Als ich am nächsten Morgen erwachte, hatte ich gleich das Gefühl, dass irgendetwas ganz neu geworden war. Ich schaute gleich als Erstes zu Domenico hinüber und sah, dass er immer noch tief schlummerte. Ich wollte ihn nicht wecken. Offenbar hatte er in dieser Nacht keine Alpträume gehabt.
Wir standen somit erst gegen Mittag auf, und als Nicki nach draußen ging, um eine Zigarette zu rauchen, blieb ich einen Moment allein und schaute aus dem Fenster zum Meer hinunter.
Maria und Bianca waren wieder weg, und Zio Giacomo war zum Hafen gefahren. So hatten Nicki und ich den ganzen Nachmittag für uns. Doch weil Nicki von dem Gespräch mit seiner Mutter innerlich immer noch erschöpft war, verbrachten wir die Zeit dösend draußen im Garten unter einem schattigen Baum.
Am Abend, nach dem Essen, hatte Domenico eine unverhoffte Überraschung für mich bereit.
«Zio Giacomo möchte morgen mit uns 'nen Ausflug machen», sagte er. «Hast du Lust?»
«Wohin denn?», fragte ich ahnungslos.
«Na, dorthin, wo du immer hinwolltest: nach Taormina.»
Ich riss verblüfft die Augen auf.
«Nach Taormina?» Hatte ich richtig gehört? Woher kam auf einmal der plötzliche Sinneswandel?
«Wieso?»
«Meine Mutter hat mich überredet», meinte er, immer noch etwas erschöpft. «Sie sagte mir, dass wir mit Zio Giacomo als Kinder zwei, drei Mal dort gewesen seien. Jedes Jahr, wenn dort Karneval war, ist er mit uns hingegangen. Mingo hat es immer so gefallen dort, sagte sie.» Er brach ab und starrte zu Boden, während mir schon wieder ein ganzer Kronleuchter aufging – ein Erlebnis, das ich die letzten Tage nun schon ein paar Mal gehabt hatte.
«Deswegen hat Mingo Taormina so geliebt», stellte ich fest. «Unbewusst konnte er sich eben doch dran erinnern.»
Domenico nickte leise.
«Und? Schaffst du es denn nun, ohne ihn hinzugehen?», fragte ich.
«Zio Giacomo meint, ich soll es tun», sagte er. «Er sagt, man muss immer genau das tun, wovor man sich fürchtet.»
Ja, ich spürte seine Furcht vor dem Ausflug, doch ich ahnte, dass der Zio ihn intensiv bearbeitet hatte, es zu wagen.
«Morgen ist ferma, das heißt, man darf dann nicht fischen», sagte er noch. «Zio Giacomo hat also frei. Wir fahren ganz früh los. Wir werden sicher mindestens drei Stunden benötigen.»
Ich freute mich riesig. So kam ich nun doch noch nach Taormina – zusammen mit Nicki. Gleichzeitig musste ich intensiv an meine Eltern denken. Sie standen ja auch vor einer Reise, einer noch viel größeren als ich. Mama stand vielleicht sogar schon bald vor der größten Reise, die es überhaupt gibt – ach, ich durfte gar nicht länger darüber sinnieren …
Ich nahm mein Handy und rief zu Hause an. Mama war am Apparat. Sie war total glücklich und erleichtert, meine Stimme zu hören. Aber sie machte mir auch ein paar Vorwürfe, weil ich mich fast nie gemeldet und die vielen SMS von ihnen nicht beantwortet hatte. Aber nun, wir vereinbarten, all das konkreter zu besprechen, sobald ich wieder daheim wäre. Für den Moment überwog bei uns beiden die Freude: Dem andern ging's gut!
Wir gingen zeitig zu Bett, damit wir am nächsten Tag auch früh aufstehen konnten. Nicki wollte unbedingt wieder bei mir schlafen. Und er wollte, dass ich an seiner Brust schlief, so wie einst Mingo …
Anscheinend half es ihm doch, auch wenn er es nicht so richtig zugeben wollte.
Es war Mittag, als wir in Taormina ankamen. Das Wetter war uns treu und versprach einmal mehr, herrlich zu werden. Domenico war auf der Fahrt recht still gewesen, und Zio Giacomo und ich hatten ihn in Ruhe gelassen.
Ich freute mich schon darauf, mit der Seilbahn zu fahren. Zio Giacomo parkte das Auto in einer abgelegenen Straße, damit wir nicht diese teuren Parkplatz-Gebühren bezahlen mussten.
