16. Schwertfischfang bei Nacht

Am nächsten Morgen brachen wir schon um neun Uhr auf, und Domenico hatte einmal mehr auf Schlaftabletten und den Tiefschlaf verzichtet, damit er auch zeitig wach war. Dafür musste er seinen Schlaf während der Busfahrt nachholen.

Er saß auf dem gegenüberliegenden Sitz und hatte seinen Kopf ans Fenster gelehnt. Ich wusste, dass er liebend gern meine Schulter benutzt hätte, doch er traute sich nicht. Er hatte für mich einen ganzen Beutel Antipasti und Panini mitgenommen, damit ich unterwegs ja nicht «verhungern» würde, doch er selbst aß nichts davon.

Jetzt, nach dem Gespräch mit ihm, tat die innere Wunde nicht mehr so weh. Doch ich fühlte, dass es in mir noch lange dauern würde, bis diese Bruchstelle geheilt sein würde. Bis ich Nicki wieder vertrauen konnte. Nicht, weil ich an seinen guten Absichten zweifelte, sondern weil ich einfach wusste, dass diese Instabilität seinen Charakter wohl noch lange prägen würde. Nüchtern musste ich mir eingestehen, dass Frau Galiani gerade in diesem Punkt Recht gehabt hatte.

Es war nun mal kein Leichtes, sich mit so einem Typen wie Domenico einzulassen. Er konnte mir vielleicht mehr geben, als ein sogenannt «normaler» Junge mir geben konnte. Aber er würde auch einiges mehr an Kraft und Geduld fordern.

Am Nachmittag waren wir bereits wieder in Licata. Domenico spendierte uns mit dem vielen Geld, das er nun hatte, ein Taxi, damit wir mit dem Gepäck nicht so weit laufen mussten.

Ich hatte ihn gefragt, was wir denn machen würden, falls seine Mutter und Bianca immer noch da waren. Er hatte nur vielsagend mit den Schultern gezuckt.

Als wir beim Haus von Zio Giacomo ankamen, war alles still. Das Haus war offen, und wir gingen vorsichtig hinein. Die Hunde schliefen in der Küche. Das Zimmer mit dem Stockbett war geschlossen, offenbar hielt der Zio wie üblich seinen Schlaf. Von Maria und Bianca war nichts zu sehen und nichts zu hören. Domenico warf einen Blick ins Schlafzimmer. Das Gepäck war jedenfalls nicht mehr da, und das Bett war sauber gemacht.

«Sie sind abgereist», stellte er erleichtert fest. «Jetzt kannst du ja hier in diesem Bett schlafen.»

Wir brachten unser Gepäck ins Haus, und Domenico verzog sich erst mal in die Küche. Etwas später brutzelte Öl in der Pfanne. Ich wusste, dass er sich beim Kochen am besten entspannen konnte.

Etwas später erschien Zio Giacomo. Er hatte uns offenbar gehört und war deswegen aufgewacht. Seine Augen funkelten richtig vor Freude, als er uns sah. Bestimmt war er traurig gewesen, dass wir einfach so sang- und klanglos abgereist waren. Er klopfte mir auf die Schulter, und ich fühlte, dass er mich bereits als einen Teil der Familie betrachtete. War ich das wirklich?

Etwas später saßen wir draußen in Zio Giacomos Garten um den Tisch und ließen uns von Domenicos Kochkünsten verwöhnen. Zio Giacomo erzählte, dass Maria und Bianca am Vortag abgereist waren. Sie verbrachten nun die nächsten Tage bei Marias Eltern und ihren Schwestern. Offenbar hatte sich Maria doch zu einer Versöhnungsgeste aufgerafft. An ihr sollte es also nicht scheitern.

Domenico und Zio Giacomo gaben sich beide Mühe, langsam und möglichst nicht Dialekt zu sprechen, damit auch ich mich ein wenig an der Unterhaltung beteiligen konnte. Aber es war trotzdem nicht einfach. Lesen und Schreiben war ein ganz anderes Ding, als zu verstehen und zu sprechen. Beim Lesen und Schreiben hatte man mehr Zeit zum Nachdenken. Zuletzt endete es doch wieder damit, dass Domenico mir eine Menge übersetzen musste.

Später am Abend half Domenico Zio Giacomo, alles für den Fischfang vorzubereiten, und kümmerte sich nicht mehr weiter um mich. Ich ahnte, dass er mich absichtlich in Ruhe ließ. Ich verbrachte den Abend damit, mich draußen am Hang auf einen Stein zu setzen und auf das endlos weite Meer zu starren.

