabt war ja nun wirklich kein Mensch, nicht mal er. Bestimmt hatte es mit diesen Gemälden überhaupt nichts Besonderes auf sich, aber ich wollte doch nachschauen, um das dann auch ganz sicher ausschließen zu können.
Wie jeder normale Dachboden war auch dieser düster und voller Gerümpel. Es gab nicht mal eine Deckenlampe, deswegen knipste die Professoressa die Taschenlampe an, die sie mitgenommen hatte.
«Hier.» Sie richtete den Lichtkegel auf ein Regal, in dem übereinandergestapelt ein paar verstaubte Gemälde lagen.
Ich kämpfte mich durch den ganzen Ramsch zu diesem Regal hin und zog das oberste Bild vorsichtig hervor. Es war in hauchdünnes Pergamentpapier eingehüllt, das sofort unter meinen Fingern zerbröckelte. Behutsam entfernte ich die Hülle und die Staubschicht und schaute das Bild an.
Es war ein Landschaftsbild mit der Aussicht über Palermo, die jemand perfekt mit Ölfarbe gemalt hatte. Ich leuchtete mit dem Lichtkegel der Taschenlampe darauf. Schade, dass es hier oben so düster war, ich hätte es gerne bei Tageslicht betrachtet. Aber es sah jedenfalls nicht aus wie von Kinderhand gezeichnet. Nein, das konnte unmöglich Domenico gewesen sein, der das gemalt hatte.
Obwohl das Bild sehr schön war, stellte ich es doch ein wenig enttäuscht zur Seite und nahm das nächste. Ich befreite es vom Staub und der Papierschicht und schaute es an. Es war eine Madonna mit gefalteten Händen, ähnlich dem Bild, das unten über der Kommode hing. Wer immer das auch gemalt hatte – dieser Jemand war jedenfalls ein ausgezeichneter Künstler gewesen, das musste schon gesagt sein. Vielleicht war das andere Madonnenbild, das unten über der Kommode neben dem Lehrerzimmer hing, ja sogar von derselben Person gemalt worden?
Obwohl das alles eigentlich nicht das war, was ich mir erhofft hatte, machte ich weiter, befreite ein Bild nach dem anderen von der jahrealten Staubschicht und hielt es mir vor die Augen.
Das nächste Bild zeigte einen Garten, dann folgte ein Bild mit der Kreuzigung Jesu und direkt danach seine Auferstehung … wirklich allesamt wunderschön angefertigt!
Dann zog ich das letzte Bild hervor. Zwei kleine Kinder waren darauf zu sehen, zwei Jungs, die im Garten spielten. Ich wollte es schon wieder zu den anderen legen, als mir das Haar der Kinder auffiel. Ich richtete den Lichtkegel nochmals darauf und hätte beinahe aufgeschrien.
Es waren zwei kleine Jungs, die sich wie ein Ei dem anderen glichen, und sie hatten rötliches Haar!
Meine Hände und Beine zitterten, als ich mich ganz aufrichtete, um von irgendwoher ein wenig Licht zu erhaschen. Ich kämpfte mich durch den Ramsch zu der kleinen Dachluke, durch die ein wenig Tageslicht hereindrang. Die Signora folgte mir neugierig.
«Hast du etwas gefunden?»
Ja, das hatte ich. Es gab keinen Zweifel!
Auf diesem Bild waren tatsächlich Nicki und Mingo zu sehen, die mit einem Ball im Garten spielten. Sie trugen verschiedene Sachen, aber bis hin zu den Grübchen in den Wangen waren sie detailgetreu wiedergegeben worden.
«Ich fass es nicht», flüsterte ich.
Von einer inneren Eingebung gefolgt, beleuchtete ich mit dem Lichtkegel die rechte, untere Ecke des Bildes. Die Initialen bestätigten mir alles: RL – Rosalia Lucia.
Als ich es anschaute, kamen mir regelrecht die Tränen, weil ich in diesem Augenblick von dem Bewusstsein des Schmerzes erfasst wurde, den Domenico immer noch über den Verlust seines Zwillingsbruders empfinden musste. Und er war die ganze Zeit so tapfer und versuchte irgendwie damit klarzukommen. Vermutlich war es dieser Moment, in dem ich seine innere Not wieder einmal so deutlich nachempfinden konnte, dass ich mich entschied, ihm noch einmal eine Chance zu geben. Mir wurde das jedoch erst später bewusst.
«Sind das die beiden Jungen?», weckte mich die Signora aus meinen Gedanken. Ich schreckte auf. Ich hatte fast vergessen, dass sie immer noch neben mir stand.
«Ja … darf ich das Bild mitnehmen?»
«Natürlich. Hier oben verstaubt es ja nur.»