«Nachts müsstest du mal mit der Seilbahn da rauffahren», sagte Domenico. «Das sieht so schön aus.»
«Wie eine Märchenstadt, was?», antwortete ich. Er hatte mir schon mal davon erzählt, und ich hatte es nie vergessen.
«Ja. Mingo war total verrückt nach dieser Seilbahn. Ich musste ständig Geld zusammenkratzen, damit er rauf und runter fahren konnte. Manchmal hatte der echt 'nen Knall … Aber die Typen da vom Betrieb wollten das nicht mehr, weil er die ganzen Touristen vergrault hat. Weißt ja, wie er immer rumgelaufen ist …»
Ich freute mich, weil er nun mehr über Mingo redete. Offensichtlich begann er langsam, den Verlust seines Zwillingsbruders zu verarbeiten.
Als wir mit der Gondel rauffuhren und ich über das Meer blicken konnte, dachte ich irgendwie, dass es schön wäre, wenn wir uns hier in Taormina verloben würden …
Während Domenico und Zio Giacomo sich über irgendwas unterhielten, schaute ich in Gedanken versunken aus dem Fenster.
Es traf sich gut, dass Zio Giacomo noch ein paar Bekannte besuchen wollte, und ich hatte sogar den Eindruck, dass er uns bewusst allein lassen wollte, Nicki und mich.
Domenico nahm meine Hand. «Komm, lass uns zur Piazza gehen, bedda mi'. Ich will dir was zeigen.»
Ich fühlte, wie seine Finger nervös vibrierten, doch er zündete sich keine Zigarette an. Er hatte unten bei der Seilbahn die letzte geraucht, und ich ahnte, dass er innerlich den Entschluss gefasst hatte, einen weiteren Anlauf zu starten, den Konsum zu reduzieren.
Bald schon schlenderten wir eng umschlungen durch die Gassen, und ich fühlte mich wieder fast wie früher. Mir war bald klar, dass Domenico Taormina wie seine Westentasche kannte. Logisch, er hatte ja auch hier mit Bianca und Mingo zusammen ein paar Wochen oder sogar Monate gelebt. Ich fühlte, wie sein Herz vor Erregung höher schlug, als er dieses und jenes wiedererkannte. Zweimal mussten wir sogar anhalten, weil Domenico auf dem Weg zur Piazza jemanden aus früheren Zeiten traf und sich mit ihm in eine kurze Unterhaltung vertiefte.
«Du kennst hier sicher viele Leute?», fragte ich.
«Ja, einige … und leider auch die Polizei.» Er verdrehte die Augen.
Wir schauten uns die vielen Schaufenster an, und Domenico konnte es nicht unterlassen, einen Abstecher in einen Laden voller sizilianischer Süßigkeiten zu machen.
«Jetzt kann ich mir das endlich mal leisten», sagte er. «Damals musste ich ständig mit geschlossenen Augen daran vorbeigehen, sonst wär ich noch draufgegangen vor Verlangen.»
Ich kicherte. Nickis Vorliebe für Süßigkeiten war nur zu gut bekannt.
«Mingo hat dann manchmal was geklaut für mich», gab er zu. «Ich wollte das ja nicht, aber er wollte mir halt 'ne Freude machen …»
Er schaute mich an, und es sah aus, als hätte er etwas auf dem Herzen, was er sich nicht zu sagen getraute.
«Soll ich dir zeigen, wo wir eine Zeitlang gewohnt haben?», fragte er leise. Ich nickte, aber ich wusste genau, dass es nicht das war, was er eigentlich hatte sagen wollen. Es kam mir eher vor, als wolle er damit nur Zeit schinden.
Trotzdem stimmte ich zu, weil ich natürlich unbedingt wissen wollte, wo Domenico, Mingo und Bianca gehaust hatten. Er hatte mir ja auch das bis jetzt verschwiegen.
Er führte mich durch die verwinkelten Gassen Taorminas. Wie wunderschön es hier war! Am meisten liebte ich natürlich die verschnörkelten Laternen, die überall an den Häusern hingen. Es sah hier wirklich aus wie in einer Märchenstadt.
Wir gingen immer weiter, stiegen steile Treppenstufen empor, zwängten uns durch enge Gässchen und bogen mindestens hundertmal um irgendeine Ecke. Dann, am Ende einer kleinen Gasse, fast ganz oben auf dem Hang, wo man schon weit über die Ebene blicken konnte, stand eine Häuserruine mit einer riesigen, verfallenen Terrasse. Davor ein verrostetes Tor mit der verwitterten Aufschrift Villa.
