19. Zukunftspläne

Wir saßen mit meinen Eltern zusammen im Wohnzimmer.

Die Sonne Siziliens schien immer noch in unseren Herzen, obwohl hier in Deutschland wieder mal so richtig trübes und graues Wetter war. Oktoberwetter eben …

Ich hatte mich in Domenicos Armen verkrochen, während meine Eltern lange schwiegen. Ich zitterte richtig vor Aufregung. Was würden sie über unsere Zukunftspläne denken?

«Tja, was soll ich da nun sagen?», antwortete Paps schließlich. «Es scheint mir, als hättet ihr beide bereits alles fest und eigenmächtig geplant. Du bist ja bald achtzehn, Maya, und ich habe nicht mehr lange was zu sagen. Dass ich nicht glücklich bin über diese Idee, dürfte dir hoffentlich klar sein. Und nach wie vor muss ich einfach sagen, dass mir das alles viel zu rasant geht. Eigentlich war ursprünglich mal die Rede davon gewesen, dass Domenico erst sein Leben in Ordnung bringt, bevor ihr überhaupt eine Beziehung habt. Okay – das hast du ja teilweise wirklich getan, Nicki. Doch jetzt seid ihr schon bei der Verlobung angelangt und wollt also zusammenziehen.»

«Es ist doch nur wegen … der ganzen Situation», erwiderte ich kleinlaut. «Weil Domenico von hier wegmuss. Und … und wegen Mama … Sonst müssten wir uns ja nicht so beeilen.»

«Lass mich mal zusammenfassen: Domenico hat immer noch keinen Schulabschluss, hat den Aids-Test immer noch nicht gemacht, kämpft nach wie vor mit Suchtproblemen und muss zudem Antidepressiva nehmen. Du, Maya, gehst noch zur Schule und hast noch nicht mal das Abitur in der Tasche. Findet ihr nicht, dass das eine denkbar schlechte Ausgangslage ist?»

Ich senkte meine Augen. Ich wusste ja, dass ich keine vernünftigen Gegenargumente hatte. Und auch Domenico hatte keine. Und die Geschichte mit Angel hatten wir natürlich verschwiegen …

«Wir wissen einfach, dass wir zusammenbleiben wollen», sagte ich kläglich. «Und dass wir uns lieben …»

Nun beugte sich Mama vor. «Ja, Maya, das wissen wir. Aber mit achtzehn hat man nun mal diese Lebenserfahrung in der Regel noch nicht. Es ist ganz normal, dass junge, verliebte Paare nicht objektiv urteilen können.»

Tja, es war ja klar, dass wir aus der Sicht der meisten Erwachsenen wie naive Kinder wirken mussten …

«Ich meine, das mit der Verlobung kann ich ja durchgehen lassen», ergriff nun Paps wieder das Wort. «Wenn ihr das so möchtet, wollen wir auch nichts dagegen einwenden. Eine Verlobung ist ja auch noch keine Verpflichtung. Wenn ihr von Heirat reden würdet, sähe die Sache schon nochmals anders aus. Nur – was die Sache mit dem Zusammenziehen betrifft, haben wir arge Bedenken, Esther und ich. Die Voraussetzungen dafür sind einfach nicht geschaffen, das muss man ganz klar sehen.»

«Aber wir kennen uns ja nun wirklich gut, Nicki und ich», kämpfte ich. «Wir haben so viel zusammen durchgemacht. Wir wissen genau, wo unsere Schwächen liegen. Wir haben ja auch schon so viel Zeit miteinander verbracht … wir … wir wissen, wie wir mit all diesen Dingen umgehen müssen …»

Domenico nickte zu meiner Unterstützung. Er selbst hatte noch kein Wort gesagt. Wir hatten es für klüger gehalten, wenn ich das Gespräch eröffnete und er sich dann einklinkte, wenn es nötig war.