Ich wickelte es vorsichtig wieder in das Pergamentpapier ein, damit es ja nicht beschädigt wurde. Ich wollte der Signora die Taschenlampe schon wieder zurückgeben, als ich auf einmal im Lichtkegel etwas erblickte, was mich stutzig machte.
Hinter all den alten Möbeln und Tischen stand eine kleine Harfe.
«Das gibt's ja nicht», flüsterte ich.
Ich ging behutsam näher, leuchtete jede Ecke aus, bis ich bei der Harfe war. Ein paar der Saiten waren gerissen, und es sah nicht danach aus, als hätte in den letzten Jahren jemand damit musiziert. Vielmehr war sie wohl einfach achtlos hier auf den Speicher verfrachtet worden.
Aber hier stand sie, und das war der letzte Beweis dafür, dass Nickis Erinnerungen keine Hirngespinste waren. Dass er seinen inneren Bildern trauen durfte. Und dass auch ich es tun sollte …
«Hat die Harfe einer Nonne gehört?», fragte ich sicherheitshalber nach.
«Ich weiß es nicht», antwortete die Signora. «Man stellt die Sachen eben einfach auf den Dachboden, wenn sie rumstehen, ohne zu fragen, wem sie gehören. Aber es ist schon möglich.»
Ich schoss ein Foto von der Harfe und musste in diesem düsteren Licht natürlich den Blitz einschalten. Dann klemmte ich das Bild unter den einen und die Bibel unter den anderen Arm, und wir traten den Rückzug an.
Als wir bei der Wendeltreppe vorbeikamen, blieb ich stehen.
«Kann ich die Sachen erst mal in dem Zimmer verstauen?», fragte ich. «Ich möchte unbedingt mit meinem Freund hierherkommen und es ihm zeigen, bevor ich es mitnehme.»
«Sicher. Ich schließe dir schnell auf.»
Nachdem ich die Sachen in der Kammer deponiert hatte, kehrten wir zum Lehrerzimmer zurück. Bei der Kommode mit dem Madonnenbild blieb ich stehen.
Unglaublich, aber wahr – in der rechten, unteren Ecke standen ebenfalls die Initialen RL. Das war mir bis jetzt noch nicht aufgefallen. Rosalia Lucia hatte anscheinend all diese Bilder gemalt, und erst jetzt fiel mir ein, dass sie vermutlich auch das Bild mit dem Engel und den beiden Kindern gezeichnet hatte, das in der Kammer hing. Und – jetzt überschlugen sich meine Gedanken fast – war es möglich, dass sie Nicki auch das Zeichnen beigebracht hatte? Oder noch mehr: Da sie ja offenbar eine Urgroßtante oder so etwas von den Zwillingen gewesen war und somit mit ihnen verwandt – konnte es dann sein, dass das Zeichentalent sowieso in der Familie Di Loreno lag? Und hatte Suora Rosalias Familienname überhaupt auch Di Loreno gelautet?
Ach, so viele Fragen …
Vielleicht konnte diese andere Nonne, Suora Riccarda, mir all diese Fragen ja beantworten.
Nachdem Signora Castiglione die Tür geöffnet hatte, sprach ich sie darauf an. Ich musste die Gelegenheit unbedingt nutzen, denn vermutlich würde ich sie so schnell nicht wieder kriegen. Außerdem konnte die Signora alles dolmetschen.
«Ja, sicher, gehen wir rüber. Suora Riccarda sollte da sein, sie geht nie weg. Ich bin selber echt gespannt. Diese Geschichte hört sich so dramatisch an.»
Etwas später überquerten wir den schattigen Innenhof. War das der Garten, in dem Nicki und Mingo gespielt hatten und wo dieses Bild entstanden war?
Eine kleine, steinalte Nonne schlurfte mit einer Gießkanne in der Hand auf uns zu, und das Gesicht der Professoressa erhellte sich. Sie winkte der alten Frau und rief ihr etwas zu.
Suora Riccarda nickte. Auf dem zerfurchten Gesicht erschien ein herzliches, wenn auch nicht mehr ganz klares Lächeln.
«Sì, sì», sagte sie bereitwillig und winkte uns heran.
«Sie ist manchmal etwas verwirrt», erklärte die Signora mir. «Sie ist ja schon fast neunzig, weißt du. Aber sie hat ein Gedächtnis wie ein Elefant.»
Die Signora erklärte Suora Riccarda etwas, wies auf mich und erwähnte den Namen Suora Rosalia. Die alte Frau nickte eifrig und wandte mir ihr runzeliges Gesicht zu.
«Also, was möchtest du gern wissen?», forderte mich die Signora freundlich auf. «Suora Riccarda war eng mit Suora Rosalia befreundet. Sie wird dir sicher weiterhelfen können.»