Als ich müde wurde und mich schlafen legen wollte, brachte Domenico mich ins Bett. Er hatte alles für mich vorbereitet und frische Laken aufgezogen. Er deckte mich zu, wie er es immer gern machte, doch er gab mir keinen Kuss und berührte mich auch nicht. Er sagte mir nur, dass er beschlossen hatte, später mit Zio Giacomo zum Fischen aufs Meer zu fahren.

Ich schlief sehr unruhig und träumte in dieser Nacht von unserer Hochzeit. Nicki wartete mit dem Rücken zu mir vor dem Altar auf mich, doch mein Fuß steckte in einer Dornenschlinge fest. Als ich mich davon losreißen wollte, fiel ich vornüber auf mein Gesicht. Ich rappelte mich wieder hoch, und Nicki drehte sich zu mir um. Auf einmal verwandelte sich sein Gesicht in das eines Tigers, der seine spitzen Reißzähne fletschte, bereit, mich zu zermalmen …

Mit einem Schrei fuhr ich hoch.

Ach, ich hasste diese blöden Träume! Warum mussten sie immer so lebendig und realistisch sein? Hatte ich nicht mal in der Nacht Ruhe vor diesem elenden Schmerz?

Und dennoch gab es nur eines, das ich mir in diesem Moment wünschte … ich wünschte mir nichts mehr, als dass Nicki genau jetzt gekommen wäre und mich einfach in seinen Armen gehalten hätte.

Am nächsten Morgen fand ich das Haus immer noch leer vor. Domenico und der Zio waren wohl immer noch beim Fischen. Oder am Hafen, um die Fische zu verkaufen. Ich irrte erst ziellos im Haus herum, aß eine Kleinigkeit und machte mich dann auf den Weg zum Strand. Das Wetter war prächtig wie meistens, doch irgendwie machte es keinen Spaß, so ohne Gesellschaft zu sein … Ich hatte gar keine Lust, mit all diesen vielen Gedanken allein herumzuhängen.

Doch Domenico und der Zio kehrten erst gegen Mittag wieder zurück. Domenico machte uns allen etwas zu essen, und dann legten er und Zio Giacomo sich beide erst mal aufs Ohr. Und ich war wieder allein … Ja, Nicki hatte gesagt, er würde mich in Ruhe lassen. Aber ganz so einsam wollte ich nun auch wieder nicht sein …

Erst um fünf standen sie wieder auf. Zio Giacomo brauchte offenbar nicht viel mehr als vier Stunden Schlaf. Und kaum war Nicki wach, verschwand er schon wieder in der Küche. Irgendwie war das so was wie sein Zufluchtsort geworden.

Sehr vorsichtig gesellte ich mich nach langem Zögern zu ihm. Er war gerade dabei, ein paar Antipasti zuzubereiten, doch irgendwie schien er nicht recht bei der Sache zu sein. Er stand reglos da und starrte aus dem kleinen Küchenfenster, als ich zu ihm trat.

«Soll ich dir irgendwas helfen?», fragte ich.

Er drehte sich um. «Nee, lass mal …»

«Doch. Ich weiß sonst echt nicht, was ich mit mir anfangen soll.»

«Ich dachte, du möchtest allein sein …»

«Na ja … nicht so allein.»

Schließlich gab er mir ein paar Gurken zum Schneiden.

«Du, sag mal, kann ich heute Nacht mitkommen zum Fischen?», fragte ich, einer spontanen Eingebung folgend.

Er hörte wieder auf zu arbeiten und sah mich an. «Wird aber heute sehr anstrengend. Wir gehen auf Schwertfischjagd, das dauert die ganze Nacht.»

«Das macht nichts.»

«Ich weiß nicht, ob das 'ne Arbeit für dich ist», meinte er.

«Und warum nicht? Schließlich heiße ich Fischer.»

Mein Scherz entlockte ihm ein Grinsen.

«Okay, okay. Aber ist nicht gerade ein Zuckerschlecken. Braucht extrem viel Kraft und Geduld. Zio Giacomo ist jede Nacht da draußen, aber jede Nacht Schwertfische, das würde selbst ihn umbringen. Es dauert nur schon, bis die Leinen ausgeworfen sind. Und alles muss am Morgen fertig sein, damit die Fische dann direkt an die Händler verkauft werden können.»

«Spielt keine Rolle.» Ich merkte, dass er innerlich angebissen hatte. Ja, fast hatte ich das Gefühl, dass er sogar wollte, dass ich mitkam …

«Okay, ich frag den Zio nachher. Es bringt aber Pech, 'ne Frau mit an Bord zu haben. Alter sizilianischer Aberglaube …»

«Ja, vielen Dank auch!»