«Da!» Nicki deutete mit dem Zeigefinger darauf.
«Hier? In einer alten Villa?» Ich war erstaunt.
Domenico zog mich an der Hand durch das Tor. Die Tür der Villa stand offen und führte uns in ein verwittertes Treppenhaus. Der Holzboden knarrte gruselig unter unseren Füßen. An den Wänden prangten irgendwelche Graffiti-Zeichen. Eine gewundene Marmortreppe mit rostigem Geländer führte irgendwohin nach oben.
Es war außer dem Knarren des Bodens so still, dass ich mich beinahe ein wenig fürchtete.
«Fast wie ein Spukhaus», murmelte ich.
«Hab keine Angst», sagte Nicki. «Ich bin doch bei dir.»
«Und hier habt ihr tatsächlich gewohnt?»
«Ja. Die Villa ist schon seit Ewigkeiten verlassen. Komm mit. Es wird dir gefallen da oben. Musst wirklich keine Angst haben.»
Ich fürchtete, dass die Treppe nicht halten und zusammenbrechen würde, doch Nicki zog mich unbeirrt mit sich. Als wir Stufe um Stufe hinaufstiegen, sah ich rotbraune, eingetrocknete Flecken auf dem Marmor unter meinen Füßen.
«Ist das Blut?», fragte ich entsetzt.
«Mingo hatte sich an 'ner Scherbe verletzt», sagte er.
«Was? Dieses Blut ist – von Mingo?» Ich hielt inne und suchte Domenicos Blick, doch er sah mich nicht an.
«Mhmm», machte er nur und ging weiter.
Im oberen Stock sah es nicht viel besser aus. Einige der Räume waren wirklich restlos demoliert. Staub, Dreck, Verputzreste, Glasscherben, Holzlatten, staubige Bier- und Weinflaschen, tote Ratten und Kot übersäten die Böden. Mich gruselte es ziemlich. Nur ein einziges Zimmer war einigermaßen benutzbar, wenn auch hier an einigen Stellen ekliges Zeug rumlag. Es war der hellste aller Räume, und es war der Raum, in den Domenico mich nun führte.
«Hier. Da haben wir gehaust. Sieh mal. Unsere Betten sind sogar noch da. Na ja, zumindest ein Teil davon …»
Er deutete auf ein paar Überreste von trockenem Stroh.
«Ihr habt auf dem Stroh da geschlafen?» Ich wagte mich langsam näher.
«Na ja, wir konnten ja nicht auf dem harten Marmorboden pennen. Das war echt harte Arbeit, bis wir das alles zusammengetragen hatten.»
Ich sah mich um. Die eine Wand des Zimmers war vollständig herausgerissen worden, und man konnte direkt auf die große Terrasse treten, die wie eine riesige Plattform über die Ebene ragte. Die Balustrade war abgebrochen. Domenico reichte mir die Hand und führte mich hinaus.
Und als wir auf der Terrasse standen, kriegte ich mich vor Staunen nicht mehr ein. Man konnte über ganz Taormina sehen, über die Hügel, Felsklippen, Wälder und über das weite, tiefblaue Meer. Die Aussicht war noch fantastischer als in Monreale.
«Wow», hauchte ich.
«Schön, was?» Er trat neben mich und schlang den Arm um meine Taille. «Ist doch 'n Luxusheim. Wer hat schon so 'ne Terrasse? Und hier waren wir meistens ungestört. Keiner hat uns vertrieben. Wir hatten echt alles, was wir brauchten. Ich hab ja mit Malen ziemlich gut Kohle verdient.»
Ich wollte mir so gerne vorstellen, was Nicki, Mingo und Bianca hier alles erlebt hatten. Aber auch das war eine andere Geschichte, und sie musste noch warten.
«Es war 'ne echt geile Zeit», sagte er wehmütig. «Es war die letzte Zeit, wo wir so was wie 'ne richtige Familie waren, Mingo, Bianca und ich.» Er ließ mich los und trat etwas näher an den Rand. Ich wagte mich nicht weiter, weil ich nie ganz schwindelfrei war.
«Mingo und ich stritten auch kaum, weil wir den ganzen Stress nicht hatten», erzählte er weiter. «Er war selten auf Turkey, weil wir ja meistens genug Kohle hatten. Die Leute waren auch voll cool. Viele haben uns geholfen. Ich war ziemlich beliebt als Straßenmaler. Die Touristen wollten sich alle von mir zeichnen lassen. Und wir haben immer was zu essen gekriegt. Wir mussten selten klauen.»