Mein Herz pochte wieder, als mir die nächste Erkenntnis kam: Dann musste die alte Frau ja zwangsläufig auch Nicki und Mingo gekannt haben!
«Also, ich würde gern wissen, ob sie sich an die zwei Zwillingsbrüder erinnern kann, die bei Suora Rosalia aufgewachsen sind», stellte ich meine erste Frage, und die Signora übersetzte sie.
Zurück kamen ein eifriges Nicken und eine ausführliche Antwort, die sich durchweg positiv anhörte. Als die Namen Michele und Domenico fielen, hätte ich beinahe gejubelt.
Die Signora dolmetschte mir die Antwort.
«Also, sie meint, die beiden Jungen Michele und Domenico waren lange Zeit in Rosalias Obhut. Suora Rosalia hat die beiden weinenden Babys vor der Kirche gefunden.»
«Sie hat sie gefunden?» Das wich schon wieder von der Version ab, die ich kannte. Frau Galianis Version damals war gewesen, dass Suora Rosalia gerade noch rechtzeitig dazugestoßen war, als Maria versucht hatte, die Kinder umzubringen. Und Zio Giacomos Version war gewesen, dass er Maria zu Suora Rosalia geschickt hatte. Uff. Ganz schön verwirrend.
«Wie war denn das gewesen, als Suora Rosalia die Babys gefunden hat? War die Mutter in der Nähe?», fragte ich, und die Signora leitete meine Frage weiter.
«Nein», kam die Antwort zurück. Die Mutter hätte man erst ein paar Tage später gefunden. Man hätte dann die Kinder wieder zu ihr zurückgebracht und mit ihr die Lösung vereinbart, dass sie tagsüber im Kloster unter Suora Rosalias Obhut bleiben konnten und nachts dann bei ihrer richtigen Mutter in einer kleinen Mansarde schliefen.
Suora Riccarda tippte der Signora auf die Schulter, sie wollte offenbar noch was hinzufügen.
Die Signora hörte ihr zu. Suora Riccarda war auf einmal sehr aufgebracht. Fast schien es, als hätte sie sich mit ihren Erinnerungen total in die Zeit zurückversetzt. Sie redete wie ein Wasserfall, und es entstand eine lange Diskussion zwischen ihnen. Ich bekam vage mit, dass sich Suora Riccarda über das skandalöse Verhalten von Maria aufregte, und konnte kaum erwarten, bis die Professoressa mir die ganze Version übersetzte.
«Also, die Mutter sei im ganzen Ort als Prostituierte bekannt gewesen», sagte sie. «Man wusste auch nicht, wer der Vater der Kinder war. Der Bischof war zuerst dagegen, dass man sich im Kloster um die beiden kümmerte. Einige abergläubische Leute hätten die Jungen sogar ‹Teufelssöhne› genannt. Aber Suora Rosalia hatte die Kinder immer in Schutz genommen. Sie hat offenbar ein wenig mehr von der Bibel verstanden als der Bischof und war um einiges klüger. Sie hat darum gekämpft, dass die Jungen bleiben durften.»
Ich versuchte, mir jede Einzelheit zu merken, und nahm mir vor, später alles aufzuschreiben, damit ich ja nichts vergessen würde.
Wieder unterbrach Suora Riccarda. Sie wollte noch etwas ergänzen.
«Tja, sie meint, die Polizei sei öfters gekommen, weil die Mutter die Kinder nachts manchmal ganz allein gelassen und sich irgendwo in Palermo unten vergnügt hatte. Sie sei ihrer Meinung nach ein richtiges Flittchen gewesen, die Mutter, und sie hätte manchmal auch fremde Männer mit nach Hause genommen, wenn die Kinder schliefen. Deswegen habe Suora Rosalia dann die Kinder in dieses kleine Turmzimmer gebracht, weißt du, dorthin, wo wir vorher waren. Das Zimmer hat ihr gehört, sie hat es als Studier- und Gebetskammer benützt. Die Kinder durften dort schlafen, damit sie nicht ständig diesen Eskapaden ihrer Mutter ausgesetzt waren.»
Suora Riccarda gestikulierte nun wild mit den Händen. Bei der Erinnerung an Marias Verhalten stieg in ihr offenbar Empörung auf.