Das war alles, was wir miteinander redeten. Etwas später aßen wir wieder gemeinsam im Garten Abendbrot und schauten dem Sonnenuntergang zu. Domenico und Zio Giacomo plauderten nun sehr offen miteinander und lachten viel. Der Bann zwischen ihnen schien gebrochen zu sein.

Der Zio war einverstanden, dass ich mitkam, unter der Bedingung, dass ich nur dasitzen und nicht stören würde. Helfen konnte ich wohl sowieso nicht groß. Domenico sagte mir noch, dass der Zio gemeint hatte, dass eine Frau auf einem Fischerboot vom Bug pinkeln soll, damit es kein Unglück bringe, sie dabeizuhaben. Ob sie deswegen so gelacht hatten?

Am späten Nachmittag fuhren wir mit dem Auto zum Hafen. Wir hatten noch ein Stück zu gehen, ehe wir zu der Anlegestelle kamen.

Der Zio instruierte Domenico ausführlich.

«Wir müssen erst die lenze auswerfen, das dauert 'ne Weile», übersetzte mir Domenico. «Du kannst mir helfen, sie abzurollen und im Boot Ordnung zu halten.»

«Lenze?»

«Na ja, Leinen.»

«Und dann?»

«Wir müssen warten, bis es dunkel ist, sonst beißen sie nicht an. Sind ja nicht blöd. Dann ziehen wir sie von Hand ins Boot. So ein Tier kann über hundert Kilo wiegen», erklärte er.

«Ui.»

«Na ja, sag ich doch.»

Domenico wusste bereits, wie es ging. Man brauchte ihm solche Dinge nur ein Mal zu erklären, und schon konnte er sie. Er half mir, ins Boot zu steigen. Es war doch etwas wackelig; ich musste von der Mole aus hinunter auf das schmale Trittbrett am Bug steigen. Dann brachte er die Eimer mit den Ködern ins Boot. Sie stanken so fürchterlich, dass ich gegen den Drang, mich zu übergeben, ankämpfen musste.

«Setz dich einfach hin», sagte Domenico sanft, dem das anscheinend gar nichts ausmachte. «Ich mach das schon.» Er startete den Motor, nachdem Zio Giacomo Wasser, Konservengläser und Brot sowie Decken und eine Taucherbrille unten im Bug verstaut hatte. Ich spürte, dass Domenico das Ganze richtig Spaß machte. Zio Giacomo rief ihm ein paar Anweisungen zu. Der Motor knatterte so laut, dass ich hinter dem Steuerruder Zuflucht suchte.

«Wir müssen bis zu dieser Boje dort rausfahren», erklärte Domenico und schob mich beiseite. «Dort werfen wir die Leinen aus.»

Er schaffte es mühelos, das Boot in die richtige Richtung zu lenken. Er hatte sich die alte Mütze von Zio Giacomo aufgesetzt, damit ihm der Wind das Haar nicht dauernd ins Gesicht trieb. Zio Giacomo warf ihm einen anerkennenden Blick zu. Offenbar war er mit Nickis Navigationsvermögen sehr zufrieden.

Ich lehnte mich zurück und schaute in den Himmel. Er färbte sich langsam rosa und orange, der Abendstern funkelte bereits, und die Seemöwen versammelten sich vor der Küste und verdauten ihr Abendmahl im gleißenden Licht der untergehenden Sonne. Riesige Scharen saßen auf dem Wasser beisammen, gurrten und stoben in alle Richtungen davon, als Domenico mitten durch sie hindurchsteuerte.

Ich fühlte plötzlich wieder diese unerklärliche Geborgenheit, die mich in Nickis Gegenwart manchmal überkam. Diese tiefe Verbundenheit, diese innige Vertrautheit. Es war die reinste Folter, denn angesichts dieser Verbundenheit quälte mich auch diese Wehmut, die er durch die Geschichte mit Angel in meinem Herzen aufgebrochen hatte. Dieser Junge, den ich doch so sehr liebte – irgendwie schien er mir wieder so unerreichbar.

«Kann denn Zio Giacomo überhaupt davon leben?», fragte ich schließlich, als ich diese Emotionen kaum mehr aushielt. Ich musste mich irgendwie ablenken.

«Kaum», erklärte Nicki. «Er hat mir erzählt, wie schwierig es ist. Früher war das einfacher, aber jetzt muss man immer weiter raus, und das Mittelmeer ist eh fast leergefischt. Vom industriellen Fischfang kann man vielleicht schon leben, aber genau der macht ja alles kaputt.»

Zio Giacomo rief ihm etwas zu, und Domenico drehte das Boot etwas mehr nach rechts.

«Ist dir kalt?», fragte er schließlich.

«Ein bisschen», sagte ich. «Aber es geht schon.»