Ich hörte ihm zu, staunend, dass er auf einmal so freimütig erzählte. Plötzlich schien er sogar regelrecht das Bedürfnis zum Erzählen zu haben.
Er drehte sich zu mir um und musterte mich. «Weißt du … Mingo hat damals immer von dir geredet. Er hatte dich so wahnsinnig gern. Du hast ihm irgendwie voll gutgetan. Und er war so froh, dass diese blöden Abszesse endlich weg waren. Die haben ihn immer so geschmerzt. Er meinte immer, dass ich dich eines Tages heiraten soll …»
Mein Herz fing an zu hämmern.
«Und dann hat er diesen Brief von deiner Freundin da gekriegt … von Manuela. Der war so völlig von den Socken, weil er ja noch nie 'ne Freundin hatte, und er wollte den ganzen Tag, dass ich ihm den Brief vorlese. Ich glaub, ich kann den jetzt noch auswendig», murmelte er kopfschüttelnd. «Er wollte immer ihren Namen schreiben lernen. Sieh mal dort hinten.» Er deutete mit dem Finger an die Überreste der Wand.
Ich trat zaghaft näher, und da sah ich es. In den weißen, abgebröckelten Verputz hatte jemand mit unbeholfenen Buchstaben «MANUELA» geritzt.
Ich stand da und starrte dieses ganz besondere Andenken an Mingo tief berührt an. Domenico gesellte sich zu mir.
«Das hat Mingo gemacht. Und er war ganz stolz, weil er das ganz allein geschafft hat.»
«Oh Nicki – darf ich ein Foto machen? Manuela wird aus dem Häuschen sein, wenn sie das sieht!», rief ich.
Er wich zur Seite, als ich den Fotoapparat zückte und ein Bild von der Hausmauer schoss. Aber er hinderte mich nicht daran.
Erst jetzt sah ich, dass Nicki sich verstohlen über die Augen wischte.
«Alles klar mit dir?», fragte ich besorgt. Ich trat noch einen Schritt näher an ihn heran und drückte ihm ein vorsichtiges Küsschen auf die Wange.
«Ich werde … ich werde wohl nie ganz drüber hinwegkommen, Maya», sagte er mit belegter Stimme. «Ich versuch die ganze Zeit, damit klarzukommen, aber … es tut immer noch so unglaublich weh, dass ich ihn verloren hab. Ich glaub, das wird hier drin immer bluten … und ich wünschte, er hätte das alles jetzt mit mir zusammen erlebt.»
«Ich weiß», antwortete ich leise. Ich dachte daran, wie es mir wohl gehen würde, wenn meine Mutter sterben würde. Ich wagte gar nicht mehr daran zu denken. Ja, irgendwie hatte ich es die ganze Zeit verdrängt.
Es würde der blanke Horror für mich werden …
«Ich finde, dass du dich echt tapfer hältst», sagte ich.
«Findest du?», meinte er leise.
Ich strich ihm das kupferbraune Haar aus der Stirn. «Ja, das finde ich.»
«Ich weiß nicht …» Er zuckte mit den Schultern.
«Nicki … glaubst du eigentlich an Gott? Ich meine … wirklich?», fragte ich unwillkürlich.
«Klar ... hab ich doch immer getan.» Er drehte sich wieder um und schaute über die weite Ebene. «Ich hab die ganze Zeit gebetet, dass er mir helfen soll, ein gutes Leben zu führen. Dass er mich von den Suchtproblemen befreien soll …» Als er sich wieder zu mir umwandte, rannen die Tränen über seine Wangen.
«Ich hab Hendriks Song nicht vergessen. Und auch das mit King David nicht. Nur … ich hab es nie geschafft, mein Leben wirklich auf die Reihe zu kriegen.» Er strich sich nun selber mit einer hektischen Handbewegung seine Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich bereits wieder selbständig gemacht hatten. «Ich spür zwar, dass irgendwas in mir drin sich verändert hat, etwas, das … so gern aus mir rauskommen will. Aber ich hab ständig das Gefühl, als läge ich unter Felsbrocken begraben oder so. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll …»
«Verstehe», sagte ich und trat sachte neben ihn.