«Na ja, also, die Mutter der beiden Jungen sei bei allen Leuten geächtet gewesen, weil sie ihre Kinder einfach vor der Kirche ausgesetzt hatte. Die Babys haben anscheinend damals die ganze Nacht in der Kälte unter einer Straßenlaterne gelegen und seien total unterkühlt gewesen, als Suora Rosalia sie gefunden hat. Man musste sie regelrecht aufpäppeln. Die Mutter sei dann später einfach weggegangen, weil sie es offenbar nicht mehr aushielt, dem Gerede der Leute ausgesetzt zu sein. Sie ließ ihre Kinder einfach hier bei Suora Rosalia. Zwischendurch sei sie jedoch wieder aufgetaucht und hätte die Jungen abgeholt und irgendwohin mitgenommen und später wieder zurückgebracht. Und dann sei sie einfach wieder abgehauen, und man hätte sie wochenlang nicht mehr gesehen.»
«Wahnsinn …», flüsterte ich. Die ganze Nacht in der Kälte gelegen … Es war wirklich unglaublich, was Nicki und Mingo durchgemacht hatten. Kein Wunder, dass Nicki so dermaßen traumatisiert war …
Die Signora fuhr fort: «Suora Riccarda sagt, die zwei Jungen hätten oft geweint und gebrüllt in der Nacht und sich fest aneinandergeklammert. Der Nachtwächter der Schule, der ab und zu in dem Turmzimmer nach dem Rechten sah, hatte das mitbekommen. Suora Rosalia ging ja jeweils am Morgen in das Turmzimmer und holte die Kinder ins Kloster, und am Abend musste sie sie wieder zurückbringen. Der Bischof erlaubte leider nicht, dass die beiden bei ihr im Kloster schliefen. Später haben die Jungen dann abwechselnd bei verschiedenen Leuten übernachtet, die alle ihre Hilfe angeboten hatten.»
Uff, ja … ich begann Nickis Alpträume und Schlafprobleme wirklich immer mehr zu verstehen. Ich wollte so viel fragen, so viel wissen, aber ich hatte gemerkt, dass Signora Castiglione schon ein, zwei Mal auf die Uhr geschaut hatte. Ich durfte sie nicht ewig aufhalten, also musste ich meine Fragen gezielt wählen …
«Und wie ist Rosalia dann gestorben?», war das Nächste, was mich noch brennend interessierte.
«Rosalia war schwer krank, hieß es, aber sie redete mit niemandem darüber», übersetzte mir Signora Castiglione Suora Riccardas Antwort. «Doch irgendwann war sie so schwach, dass sie sich nicht mehr um die Kinder kümmern konnte. Sie konnte sie nicht mehr am Morgen ins Kloster holen. Die Jungen seien dann selber zu ihr gekommen und hätten tagelang an ihrem Bett gesessen. Ihre richtige Mutter sei zu der Zeit wieder wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Nachdem Rosalia gestorben sei, hätte man die Kinder ins Waisenhaus gebracht. Man hätte sie nie wieder gesehen.»
Ich bezweifelte, dass Suora Riccarda mir die letzte Frage beantworten konnte, doch ich versuchte es dennoch: «Weiß man, wer der Erstgeborene der beiden Jungen war?»
Die Signora übersetzte die Frage, und Suora Riccarda schüttelte den Kopf.
«Nein. Das weiß angeblich niemand.»
Ich musste unbedingt Maria irgendwann danach fragen …
Schließlich fügte Suora Riccarda noch etwas hinzu, was offenbar die Namen der Zwillinge betraf. Ich war wirklich froh, dass die alte Dame so gesprächig war.
«Es ist so, dass offenbar Rosalia den Kindern auch die Namen gegeben hat. Weil sie sie an einem Sonntag – was auf Italienisch ja Domenica heißt – gefunden hatte, bekamen beide den Namen domenicus, dem Herrn gehörend», war das Letzte, was die Signora Castiglione mir übersetzte.
Ich bedankte mich tausendmal bei Suora Riccarda für all die Informationen. Da hatte ich viel zu verarbeiten. Sie strahlte mich mit ihrem zahnlosen Mund an und tätschelte meine Hand.
«Ob das alles stimmt?», fragte ich die Professoressa, als wir wieder zurück ins Lehrerzimmer gingen. Mir fiel noch so viel ein, was ich gerne hätte wissen wollen, doch ich musste mich wohl vorerst mit diesen Informationen begnügen. Außerdem konnte mir vielleicht ja auch Zio Giacomo eines Tages noch weiterhelfen.
«Ich denke schon», antwortete Signora Castiglione.
Ich schüttelte ihr ganz lange die Hand und dankte ihr überschwänglich.