«Ja, aber es ist ein enormer Unterschied, ob man sporadisch mal für ein paar Tage zusammen in die Ferien geht oder ob man den Alltag zusammen meistern muss», sagte Mama. «Außerdem muss ich noch was anfügen: Wir waren mehr als unglücklich, Maya, dass wir dich trotz deiner Versprechungen während eurer Sizilienreise fast nie per Handy erreichen konnten. Und glaub mir: Ich als Mutter habe natürlich schon gespürt, dass da einiges krumm lief und du mehrfach in Gefahr gewesen bist. Wir haben uns mehr als einmal überlegt, ob wir eine Vermisstenanzeige aufgeben und dich polizeilich suchen lassen sollten. Wir haben da ziemlich gelitten, das musst du schon auch sehen.»

Paps pflichtete ihr mit einem Kopfnicken bei.

«Gut, wir haben jetzt das Haus verkauft und gehen nun auf Weltreise», fuhr sie fort. «Und niemand weiß, wie … lange ich noch hier auf der Erde sein darf.» Sie schluckte und holte tief Luft. «Wir wissen beide, dass das nicht leicht ist für dich, Maya. Und natürlich möchten wir, dass du dir den Ort aussuchen kannst, wo du glücklich bist. Aber wir persönlich würden uns eigentlich für dich wünschen, dass du erst mal in einer lustigen WG ein paar tolle Erfahrungen sammeln und einfach mal unbeschwert dein junges Erwachsenenleben genießen kannst. Ich meine … ihr könntet ja durchaus in dieselbe Stadt ziehen, Nicki und du. Und wenn es Berlin ist, nun gut. Warum nicht? Aber zusammenziehen? Wir finden das einfach sehr früh, Maya. Vielleicht sind wir damit altmodisch, mag sein. Aber altmodisch hin oder her – wir persönlich glauben, dass es für eure Beziehung besser wäre, damit noch zu warten.»

«Ja, aber mit wem soll ich denn eine WG gründen?», fragte ich unwillkürlich. «Ich kenn ja in Berlin niemanden …»

Ich spürte, wie Nickis Muskeln sich zusammenzogen. Fast reflexartig drückte er mich fester an sich, als hätte er Angst, ich würde mich noch anders entscheiden.

Paps wandte sich nun an Domenico.

«Ich meine, ich begrüße deine Pläne für einen Neuanfang sehr, Nicki», sagte er. «Ich bin froh, dass du einsiehst, dass du aus deinem alten Umfeld wegmusst. Ich denke auch, dass es richtig ist, in eine andere Stadt zu ziehen. Nur – wie gedenkst du eigentlich, dich zu finanzieren?»

«Entweder über Jugendhilfe. Oder ich find 'nen Job. Das wär ja mein Ziel. Morten wird mich auch unterstützen. Das hat er mir ja versprochen …», antwortete Domenico.

«Und was ist mit dem Schulabschluss?»

«Den hol ich nach, sobald ich in Berlin bin.»

«Und mit dem Aids-Test?»

«Den auch …» Ich fühlte, wie Nickis Bauchmuskeln sich wieder anspannten. Seine Angst vor diesem Test war offenkundiger denn je.

«Und wie ernst ist dir das? Ich will dir nicht zu nahe treten, aber du redest nun wirklich schon lange davon», stellte Paps nüchtern fest.

«Ja, ich weiß … aber bis jetzt war einfach immer irgendwas los», antwortete Nicki. «Ey, ich brauch Ruhe und Zeit dafür, verstehst du? Ich hatte doch dauernd diesen Stress mit den Gangs …»

Paps ging nicht weiter darauf ein. Er tauschte einen Blick mit Mama, doch ich wusste nicht, was sie beide dachten.

«Und wie willst du eine Wohnung finden?», fragte er schließlich weiter.

Domenico zuckte mit den Schultern. «Weiß ich noch nicht, aber ich find immer irgendwas.»

«Ja, aber irgendeine Bruchbude möchte ich meiner Tochter nicht zumuten», stellte Paps klar. «Ich meine, wenn sie ausziehen möchte, werden wir sie natürlich finanziell unterstützen, keine Frage. Gut, ich könnte ein paar Beziehungen spielen lassen und vielleicht etwas Vernünftiges organisieren. Trotzdem gefällt es mir einfach nicht, euch beide in Berlin auf euch allein gestellt zu wissen.»

Ich drehte gedankenverloren den Ring an meinem Finger. Ich hatte ja geahnt, dass es schwierig werden würde.