Die Sonne war mittlerweile untergegangen, der Himmel war blutrot, und es war zwar noch warm, aber auf dem Boot herrschte eine kühle, feuchte Brise. Domenico zog seine Jacke aus und warf sie mir zu. Ach, Nicki …

Ich schlüpfte in die Lederjacke, die ich schon so oft getragen hatte und deren Geruch mir so vertraut war. Domenico selbst stand mal wieder im ärmellosen Hemd da, aber er fror ja selten. Und wirklich kalt war es ja auch nicht, nur ein bisschen frisch, aber mir reichte das schon, um zu frieren.

«Kann er sich denn nicht eine andere Arbeit suchen?», fragte ich. «Eine, die weniger anstrengend ist?» Ich fand den Gedanken an eine Nacht auf dem Boot zwar wunderschön, doch ich konnte mir vorstellen, dass es auf Dauer wirklich extrem anstrengend und einsam war.

«Das will er nicht», sagte Domenico. «Er liebt seinen Beruf. Sein Vater – also mein Urgroßvater halt – war schon Fischer, und mein Ururgroßvater auch, und so weiter. Das liegt im Blut …»

«Und wie war's bei deinem Großvater? Zio Giacomo ist ja dein Großonkel …»

«Der hat bei 'ner Fischereigesellschaft im Norden gearbeitet. Er wollte Zio Giacomo auch dazu überreden, aber der wollte lieber hierbleiben. Dafür hat er halt kaum was. Siehst ja, in was für 'nem miserablen Zustand das Haus ist. Aber ihm ist das nicht so wichtig, sagt er. Solange er 'n Dach über dem Kopf, 'n Auto und 'n Boot und was zu essen hat, reicht ihm das. Seine Söhne unterstützen ihn, aber eigentlich will er das gar nicht. Er sagt, solange er noch kräftige Arme und keine Gicht hat, gibt er diese Arbeit nicht auf. Er meint, das Fischen sei seine Berufung. Außerdem ist es fast nicht möglich für ihn, einen anderen Job zu finden.»

«Du hast dich schon viel mit ihm unterhalten», stellte ich fest.

«Mhmm …»

«Ihr wart früher auch auf seinem Boot, du und Mingo, sehe ich das richtig?», fragte ich.

«Ja, aber nicht auf diesem. Ist ja schon lange her. Sein damaliges Boot war größer und hieß Marannina, wie seine Mutter …»

«Kannst du dich dran erinnern?»

«Ein bisschen. Zio hat es mir erzählt.»

«Es gibt ja ein Foto davon», sagte ich.

Domenico antwortete nicht darauf. Wir waren nun bei der Boje angelangt. Nicki schaltete den Motor aus und wartete, bis Zio Giacomo ihm weitere Anweisungen gab. Das Boot wippte im Wasser.

Der Zio rollte die erste Leine vorsichtig ab und passte auf, dass sie sich nicht verhedderte. Er brauchte Domenico nun nicht mehr viel zu erklären. Nicki wusste genau, was er zu tun hatte. Er ließ den Motor wieder an und hielt mit dem Steuer Kurs gen Westen, während der Zio die Haken ins Wasser ließ und immer wieder «stringi» oder «allarga» sagte. Ich nahm an, das bedeutete etwas wie links und rechts. Nach einiger Zeit schwenkte Nicki um nach Süden und später wieder in die Richtung, in der die Sonne untergegangen war. Es sah aus, als wollten sie die Leinen in einem großen Zickzack auslegen. Während der Zeit redete Domenico nicht viel und konzentrierte sich ganz darauf, dass die Leinen sich nicht im Steuerruder verfingen.

Ich blieb einfach still auf der Motorhaube sitzen und wartete. Das würde jetzt wohl eine ganze Weile dauern, es waren ja mehrere Dutzend Kilometer Leine mit Hunderten von Haken, die sie abzuwerfen hatten.

Die Wärme und das laute Brummen des Motors machten mich schläfrig. Ich fragte, ob ich Zio Giacomo beim Abwickeln der Leinen helfen könnte, aber er brummte nur etwas Unverständliches, also legte ich mich für eine Weile auf die Matratze in der Bugkoje.

Etwas später, als der Zio das Steuer übernommen hatte und Nicki sich am Heck nützlich machte, startete ich einen weiteren Versuch. Nicki zeigte mir, wie ich die Leinen schnell abwickeln konnte und sie ihm hinhalten sollte, aber das war gar nicht so einfach, wie es aussah. Man durfte keine Zeit verlieren, weil das Boot ständig weiterfuhr und die Leinen gleichmäßig abgeworfen werden mussten und nicht reißen durften.