«Ist gern geschehen», sagte sie. «Übrigens, du kannst mich ruhig Sara nennen. Du musst mich nicht siezen. Und falls du nochmals mit deinem Freund herkommen möchtest, seid ihr herzlich zu einem Kaffee eingeladen», sagte sie. «Ich hab zwar noch einiges zu tun, aber ein bisschen Zeit kann ich mir schon noch abzwacken …»
Ich war froh, dass sie nicht nach Mingo fragte. Es war immer so traurig, den Leuten erklären zu müssen, dass Mingo an Heroin gestorben war …
Als ich etwas später zurück zur Pizzeria schlenderte, überlegte ich mir, ob Salvatore eigentlich all diese Geschichten aus Domenicos Vergangenheit kannte. Sie hatten ja als Kinder miteinander gespielt. Und ich fragte mich auch, warum Domenico und Mingo damals vor drei Jahren, als sie wieder nach Sizilien zurückgekehrt waren, Suora Riccarda nie aufgesucht hatten …
Vermutlich hatten sie einfach zu viel Angst gehabt. Sie hatten zwar einerseits nach ihrer Vergangenheit gesucht, waren aber gleichzeitig vor ihr geflüchtet. Genauso, wie Domenico sich einerseits eindeutig nach seiner Mutter sehnte und trotzdem dauernd vor ihr flüchtete …
Zudem hatte Mingo ja ohnehin geglaubt, dass das alles nur Hirngespinste gewesen seien. Aber das war wohl einfach seine Art gewesen, mit allem fertig zu werden.
Ich hatte meinen Plan längst verworfen, zum Flughafen zu gehen. Ich wollte viel lieber wissen, ob Domenico inzwischen da war …
Mittlerweile hatte ich festgestellt, dass schon längst Mittag war. Als ich in die Pizzeria trat, fand ich Domenico in der Küche aufgeregt mit Salvatore diskutieren. Offenbar ging es um mich, denn als er mich entdeckte, sah sein Gesicht aus, als ob ihm ein Stein vom Herzen fiele.
«Gut, dass du da bist», keuchte er atemlos. «Ich dachte …»
Er wollte auf mich zukommen, doch dieses Mal war ich diejenige, die eine Mauer um sich aufbaute. Meine Gefühle machten das einfach noch nicht mit. Er kapierte sofort und blieb mit einem Sicherheitsabstand vor mir stehen. Wir schauten uns einfach an, und in mir drin begann wieder alles wehzutun. Ihm offenbar auch.
So einfach konnte man die tiefe Verbindung zwischen uns nun mal nicht auslöschen …
«Alles klar bei dir?», fragte er schließlich rau.
Ich schüttelte den Kopf. «Natürlich nicht.»
Er legte seinen Kopf schief, um sein rechtes Auge mit seinen Fransen zu bedecken. «Schon klar», meinte er leise.
Ich biss mir auf die Lippen. Er wandte sich von mir ab und kehrte wieder zu Salvatore in die Küche zurück. Keiner von uns wusste, was er sagen sollte. Ich spürte, dass er innerlich ebenso fertig war wie ich, wenn nicht noch schlimmer. Gleichzeitig wusste ich, dass er seine Tat unendlich bereute. Und dass er im Moment keine Ahnung hatte, wie er sie wiedergutmachen konnte. Und auch ich wusste nicht, ob es überhaupt möglich war, meine zerstörten Gefühle je wieder aufleben zu lassen.
Langsam trat ich schließlich doch zu ihm. Er drehte sich zu mir und sah mich wieder an.
«Ich möchte, dass du mit mir kommst», begann ich, ohne mir überhaupt einen Plan zurechtgelegt zu haben.
«Wohin?», fragte er.
«Zur Schule. Ich will dir was zeigen.»
Er starrte mich schockiert an und öffnete seinen Mund, um mir etwas zu entgegnen. Doch dann schüttelte er nur den Kopf. «No.»
«Bitte.»
«Ich hab Nein gesagt. Von Anfang an, okay?»
«Wovor hast du denn solche Angst?», fragte ich herausfordernd.
«Wovor?» Er lehnte sich erschöpft an den Kühlschrank und schüttelte sein Haar noch mehr ins Gesicht, um seine Augen hinter seinen Haaren zu verstecken. «Ey, wovor hab ich wohl Angst? Willst du mir beweisen, dass ich die totale Vollniete bin? Mingo hat schon immer gesagt, dass ich psychisch einen an der Waffel hab, weil ich mir die ganzen Sachen eingebildet hab, okay? Ich brauch's von dir nicht auch noch zu hören.»
«Du hast sie dir aber nicht eingebildet, Nicki», antwortete ich. «Ich werde es dir sogar beweisen.»
Er starrte mich ein paar Sekunden lang wieder nur an. Doch dann drehte er sich um. «Vergiss es.»
Ich stöhnte. Dann sagte ich: «Nicki … wenn wir überhaupt noch eine Chance haben … nach all dem, was passiert ist … dann nur unter der Bedingung, dass du mitkommst. Sonst … kannst du es vergessen!»