Mama beugte sich hinüber und sagte etwas zu Paps. Sie redete so leise, dass ich es nicht verstand. Paps nickte.

«Wir wären gern ein paar Minuten allein», wandte sie sich schließlich wieder zu uns. «Wärt ihr so lieb und würdet ihr uns allen in der Zwischenzeit einen Kaffee machen und den Kuchen anschneiden? Danach reden wir weiter.»

«Okay.» Domenico stand auf und zog mich an der Hand hoch. Wir verließen das Wohnzimmer und gingen in die Küche.

«Ich wusste, dass es Troubles geben würde, Nicki», tröstete ich ihn, als er wortlos die Tassen rausstellte und die Kaffeemaschine in Betrieb setzte.

«Ach, ich weiß nicht … mir vertraut ja eh keiner», murmelte er frustriert.

Etwas später saßen wir mit Kaffee und Kuchen wieder im Wohnzimmer. Meine Eltern sahen uns an. Ihre Gesichter wirkten, als hätten sie einen Entschluss gefasst. Ich war so nervös, dass mein Magen sogar den Kuchen verweigerte.

«Also gut», eröffnete Paps wieder das Gespräch. «Da wir ja wissen, dass wir euch das eh nicht verbieten können, haben wir nach einer Lösung gesucht, die hoffentlich allen ein bisschen entgegenkommt.»

Eine Lösung? Ich tauschte mit Domenico einen Blick.

«Ich meine, sobald Maya achtzehn ist, ist sie ja eh volljährig und darf ihre eigenen Entscheidungen treffen. Da dürfen wir auch gar nicht mehr reinreden. Trotzdem möchten wir als Eltern wenigstens gern unsere Wünsche anbringen. Dürfen wir das?» Er sah dabei uns beide an, Nicki und mich.

Wir nickten zögernd, während unsere Hände sich aneinander festklammerten.

«Also, dass ihr beide euch liebt, haben wir ja, wie bereits früher mal gesagt, mittlerweile akzeptiert. Und wir wissen auch, dass man jungen Leuten manchmal keine Vernunft eintrichtern kann. Sie müssen offensichtlich selber ihre Erfahrungen machen und selber auf die Nase fallen. Fazit: Uns wäre die Lösung mit einer Mädchen-WG für Maya eindeutig am liebsten. Aber gut, wir sehen schon, dass ihr euch das mit der gemeinsamen Wohnung bereits ziemlich fest in den Kopf gesetzt habt. Wir hätten daher wenigstens einen Vorschlag.»

Wir warteten gespannt. Mama hielt sich wie so oft zurück und ließ Paps die sachlichen Dinge klären.

«Es gäbe da zum Beispiel die Möglichkeit, für euch eine betreute WG in Berlin zu suchen. Wo ihr …»

«Nein!», warf Nicki sofort ein, und sogar ich erschrak über seinen barschen Tonfall. Paps hielt inne und sah ihn einigermaßen perplex an.

«Nein. Nicht 'ne betreute WG! Nicht schon wieder! Ich hab die Nase echt gestrichen voll davon, ehrlich. Wo uns ständig wieder so ein Sozialheini auf den Füßen rumtrampelt und kluge Reden schwingt! Ich kann das nicht mehr! Ey, ich bin neunzehn! Ich bin erwachsen! Echt, ich möchte jetzt auch mal mein eigenes Leben führen, ohne dass mir ständig einer Vorschriften macht!»

«Es geht nicht in erster Linie um dich, Nicki», versuchte Mama ihn zu besänftigen. «Es geht vor allen Dingen um unsere Tochter. Wir möchten einfach, dass sie einen Ansprechpartner hat, falls es irgendwelche Schwierigkeiten geben sollte.»

Domenico sprang wie von der Tarantel gestochen auf. «Ey, jetzt rechnet ihr schon wieder damit, dass ich nur Mist bauen werde, ist es nicht so? Dass es schlimmer als schlimm kommt. Ich hab ja überhaupt keine Chance, überhaupt mal etwas richtig zu machen!», presste er gequält hervor.

«Das stimmt nicht, Nicki …», wollte Mama ihn beruhigen, doch er hatte schon die Flucht ergriffen und stürmte aus dem Wohnzimmer. Ich hörte ihn die Treppe in mein Zimmer hinaufrennen. Gleich darauf schlug er oben die Tür zu.