Bald bekam ich vor der unbequemen Stellung Rückenschmerzen. Die Leinenrollen lagen auf dem Oberdeck, gleich neben den Eimern mit den ekligen Ködern, und ich musste mich zu allem Überfluss bei der Arbeit ständig zu der braunen Brühe hinunterbücken. Mir wurde richtig schlecht.

«Leg dich doch etwas hin, duci mia», sagte Domenico sanft, der meinen elenden Zustand bemerkte. «Es dauert noch 'ne Weile, ich weck' dich später, und dann essen wir was.»

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, verzog mich wieder in meine Koje und kuschelte mich in die alte, zerschlissene Decke, die der Zio mitgebracht hatte.

Als ich später wieder aufwachte, sah ich kleine Lichter wie Glühwürmchen am schwarzen Nachthimmel tanzen. Ich richtete mich auf und realisierte, dass es die Sterne waren. Etwas steif von der Feuchte kroch ich unter dem Bug hervor. Es war jetzt definitiv kühl, und der Wellengang machte mir etwas Sorgen. Würde das jetzt die ganze Nacht so bleiben?

Nicki und Zio Giacomo packten den Proviant aus, und ich musste beim Anblick der in Öl eingelegten Tintenfischarme leer schlucken. Ich hatte Hunger und mich eigentlich auf ein ordentliches Abendessen gefreut. Aber Nicki biss herzhaft zu und brach mir ein Stück Brot ab. Zio Giacomo musterte mich verschmitzt und sagte etwas. Domenico grinste und übersetzte: «Wenn du seekrank bist, sollst du 'nen Schluck Rotwein mit einem rostigen Nagel drin trinken, dann geht's dir gleich wieder besser.»

«Pfui bah.» Mich schauderte bei dem Gedanken. Ich versuchte, ein wenig Brot mit Oliven zu essen, und wartete, bis wir die Leinen einholen konnten. Ich hatte die ganze Zeit, in der ich mit Nicki hätte allein sein können, nachdem er und der Zio alle Leinen ins Wasser gelassen hatten, verschlafen. Jetzt war es schon nach ein Uhr, und nach dem Essen würde die eigentliche Arbeit beginnen. Das waren ja tolle Aussichten! Nicki hatte Recht gehabt: Das war wirklich enorm anstrengend!

Der Zio startete den Motor und fuhr langsam zu einer Boje mit Leuchtmarkierung. Er begann, die erste Leine einzuholen. Ich sah ihm an, dass es ein schweres Stück Arbeit war. Er konzentrierte sich völlig auf das, was er tat. Ich glaubte erst, dass da überhaupt kein Fisch dran war, als Domenico plötzlich nach vorne schnellte und seinem Onkel zur Hand ging. Der Zio schimpfte und schrie, und da sah ich einen riesigen Schwertfisch, der wild mit der Schwanzflosse auf und ab schlug und Nicki damit fast den Arm abschnitt.

Nach endlosen Augenblicken der Angst hatten sie ihn ins Boot gehievt. Ich verdrückte mich auf die andere Seite, während Nicki und der Zio den Fisch neben die Steuerkabine zogen und festbanden.

«Ein Prachtkerl, bestimmt hundert Kilo!» rief Nicki fröhlich. Ich sah ihm richtig an, wie glücklich ihn diese Arbeit machte. Er hatte auch seit Stunden nicht mehr geraucht – das war immer ein gutes Zeichen dafür, dass er sich entspannte. Ich schaute gebannt zu. Der Fisch glänzte in der Dunkelheit, und ich hatte mächtig Respekt vor ihm. Er war mit Schwert länger als ich selbst.

So dauerte das eine ganze Weile. Leere Haken, ab und zu ein kleinerer Fisch und dann plötzlich wieder Großalarm. Ich versuchte mich nützlich zu machen und das Steuer festzuhalten, wenn die Männer mit einem Schwertfisch zu Gange waren, aber ich war froh, wenn Nicki es mir sanft wieder aus der Hand nahm. Mir wurde das mit der Zeit echt zu stressig.

Am Horizont zeigte sich bereits der erste Streifen Tageslicht. Der Zio rief uns etwas zu, und wir gingen nachsehen, was er meinte. Eine Meeresschildkröte hing an einem der Haken und paddelte hilflos mit ihren Flossen.

«Wir müssen sie mit an Land nehmen, er kann den Haken nicht entfernen. Tierschützer werden sie am Hafen in 'ne Pflegestation bringen», erklärte mir Domenico.

Später hingen noch zwei Schildkröten an den Leinen und sogar ein kleiner Hai. Den warf Zio Giacomo aber, nachdem ich ihn eingehend studiert hatte, wieder ins Meer.