Herrschaft noch mal, warum sagte ich so was überhaupt? Es war doch völlig absurd, ihn nach so einem Treuebruch überhaupt noch eines Blickes zu würdigen.
Er drehte sich wieder zu mir um. Seine Augen bohrten sich fast in mich hinein. «Nein. Du hast das nicht verdient. Du hast was Besseres verdient als so 'ne Nullnummer wie mich.»
Ich zuckte mit den Schultern. «Das spielt doch jetzt auch keine Rolle mehr.»
Er schloss die Augen. Sein Gesicht zuckte nervös. Ich vermutete, dass er die Medikamente wieder genommen hatte. Anders hätte er sich wohl unter diesen Umständen nicht beherrschen können.
«Komm jetzt mit. Bitte.»
Endlich gab er nach und folgte mir schweigend. Und so legten wir gemeinsam die kurze Strecke zu der Schule zurück und klopften einen Augenblick später erneut an die Lehrerzimmer-Tür. Hoffentlich war Sara tatsächlich noch da … Sie hatte ja gesagt, dass sie sich nochmals ein wenig Zeit nehmen würde.
Sara machte uns auf, und ich sah ihr an, dass sie uns insgeheim erwartet hatte. Sie begrüßte uns und musterte Domenico neugierig.
«Das ist Domenico», stellte ich ihn vor.
«Das hab ich mir gedacht.» Sie schmunzelte und reichte ihm die Hand. Er verzog keine Miene, als er einschlug, doch davon ließ sich Sara nicht einschüchtern.
«Wow, ich bin direkt ein wenig neidisch auf Maya, wenn ich dich so anschaue. Du bist wahrscheinlich ein richtiger Mädchentraum.» Sie lachte.
Weder Domenico noch ich sagten irgendetwas dazu. Mädchentraum … konnte man ihn wirklich noch so nennen? Im Moment fühlte ich mich eher wie in einem Alptraum.
«Möchtet ihr einen Kaffee?», fragte Sara.
Ich nickte, und Sara führte uns zu einem freien Tisch. Ein paar Leute, die am Nebentisch saßen, schauten kurz zu uns herüber. Sara erklärte ihnen offenbar, wer wir waren.
Etwas später saßen wir mit dem Kaffee um den Tisch, und Sara redete ganz unkompliziert mit Domenico.
«Du warst damals mit deinem Zwillingsbruder hier, stimmt's? Ihr seid sogar mal in die Schule eingebrochen?», fragte sie ganz unverblümt.
Domenico warf mir sofort einen stechenden Blick zu.
«Das hat sich einfach im Gespräch rausgestellt, Nicki», sagte ich. «Ich habe nichts erzählt davon.»
«Oh, tut mir leid …», sagte Sara, die offensichtlich spürte, dass sie Domenico gerade schwer auf den Fuß getreten war. «Ich möchte mich da nicht in irgendwelche heiklen Angelegenheiten mischen.»
«Schon gut», sagte ich und hoffte, Domenico würde bald mal irgendwas von sich geben. Es war mir richtig peinlich, dass er ständig schwieg.
«Lebst du jetzt auch in Deutschland?», wandte sich Sara wieder an ihn.
Er nickte.
«Aber deine sizilianische Muttersprache sprichst du noch?»
Er nickte wieder.
«Wahrscheinlich sogar besser als Deutsch», sagte ich. «Stimmt's, Nicki?»
Er zuckte mit den Schultern und nippte an seiner Tasse. Mensch, konnte er denn nicht mal irgendwas sagen?
«Und jetzt bist du extra nach Monreale gekommen, um nach deiner Vergangenheit zu forschen?», gab Sara nicht auf.
«Nein, eigentlich machen wir Ferien», antwortete ich, als er nach zehn langen Sekunden immer noch nichts geantwortet hatte.
«Ferien in Monreale?» Sara verzog ein wenig spöttisch die Lippen. «Das liegt doch gar nicht am Meer. Da gibt es doch viel schönere Orte.»
«Wir werden wahrscheinlich noch weiterziehen», erklärte ich, obwohl wir noch überhaupt keine weiteren Pläne hatten. Gleichzeitig hoffte ich inständig, dass Sara sich nicht nach Mingo erkundigen würde – sie wusste ja nicht, was mit ihm passiert war. «Dürfen wir nochmals zum Turmzimmer hoch?», fragte ich deshalb rasch.
«Sicher.»
Etwas später stiegen wir erneut die Wendeltreppe hinauf. Sara schloss die Tür auf, und es kam mir abermals vor, als ob wir in eine Welt uralter Geheimnisse eintreten würden.
Domenico zögerte, bevor er mir in die Kammer folgte.