«Ich glaub … ich bräuchte einfach 'ne richtige Familie, weißt du. Allein schaff ich das nicht wirklich. Als ich bei euch wohnte, kam ich so viel besser klar ... Ich bräuchte halt jemanden, der wirklich auf mich aufpasst und mir sagt, wo's langgeht ... so wie deine Mutter oder Pfarrer Siebold ... keinen Therapeuten oder Psychoheini, das bringt mir nix ... sondern 'ne richtig gute, starke Person. Einen Vater …»
«Du hast einen Vater, Nicki …»
«Ja, aber ich kann doch nicht nach Norwegen ziehen, Maya.»
«Schon klar.» Ich nickte.
«Aber ich kann auch nicht so weiterleben. Ich hab's doch schon längst satt, immer Mist zu bauen … ich hasse mich selber dauernd dafür …»
Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ja, Nicki brauchte wirklich Eltern, die sich um ihn kümmerten, und meine Mutter konnte diesen Part nur noch teilweise übernehmen …
Aber er brauchte ja nicht nur eine Mutter, sondern auch einen Vater.
«Trotzdem, Nicki … vergiss nicht die Geschichte von King David … er hat so viel Mist gebaut und so oft versagt, und trotzdem wurde er ‹ein Mann nach dem Herzen Gottes› genannt …» Etwas Besseres fiel mir im Augenblick nicht ein.
Er schüttelte nur den Kopf. «Das kann man von mir sicher nicht behaupten … Ich hab zu viel vergeigt.»
«Das stimmt nicht», hörte ich mich sagen. «Du hast auch so viel Gutes erreicht. Das musst du doch auch mal sehen. Du hast mir so viel geholfen.»
«Echt, hab ich das?»
«Na klar. Außerdem … vergiss nicht, dass Gott sich meistens die größten Versager aussucht. Ich glaube, er liebt unperfekte Menschen … natürlich nicht, weil sie die Dinge falsch anpacken … sondern weil sie ehrlich sind … weil sie nicht selber versuchen, perfekt zu sein, sondern weil sie sich eingestehen, dass sie Hilfe brauchen. Das heißt also, er liebt uns alle, weil wir alle unperfekt sind. Aber die meisten von uns haben eine Maske auf und tun so, als hätten sie alles im Griff, doch in Wahrheit … versagen wir alle. Und wir alle würden uns doch gern irgendwo an eine starke Schulter lehnen … und es spielt keine Rolle, ob wir nun kleine Fehler machen oder große … Ich glaube auch nicht, dass es kleine oder große Fehler gibt, es gibt einfach solche, die mehr Folgen haben als andere … Somit bin ich genauso ein Versager, Nicki, wenn du es so sehen willst …»
Ich war selber völlig verblüfft über meine Worte, vor allen Dingen, als ich spürte, dass ich damit ins Schwarze getroffen hatte.
Er grinste verlegen. «Ach, bedda mi', du bist einfach süß. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …»
Fast gleichzeitig streckten wir die Hände nacheinander aus und berührten uns. Doch ich war dieses Mal ein bisschen schneller und zog ihn an mich. Er ließ es geschehen und hielt mich mit seinen starken Armen fest. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter, während wir dastanden und einander liebevoll wiegten.
«Heißt das, du verzeihst mir meinen doofen Seitensprung?», fragte Domenico nach einer Weile schüchtern.
«Ja … das tu ich», sagte ich nach einer kurzen Denkpause. «Ich … ich hab auch Fehler gemacht, Nicki. Ich hab dir wehgetan, indem ich so oft rumgemeckert hab und dir nicht genug gezeigt habe, dass ich dich liebe …»
Er senkte seine Augen, und ich fühlte, wie er innerlich bebte.
«Ich war oft zickig und undankbar, dabei hast du dir so Mühe gegeben, nur damit es mir an nichts mangelt. Aber, um ehrlich zu sein … die Sache mit Angel … ja, sie tut mir immer noch weh, auch wenn ich dir verzeihe. Aber so ganz von heute auf morgen kann ich das nicht verdauen.»
Er nickte und strich meine Haare hinter die Ohren, um mich besser anschauen zu können.
«Ich will dir eines trotzdem noch sagen, Nicki: So etwas akzeptiere ich nie wieder. Niemals! Wenn ein Mann mich schlägt oder fremdgeht, dann ist für mich normalerweise Schluss. Ich weiß nicht viel, aber so viel weiß ich. Du hast mich ja nie geschlagen, aber ich will's trotzdem offen ausgesprochen haben! Ich kenne einige Frauen, die von ihren Männern geschlagen worden sind. Das geht für mich gar nicht. Bei meinen Eltern war das zum Glück nie der Fall. Und Fremdgehen – das hasse ich einfach. Ich würde es selber nie tun. Und ich möchte einen Partner, der's auch nicht tut. Aber eines muss ich noch anfügen: Als du das … mit Angel … gemacht hast, da waren wir beide weder verlobt noch verheiratet. Sind wir ja auch heute nicht. Von dem her gesehen warst du …»
«Ich werde Angel nie mehr sehen, Maya», sagte er. «Ich versprech's dir. Ich lösch auch ihre Nummer aus meinem Handy. Und wir gehen auch nie mehr nach Catania, wenn du das nicht willst … ich will sowieso lieber mit dir nach Licata zu Zio Giacomo gehen.»