Am Horizont wurde es immer heller, und plötzlich tauchte die Morgensonne wie eine flüssige Goldmünze aus den kühlen Fluten der Dämmerung auf. Domenico hielt einen Moment inne.

«Die Sonne!», sagte er.

«Wunderschön», hauchte ich.

Nicki schien überhaupt nicht müde zu sein und holte unbeirrt die Leinen ein, während der Zio sich hinters Steuer stellte und eine Zigarette rauchte. Nicki zog noch drei weitere Schwertfische ins Boot, aber keiner war so groß wie der erste. Unterdessen hatten wir fünf Schwertfische, ein paar Makrelen und Seehechte, einen Hai und eben die drei armen Meeresschildkröten gefangen.

Es wurde nun rasch hell, und die Sonne stieg immer höher. Der Himmel verfärbte sich von Rosa zu Hellblau, und das Meer leuchtete auf einmal wie flüssiges Blei.

«Wunderschön», konnte ich nur wiederholen.

«Ja, gewaltig», sagte er leise. «Ich könnte es stundenlang anschauen.»

«Warum ist das Meer nur so unbeschreiblich schön?», fragte ich andächtig.

«Weil es sich bewegt», antwortete er knapp und nicht gerade romantisch. Aber irgendwie hatte er Recht …

Auf einmal erinnerte ich mich wieder an den Traum, den ich gehabt hatte, damals, bevor ich mich auf die Suche nach Nicki gemacht hatte. Ich schaute ihm zu, wie er dastand, aufrecht und hübsch, und wie die Sonne sein rötliches Haar beleuchtete. Doch ich wusste, dass es ihm im Herzen ebenso wehtat wie mir …

Ich erhob mich und ging langsam zu ihm. Nebeneinander standen wir nun da und schauten auf das leuchtende Meer. Ich hätte zu gern den Kopf auf Nickis Schulter gelegt, doch ich hielt mich zurück.

Wie konnte ich bloß immer noch so viel für ihn empfinden?

Er wandte mir sein Gesicht zu. Seine blaugrauen Augen sahen mich an, und etwas unglaublich Weiches lag darin.

«Bedda mi' … sag mal …»

«Ja?»

«Meinst du … könnten wir nicht …» Er brach ab. Er wagte nicht, es auszusprechen.

Ich holte tief Luft.

«Ich mein … könnten wir nicht … noch einmal dort anfangen, wo wir aufgehört haben?» Ich konnte richtig wahrnehmen, wie sein ganzer Körper pulsierte vor Aufregung. «Ich … ich weiß, dass … ich verlange ja auch nicht, dass du mir verzeihst … aber wenn du mir noch 'ne allerletzte Chance gibst, dann …»

Er konnte nicht zu Ende sprechen, da Zio Giacomo ihn nach hinten ans Heck rief. Ein Hai hatte die Schwanzflosse eines weiteren Schwertfischs übel zugerichtet. Ich schauderte, als ich den perfekten Abdruck des imposanten Gebisses sah, und musste mich gleich darauf wieder abwenden.

So hatte ich ein wenig Zeit, eine Antwort vorzubereiten …

Doch danach war keine Zeit mehr zum Reden. Die Leine war voller Fische, Plastiksäcke und anderem Abfall, der sich darin verfangen hatte. Sogar ein alter Schuh hing an einem Haken. Und eine ertrunkene Seemöwe, die mir natürlich sofort unendlich leidtat.

Domenico musste sich wieder ganz auf die Arbeit konzentrieren. Ein abgerissenes Stück Leine bereitete dem Zio Sorgen.

«Ein anderes Fischerboot muss in der Nacht quer durch unsere Leine gefahren sein», erklärte mir Nicki. «Du kannst nach dem sughero Ausschau halten, wenn du möchtest.»

«Klar, wenn du mir verrätst, was das ist.»

«Diese schwimmenden Dinger mit den schwarzen Fähnchen drauf.»

Ich suchte angestrengt den Horizont nach einem winzigen schwarzen Punkt ab. Es war aber dann doch der Zio, der ihn entdeckte, und ich fragte mich, wie er ihn hatte sehen können. Er musste ja Augen wie ein Adler haben …

An dem verloren geglaubten Stück Leine hingen noch zwei weitere Schildkröten und ein stolzer Thunfisch. Obwohl mir die vielen Tiere leidtaten, die wir eigentlich gar nicht hatten fangen wollen, spürte ich, dass der Zio sehr glücklich über den Fang war.