«Keine Angst, Nicki», beruhigte ich ihn.
«Soll ich besser gehen?», fragte Sara leise, die offenbar begriffen hatte, dass es sich hier um eine heikle Angelegenheit handelte.
Ich nickte etwas zögernd. «Wenn es dir nichts ausmacht. Ich glaube, er möchte lieber allein sein.»
«Selbstverständlich. Ich bin unten, wenn ihr mich braucht.»
Zum Glück war sie so verständnisvoll.
Die Nachmittagssonne fiel durch das kleine Fenster und warf einen Lichtstreifen in das Zimmer. Dieser Lichtstreifen war vor wenigen Stunden noch nicht da gewesen.
Domenico folgte mir nun langsam ganz hinein. Ich wartete auf ihn. Er ließ sich Zeit. Ganz in Gedanken versunken stand er einfach da und schaute sich alles an. Ich wusste, dass in diesem Moment eine Menge in ihm abgehen musste. Und dass er sich nichts mehr wünschte, als diesen Augenblick mit seinem Zwillingsbruder teilen zu können.
Ich drängte ihn nicht. Ich setzte mich aufs Bett und wollte ihm einfach Zeit lassen, so viel er benötigte. Er stand lange beim Fenster und schaute einfach hinaus in die Sonne. Dann näherte er sich zaghaft dem Bett und richtete seinen Blick auf das Bild mit den Kindern und dem Engel. Ich erhob mich sofort und verdrückte mich in eine andere Ecke des Zimmers, um ihn nicht zu stören.
Er beugte sich vor und strich sachte mit der Hand über das Bild. Er nahm sich wirklich sehr lange Zeit, um es zu betrachten. Es war anzunehmen, dass dieses Bild eine besondere Bedeutung für ihn haben musste. Vermutlich hatten er und Mingo es immer angeschaut, als sie damals ganz allein in diesem Raum hier geschlafen hatten …
Schließlich wagte ich es, ganz vorsichtig an ihn heranzutreten. Er schreckte richtig zusammen, als er meine Gegenwart wahrnahm. Als würde er aus einem Tagtraum erwachen … und ich musste aus irgendeinem Grund fast weinen, als ich in seine Augen schaute. Warum hatte ich auf einmal so ein unbändiges Verlangen, ihn einfach in die Arme zu nehmen und an mich zu drücken?
«Ich habe noch zwei Sachen für dich», sagte ich, während ich wieder einen Schritt von ihm wegtrat. Insgeheim hatte ich mich zuerst für die Bibel entschieden. Denn das Bild, das ihn zusammen mit Mingo zeigte, würde eine ziemlich delikate Angelegenheit sein …
Ich zog die Bibel vom Regal und legte sie ihm in die Hände.
«Was ist das?», fragte er heiser.
«Mach sie doch einfach auf.»
Er öffnete vorsichtig die erste Seite. Seine Augen wurden ganz starr, als sie den Namen Suora Rosalia Lucia entdeckten. Er hob seinen Kopf und schaute mich fassungslos an.
«Mach weiter», forderte ich ihn auf.
Seine Finger zitterten, als er die nächsten Seiten umblätterte. Er schien erst nicht zu kapieren, worum es sich da handelte. Erst als er begriff, dass es quasi das Tagebuch seiner Pflegemutter war, ließ er das Buch wieder sinken und wandte mir erneut seinen Blick zu.
«Wo hast du das gefunden?», flüsterte er, und seine Stimme versagte fast.
«Sie lag hier in diesem Zimmer auf dem Regal», sagte ich.
Er schüttelte völlig von der Rolle den Kopf. Er schien sich fast nicht mehr zu trauen, seine Hände zu bewegen, als hätte er Angst, die Bibel aus irgendeinem Grund kaputtmachen zu können.
Er vertiefte sich völlig in die Seiten und schien die Welt um sich herum komplett zu vergessen. Ich beschloss, mich nun am besten ganz zurückzuziehen. Das war ein Moment, in dem er ganz allein sein wollte, das war mir klar. Also verließ ich das Zimmer, schloss leise die Tür und setzte mich auf die oberste Stufe der Wendeltreppe.
Ich wusste nicht, wie lange ich wartete, aber es konnte sich durchaus um eine Stunde oder sogar mehr gehandelt haben. Ich döste irgendwann ein, den Kopf an die Wand gelehnt, und erwachte, als Sara auf einmal wieder vor mir stand.
«Hallo», sagte sie. «Ich wollte nur mal nachsehen, ob alles klar ist mit euch. Ihr seid ja schon ewig lange hier oben.»
«Ja», erwiderte ich. Nun musste ich Nicki wohl oder übel stören.