«Ja, das wäre schön», sagte ich. «Siehst du, jetzt musst du dich nämlich nicht mal mehr von Sizilien trennen. Wir können jederzeit bei deinem Onkel Ferien machen.»
Er nickte, und ich wusste, dass ihn dieser Gedanke glücklich stimmte. Das war wirklich eine Lösung, die wir uns nicht mal im Traum vorgestellt hatten. Nun hatten wir einen wunderschönen Ort, wo wir jederzeit unseren Urlaub verbringen konnten. Und Domenico konnte immer wieder in seine Heimat zurückkehren und sie zu einem Teil seines Lebens machen, auch wenn er weiterhin mit mir in Deutschland leben würde.
«Hey Nicki … Gott ist doch so gut», sagte ich auf einmal. «Wer hätte je an diese Lösung gedacht? Siehst du denn nicht, dass er dich nicht fallen gelassen hat?»
«Stimmt …», murmelte er, sichtlich bewegt.
«Hey, nun haben wir das Puzzle endlich komplett.» Ich hatte auf einmal Lust, meine Arme in die Höhe zu strecken und zu tanzen. Ja, so war es wirklich … und das half auch mir, erneut Vertrauen für die Zukunft zu fassen. Viele negative Dinge und Prüfungen hatten mich manchmal beinahe zu Boden geworfen, hatten mich meines Vertrauens zu berauben versucht, hatten mich gebeutelt und mir tausend Rätsel aufgegeben – doch sie hatten mich nicht überwältigen können.
Gott hatte mich immer wieder zu sich gezogen.
Und nun stand ich immer noch hier, und ich war wieder bereit, erneut in den Kampf zu treten. Ich war bereit, von neuem zu glauben und zu vertrauen. Nein, ich würde mich nicht niederdrücken lassen, denn Glaube, Hoffnung und Liebe sind die stärksten Waffen, die es im ganzen Universum gibt, dessen war ich mir sicher.
«Was denn für'n Puzzle?» fragte Domenico erstaunt.
«Ach – Insiderspruch», antwortete ich. «Ich hab mir das selber immer so zurechtgelegt.»
Er schien nicht ganz zu kapieren, was ich meinte, aber er fragte nicht weiter. Es war auch nicht so wichtig.
«Lass uns runtergehen», drängte er plötzlich. «Ich … ich muss noch …»
«Darf ich noch ein paar Fotos von dem Ort machen?», bat ich. «Zur Erinnerung.»
«Lieber nicht», sagte er.
«Warum nicht?»
«Ich will es lieber so in Erinnerung behalten, wie ich es hier drin habe.» Er drückte seine Hand auf seine Brust.
Ich glaube, in diesem Moment verstand ich, warum er Fotos so hasste.
Fotos zeigen die Wirklichkeit. Bilder hingegen kann man so malen, wie man sie haben will. Mit Ölfarben oder mit Pinseln kann man die eigenen Erinnerungen so in seinem Herzen zurechtbiegen, wie sie einem am besten gefallen.
Mit Fotos geht das nicht …
Eine Weile später waren wir wieder unten im Städtchen. Wir traten aus einer schmalen Seitengasse hinaus direkt wieder in die belebte Hauptstraße.
Domenico führte mich durch die Menschenmenge. Er schien ein bestimmtes Ziel im Auge zu haben und verlangsamte auf einmal seine Schritte. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was er eigentlich wollte, und warf einen Blick in das Schaufenster eines Schmuckladens, an dem wir gerade vorbeischlenderten.
«Wollen wir uns Ringe kaufen?», fragte Domenico plötzlich.
«Jetzt?» Ich drehte mich verblüfft zu ihm um.
«Na klar. Ich hab doch noch ganz viel Kohle.»
«Ich weiß nicht …» Doch auf einmal dämmerte es mir. Das war es gewesen, was er im Sinn gehabt hatte!
Er lächelte verlegen, so dass die Grübchen auf seinen Wangen erschienen.