Zufrieden nahm er Kurs Richtung Hafen. Die Küste war so weit entfernt, dass ich zunächst nur einen staubigen Streifen am Horizont sah. Ich konnte es kaum erwarten, wieder festen Boden unter meinen Füßen zu spüren. Dieses Geschaukel brachte meinen immer noch ziemlich leeren Magen langsam ganz schön aus dem Gleichgewicht …

Mit wackeligen Beinen hüpfte ich schließlich an Land. Meine Glieder schmerzten. Ich wollte gar nicht daran denken, welchen Muskelkater ich am nächsten Tag zu ertragen gehabt hätte, wenn ich wie Domenico richtig mit angepackt hätte.

Am Hafen herrschte schon reges Treiben. Nicki brachte die Fische an Land. Ein paar junge Männer kamen herbei und bewunderten den großen Schwertfisch. Mit vereinten Kräften brachten sie das Tier auf die Waage. Es wog stolze hundertsiebzehn Kilo!

Zio Giacomo warf die letzten Fische, alle nach ihrer Art sortiert, in die eigens dafür bereitgestellten Plastikbehälter, um auch sie zu wiegen, und trug alles sorgfältig in sein Notizbuch ein.

Schon näherte sich der erste Käufer, und bald schon war das Geschäft in vollem Gang.

«Der Zio meint, es wäre ein guter Fang gewesen», sagte Domenico nicht ohne Stolz. «Und das, obwohl wir 'ne Frau an Bord hatten.» Er grinste verschmitzt. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und schaute auf das Meer, das langsam in der schon warmen Morgensonne zu glitzern begann. Die alte Mütze von Zio Giacomo saß etwas schief auf seinem Kopf, und das kupferfarbene Haar fiel ihm lang ins Gesicht. Unwillkürlich streckte ich die Hand aus und rückte die Mütze gerade.

Er lächelte ein wenig. Irgendwie machte er sich gut als sizilianischer Fischerjunge.

Als hätte er meine Gedanken erraten, sagte er: «Diese Arbeit würde mir echt Spaß machen. Schade, dass man davon kaum noch leben kann …»

«Du kannst ja in Berlin in der Spree fischen gehen», scherzte ich. «Und dort ein Fischrestaurant aufmachen.»

«Das ist nicht das Gleiche», flüsterte er. «Aber macht nix …»

Dann schien ihm bewusst zu werden, was ich gesagt hatte. Schüchtern schaute er mich wieder an.

«Ich geh nur nach Berlin, wenn du mitkommst», sagte er leise. «Wenn nicht, geh ich hierher nach Sicilia zurück …»

Ich holte tief Luft, und ohne dass ich es eigentlich beabsichtigte, lehnte ich mich an ihn. Etwas zaghaft legte er seinen Arm um mich.

Warum, warum nur liebe ich dich immer noch, Nicki?, dachte ich. So oft hast du mir wehgetan, so oft hat mein Herz wegen dir geblutet, so dass ich mir sehnlichst gewünscht hätte, ich könnte es endlich von dir lösen. Aber es geht nicht. Es will immer wieder zu dir zurück, mein dummes Herz, und ich verstehe es selber nicht …

Seine Hand strich sehr vorsichtig und sanft über meinen Arm, und es war, als könnte ich einen Augenblick lang mitten in sein Herz hineinkriechen.

Wenn du wüsstest, wie groß die Wunde ist, die ich mir selber zugefügt hab, Principessa … wie sehr sie mich foltert und wie sie blutet … und ich werde mich ewig dafür hassen, glaub mir. Wenn du mir noch eine Chance geben würdest, eine einzige … ich will nichts sehnlicher, als dich zu lieben und glücklich zu machen … ey, glaub mir … für immer mit dir zusammen zu sein, bis ans Ende unseres Lebens …

Und es kam mir in diesem Augenblick vor, als würde eine unsichtbare Hand unsere Herzen erneut zusammenflechten.

Ich wandte mich zu ihm.

«Wenn wir es nochmals versuchen, Nicki …», begann ich.

«Ja?»

«Können wir dann mit Pfarrer Siebold über die Sache reden?», bat ich. «Ich … brauch irgendwie auch Hilfe, um darüber hinwegzukommen.»

«Klar», meinte er leise und drehte mich behutsam zu sich. Etwas unbeholfen, als wäre es das erste Mal, streichelte er mein Gesicht. «Was immer du willst.»

Er machte eine Pause und fügte dann etwas verlegen hinzu: «Ich hab … Zio Giacomo schon davon erzählt …»

«Und?»

«Er hat mich einen Idioten genannt», sagte er. «'Nu scemu … un loccu … und er hat Recht …» In seinen Augen glitzerte es verdächtig. «Er hat so was von Recht.»

Ich ließ es zu, dass er mich vorsichtig an sich drückte und zaghaft küsste. Auch fast so, als wäre es das erste Mal.