Sachte öffnete ich die Tür und fand ihn am Boden kauernd, die Bibel vor sich aufgeschlagen. Er war ganz und gar in seine Lektüre vertieft und zuckte zusammen, als wir auf einmal vor ihm standen. Ich hatte erwartet, Tränen in seinen Augen zu sehen, aber seltsamerweise waren diese trocken. Wahrscheinlich war er einfach zu überwältigt, um das Ganze wirklich fassen zu können.
«Na, hast du was gefunden?», fragte Sara. Leider zerstörte sie mit dieser Frage diesen für Nicki so intimen Moment, aber sie konnte ja nicht wissen, dass man ihn manchmal wie Porzellan behandeln musste.
«Du kannst die Bibel übrigens behalten, Nicki», sagte ich. «Und ich habe noch was anderes gefunden.»
Ich bückte mich und zog das Bild hervor, das ich unter dem Bett verstaut hatte. Ich trat damit vor Domenico und hielt es ihm direkt unter die Nase.
Als er erkannte, was das war, riss er es mir regelrecht aus den Händen. Er setzte sich damit aufs Bett und starrte es einfach an.
«Soll ich wieder gehen?», fragte Sara. «Tut mir echt leid, ich wollte nicht stören …»
Ich nickte dankbar.
Dieses Mal blieb ich bei Domenico, als Sara die Tür hinter uns schloss. Ich setzte mich neben ihn und merkte, dass mir langsam aber sicher die Tränen hochkamen.
Wie gern hätte ich es gehabt, wenn das hier nun unsere Versöhnung gewesen wäre. Wenn man das alles, was mit Angel geschehen war, einfach hätte ausradieren können. Wenn Nicki wieder mein Nicki gewesen wäre, wenn Angel nie existiert hätte und wenn er nie mit ihr rumgemacht hätte. Und wenn auch diese Geschichte, die Janet mir erzählt hätte, gar nicht existieren würde …
Aber so war es nun mal nicht. Ich sah Nickis Schmerz, ich verstand seine innere Zerrissenheit und begriff auch immer mehr, warum er so war, wie er war … Aber ich konnte mich nicht einfach mit dem abfinden, was geschehen war. Ich konnte diese Wunde in mir nicht einfach übergehen, auch wenn ich es so gern getan hätte. Sie rumorte in meinem Inneren, sie meldete sich, sie folterte mich, sie riss mein Herz fast entzwei. Ja, ich wusste, dass mein Herz durch diese Sache mit Angel für immer einen Riss haben würde …
Sehr viel später gingen wir wieder hinunter und suchten Sara. Das Bild und die Bibel hatten wir mitgenommen. Sara hatte immer noch auf uns gewartet, die Gute! Wie nett von ihr. Sicher wollte sie doch auch irgendwann mal nach Hause … Es war mittlerweile später Nachmittag. Zu meiner Überraschung sprach Domenico sie nun direkt auf Italienisch an und stellte ihr eine Frage.
Sara nickte. «Ma sì, certo.»
Ich erfuhr, dass es sich um das Bild mit den zwei Kindern und dem Engel handelte, das Nicki ebenfalls gerne mitnehmen wollte.
Später, nachdem ich mich mindestens tausend Mal bei Sara bedankt hatte und wir auf dem Weg zurück zur Pizzeria waren, fiel mir auf, dass wir jetzt wieder allein waren, Nicki und ich. Nur wir zwei. Und dass ich mir überlegen musste, wie es nun weitergehen sollte mit uns. Wir hatten ja noch eine ganze Woche Ferien zusammen.
Er schwieg weiterhin, immer noch völlig in Gedanken versunken, und unter dem Arm trug er die beiden Bilder, während ich die Bibel hielt.
«Bist du froh, dass wir die Sachen gefunden haben?», fragte ich vorsichtig.
Er nickte abwesend.
«Ist alles klar mit dir?», fragte ich besorgt.
Er zögerte und nickte dann wieder.
«Jetzt weißt du auf alle Fälle hundertprozentig, dass du dir das nicht eingebildet hast.»
Doch er war einfach zu sehr damit beschäftigt, all das in sich drin zu verarbeiten, was er eben gesehen hatte, um mir antworten zu können. Ich schlug mir auf den Mund. Wie dumm von mir, einfach herumzuplappern in so einem Moment.
«Ich lass dich allein», flüsterte ich ihm zu und löste mich von ihm. Ich hatte beschlossen, zu der Stelle zu gehen, wo man über ganz Palermo blicken konnte.
«Nein, warte …», sagte er zu meiner Überraschung und wandte mir seinen Blick zu. «Ich möchte mit dir reden. Ich muss dir was sagen. Bitte …»