«Jetzt guck nicht so. Ich wollte dir immer 'nen Ring kaufen», meinte er.
«Aber …» Nickis Einfälle kamen für mich immer so plötzlich. Doch ehe ich protestieren konnte, zog er mich in den Laden hinein.
Und eigentlich wollte ich auch gar nicht protestieren …
Wir schauten uns die Ringe in der Auslage an, und Nicki bestand darauf, dass ich die Wahl treffen sollte. Das war gar nicht so einfach. Außerdem war der Schmuck nicht gerade billig. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Geld Domenico hatte. Ich wählte schließlich zwei schlichte Ringe, die nicht allzu teuer waren. Doch damit stieß ich bei ihm auf Protest.
«Spinnst du?», rügte er mich. «Wenn schon, dann was Richtiges! Ey … ich hab über tausend Euro, Süße!»
Er nötigte mich regelrecht, bis ich mir schließlich zwei aussuchte, die zusammen vierhundert Euro kosteten. Er würde nie vernünftig werden, nie im Leben! Aber ich bestand darauf, dass wir lieber Zio Giacomo noch etwas von dem vielen Geld geben sollten. Er brauchte es sehr.
Als wir etwas später bezahlt hatten und den Laden verließen, blieben wir unschlüssig stehen.
«Komm mit», sagte er und nahm mich wieder an der Hand. Er bahnte sich mit mir einen Weg durch die Menschenmenge, und schließlich standen wir auf der Piazza, die ich noch so gut in Erinnerung hatte und die mir schon damals so gut gefallen hatte. Schon dort hatte ich in meinem Herzen gespürt, dass das hier ein ganz besonderer Ort war …
Domenico zog mich quer über den Platz Richtung Aussichtsterrasse. Ich warf einen Blick auf die Straßenmaler und versuchte mir Nicki bei der Arbeit mit Pinsel und Staffelei vorzustellen.
«Und du hast also auch hier gesessen und hast hier gemalt?», fragte ich.
«Ja, praktisch jeden Tag. Mingo hat mir extra 'ne Staffelei zusammengebastelt. Ich kenn die alle noch.» Er grüßte einige der Straßenmaler mit einem Kopfnicken. «Allerdings war ich bei denen nicht so beliebt, weil ich ihnen die ganzen Kunden weggeschnappt hab …»
«Hast du denn nur Leute gezeichnet? Oder auch anderes?»
«Meistens Leute.»
«Ehrlich, dass du so gut zeichnen kannst, finde ich schon unglaublich. Weißt du, ich dachte, dass du das Talent ja vielleicht von Mamma Rosalia hast. Sie war doch deine Urgroßtante.»
Er antwortete nicht darauf. Wir waren beim Aussichtspunkt angelangt. Wie gut konnte ich mich an damals erinnern, als ich mit meinem Vater hier gewesen war und Domenico so schmerzlich vermisst hatte … Nie hätte ich mir damals ausgemalt, dass ich eines Tages mit ihm zusammen hier stehen würde.
Eine Weile lang genossen wir stumm die Aussicht über das saphirblaue Meer, an dem ich mich einfach nicht sattsehen konnte. Egal, wie viele Aussichtsplätze ich hier auf Sizilien schon besucht hatte – jeder war wieder anders und von neuem überwältigend.
«Zeig doch mal die Ringe», sagte Domenico plötzlich.
Ich kramte das Päckchen aus meiner Handtasche und reichte es ihm. Er nahm es, wog es nachdenklich in seiner Hand und öffnete es schließlich behutsam – und drehte mir den Rücken zu.
«Was hast du vor?» Ich schaute ihm über die Schulter.
Er sagte nichts und legte die beiden Ringe sorgfältig auf seinen Handteller. Er schaute sie eine ganze Weile lang an, als könnte er es selber nicht fassen, dass sie hier auf seiner Hand lagen.
Dann drehte er sich zu mir um, und ich wusste plötzlich, was er dachte.
Und ich dachte dasselbe.
Er nahm den kleineren Ring zwischen seine Finger und hielt ihn hoch. In seinen Augen leuchtete etwas auf.
«Gib mal deinen Finger», bat er.
Ich streckte meine Hand aus und schloss die Augen. Sehr behutsam berührte er mich und streifte mir den Ring über den Finger. Mein Herz pochte, als ich das kühle Gold an meiner Haut spürte. Ich öffnete die Augen wieder und sah meinen Ringfinger eine ganze Weile lang einfach nur an.