Die Sonne wärmte unsere Gesichter, als sich unsere Lippen berührten. Ich wusste, dass wir zueinander gehörten, aber ich wusste ebenso, dass diese Wunde noch lange in mir brennen würde. Es war keine geringfügige Sache gewesen, die Nicki mir da angetan hatte, und er wusste es selber auch. Aber genauso wusste ich, dass sein Herz im tiefsten Kern aufrichtig war. Und ich genoss es, dass ihm richtig warm wurde, als er mich so nah an sich spürte.

Etwas später gingen wir zu Zio Giacomo, der gerade dabei war, die letzten Kunden zu bedienen. Domenico erklärte ihm etwas, und der Zio nickte.

«Ite, itevinne puru», sagte er mit einem Lächeln.

Domenico nahm mich an der Hand, und wir legten den Weg zu Zios Haus zu Fuß zurück. Nicki hatte etwas auf dem Herzen, und er druckste lange herum, ehe er es auszusprechen wagte.

«Sag mal … wirst du … wirst du das deinen Eltern erzählen?», fragte er leise.

Ich zögerte mit der Antwort, weil ich sie noch gar nicht kannte. Ich hatte mir das noch gar nicht so intensiv überlegt.

«Ich meine … wenn du es erzählst … dann wird dein Vater mich ziemlich sicher dahin schicken, wo der Pfeffer wächst», sagte er verlegen. «Dann … wird er dir garantiert auch nicht erlauben, nach Berlin zu gehen …»

Ja, da hatte er Recht. Ich brauchte ein paar Minuten Zeit, um mir das durch den Kopf gehen zu lassen. Die Sonne brachte mich langsam aber sicher zum Schwitzen, und ich fühlte auf einmal eine bleierne Müdigkeit in den Knochen. Der Körper rief nach Schlaf …

«Also, Paps muss es nicht unbedingt wissen», kam ich zu dem Schluss. «Aber … Mama … ich kann irgendwie keine solchen Geheimnisse vor ihr haben.»

Domenico antwortete nicht darauf, doch ich spürte, dass das genau die Antwort war, die er befürchtet hatte. Meine Mutter war ja auch so was wie seine Mutter, und er wusste, dass er damit nicht nur mir, sondern auch ihr grausam wehgetan hatte.

«Wir müssen es ihr ja nicht gleich erzählen», beruhigte ich ihn nach längerem Nachdenken. «Vielleicht können wir es ihr auch erst später sagen, wenn wir dann in Berlin sind …»

Er nickte nur und schloss einen Moment die Augen. Dann kam es leise aus seinem Mund: «Sag mal … willst du … willst du dich denn noch mit mir verloben?»

Ich zögerte wieder. Eigentlich wusste ich, dass mein Herz gar keine andere Wahl hatte, wenn ich es nicht zerbrechen wollte. Das heißt, natürlich hatte ich eine Wahl … aber es würde wohl der weitaus schmerzhaftere Weg sein, mich nicht mit ihm zu verloben …

Ich sah, wie ein Schatten über Nickis Augen huschte, als ich nicht sofort antwortete, und er drehte schnell seinen Kopf weg.

«Schon gut», murmelte er. «Du musst nicht.»

Das war eigentlich nicht die Antwort gewesen, die ich ihm hatte geben wollen, aber ich vermochte momentan überhaupt keine Antwort zu formulieren. Daher war ich froh, dass wir den Rest des Weges schwiegen. Als wir bei Zios Haus angelangt waren, waren wir beide so dermaßen müde, dass wir uns erst mal eine Runde aufs Ohr hauten. Wir hatten noch nicht einmal mehr Hunger.

Ich kuschelte mich in Nickis Arme, als wir uns zusammen aufs Doppelbett legten. Ich wollte einfach nur schlafen und mich von ihm halten lassen. Als ich nach einem tiefen Schlummer wieder erwachte, lag ich auf der anderen Seite, und Nicki hatte seine Arme von hinten fest um mich geschlungen. Sein Atem ging regelmäßig. Ich wollte ihn nicht wecken, also blieb ich ruhig. Seltsamerweise waren meine Augen ganz nass.

Auf einmal rührte er sich. Ich drehte mich zu ihm um.

«Chiangisti … ich mein, du hast geweint», flüsterte er.

«Ich hab geweint?», fragte ich verblüfft.

«Ja. Ich musste dich die ganze Zeit festhalten …»

«Echt?» Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Ich musste im Schlaf geweint haben, anders konnte ich mir die feuchten Augen auch nicht erklären. Allerdings erinnerte ich mich nicht daran, etwas Trauriges geträumt zu haben.

Nicki lag da und streichelte meine Wange. Ich wollte eigentlich so vieles sagen, doch ich schaffte es immer noch nicht. Und er spürte das.