«Willst du dich mit mir verloben?», fragte Nicki sehr, sehr leise und schüchtern.
Ich nickte und wusste, dass ich in meinem Herzen die Frage schon längst beantwortet hatte …
«Principessa … ich versprech dir … du wirst nie mehr Angst haben müssen. Wir … wir werden in Berlin ganz neu anfangen, du und ich. Es wird keine Gangs mehr geben … keinen Tiger-X mehr … keine Mädchengeschichten mehr … nur noch du und ich.»
Ich spürte seine Aufrichtigkeit. Ich wusste, dass er all das, was er mir sagte, mit jeder Faser seiner Seele auch so meinte. Und doch – wie oft hatte er mir schon etwas versprochen, und später hatte ihn trotzdem seine Labilität wieder eingeholt? …
Ich musste trotz allem realistisch bleiben, das wusste ich.
Ich nahm ihm den anderen Ring aus der Hand. Er war nicht viel größer als meiner. Das lag daran, dass Nicki nicht sehr große Hände hatte. Ich nahm seine linke Hand und spürte, wie nervös er war. Seine Finger zitterten richtig, als ich ihm behutsam den Ring überstreifte.
Ich holte tief Luft, um ihm die Entscheidung mitzuteilen, die ich innerhalb der letzten beiden Tage gefasst hatte.
«Ich bleib bei dir, Nicki», sagte ich. «Ich bleib bei dir, selbst wenn du HIV-positiv sein solltest.»
Und im selben Moment wusste ich, dass ich dieses Versprechen wohl nicht mehr würde rückgängig machen können. Aber ich konnte eh keinen anderen Weg wählen, wenn ich meinem Herzen nicht Gewalt antun wollte. Wir hatten eine gemeinsame Geschichte, die uns zusammengeschweißt hatte. Unsere beiden Leben waren einfach ganz fest ineinander verflochten.
«Echt?», fragte er heiser, und ich sah Tränen in seinen Augenwinkeln glitzern. «Das willst du wirklich tun?»
«Ja», sagte ich mit fester Stimme. Dennoch musste ich einen Moment lang die Augen schließen. Du bist verrückt, Maya, du bist echt verrückt, schoss es mir durch den Kopf.
«Ich liebe dich», sagte ich, nachdem ich die Augen wieder geöffnet hatte.
Er streckte seine Hand nach mir aus und zog mich vorsichtig an seine Brust. Er bettete seinen Kopf auf meine Schulter, und ein tiefer Schluchzer entfuhr ihm.
«Ich liebe dich, Nicki», wiederholte ich. «Aber ich will einfach wissen, woran wir sind. Mach den Test – uns zuliebe.»
Eine Träne tropfte auf meinen Nacken, und dann noch eine. Ganze Rinnsale flossen aus seinen Augen und rannen in meinen Nacken. Ich hatte ihn wirklich noch nie so häufig weinen sehen wie die letzten Tage. Es war fast, als hätten wir die Rollen vertauscht, was das Weinen betraf. Aber es war gut. Es war bestimmt heilsam für ihn. Ich verknotete meine Hände hinter seinem Rücken und berührte meinen Ring, der fortan ein Teil meines Körpers sein würde.
Als er sich später wieder aufrichtete und seine Augen trocknete, sah ich ihn zum letzten Mal. Tiger-X, meine ich …
Langsam und entschlossen bewegte er seine Hände zu seinem Nacken hin und löste den Verschluss der Kette mit dem Tigerzahn. Er zog die Kette aus und hielt sie vor unsere Augen. Und dann, mit einer raschen Bewegung, holte er aus und schleuderte die Kette in hohem Bogen über die Terrasse, weit hinaus in die Ebene, wo sie irgendwo zwischen den Bäumen landete.
«Was machst du da?», rief ich überrascht.
«Es ist vorbei», sagte er ruhig. «Tiger-X gibt es nicht mehr …»
«Die Kette hat aber deiner Mutter gehört …»
«Ja. Genau deswegen. Tiger-X ist nun tot, verstehst du?» Er sah mich an, und obwohl sein Gesicht immer noch ein paar Tränenspuren zeigte, lachte er auf einmal, und es klang richtig befreit. «Ich bin nicht mehr Tiger-X, Maya. Verstehst du?»
Ich zuckte mit den Schultern. Ob ich es im Detail verstand oder nicht, war nicht so wichtig. Ich vermutete einfach, dass er mir damit sagen wollte, dass etwas, was ihn innerlich immer gefangen gehalten hatte, nun zerbrochen war und ihn freigeben musste …