Meine Eltern sahen mich betrübt an.

«Das wäre eigentlich die Bedingung, die wir gern an ihn gestellt hätten», sagte Mama leise. «Wir wären einfach ruhiger, wenn wir euch in einer betreuten WG wüssten.»

«Ja, ich seh den Punkt …» Ehrlich gesagt fand ich die Idee mit der betreuten WG gar nicht mal so verkehrt. Und mir war auch klar geworden, dass meine Eltern uns damit einen gewaltigen Schritt entgegenkommen wollten. Aber ich verstand ebenso, dass Nicki nach all seinen Erlebnissen die Schnauze voll hatte von Sozialarbeitern und Therapeuten.

«Ihr hättet ja trotzdem eure Freiheiten», sagte Mama. «Es ist ja nicht so, dass euch ständig jemand auf die Pelle rücken würde.»

«Wir sind halt einfach skeptisch, was Nicki angeht», war Paps wieder an der Reihe. «So leid es uns tut. Das lässt sich nicht ändern. Wir zweifeln ja nicht an seinen guten Absichten. Wirklich nicht. Ich bin ihm auch sehr, sehr dankbar für alles, was er uns geholfen hat in dieser schweren Zeit, die wir als Familie durchlebt haben. Trotzdem, wir wissen halt, dass er labil ist und die Dinge, die er sich vornimmt, nicht immer so einfach umsetzen kann. Da kann er ja nichts dafür. Es ist halt einfach so.»

Ich seufzte innerlich. Wenn jemand das wusste, war ich es ja … und ich hatte ein richtig schlechtes Gewissen, dass wir meinen Eltern nichts von der Sache mit Angel erzählt hatten.

«Es wird immer wieder Dinge geben, die ihm Stress bereiten», sagte Mama. «Er kann deswegen nicht ständig alles aufschieben. Er muss einfach lernen, mit Stress umzugehen. Wir sind ja wirklich bereit, ihm diese Chance zu geben, auch wenn wir unsere eigene Meinung haben, was das Zusammenziehen betrifft. Aber uns als Eltern würde es sehr entlasten, wenn wir euch unter Betreuung wüssten. Ich habe … selber sehr viele Sorgen, das weißt du, und ich möchte mich nicht auch noch um meine Tochter sorgen müssen. Vielleicht kannst du das Nicki mal so rum erklären. Ich denke, das wird er verstehen …»

Ich musste eingestehen, dass meine Eltern Recht hatten.

«Noch etwas wäre uns wichtig», schaltete sich Paps wieder ein. «Wir fänden es in jedem Fall sinnvoll, wenn du ein eigenes Zimmer ganz für dich allein hättest.»

«Es wäre wichtig, dass du deine Rückzugsmöglichkeiten hast, Maya», pflichtete ihm Mama bei. «So dass du auch mal Freundinnen zu dir einladen kannst oder dir Zeit für dich selbst nehmen kannst. Oder dich zurückziehen kannst, wenn Nicki mal wieder seine schwierigen Phasen hat. Weißt du, so eine Zweierkiste kann sehr schnell ziemlich eng und bedrückend werden.»

«Ja, und um ganz ehrlich zu sein, hoffen wir nach wie vor ein bisschen, dass du dir trotz allem auch noch ein paar andere junge Männer anschauen wirst», war die Reihe wieder an Paps. «Du wirst in deiner neuen Schule und später auch im Studium sicher noch sehr viele interessante Männer kennenlernen. Wir finden, dass du dir diese Möglichkeiten trotz allem offen lassen solltest, Verlobung hin oder her. Denn seien wir ehrlich: Mehr als den Hauptschulabschluss wird Nicki nicht nachholen können. Und dann muss er eine Lehrstelle finden. Und wer wird ihn einstellen mit seiner Vergangenheit? Die Spuren sind ja nicht zu übersehen. Er wird es schwer haben, einen anständigen Beruf zu erlernen. Am Schluss werden ihm möglicherweise nur schlecht bezahlte Hilfsjobs bleiben. Er wird kaum genug Geld verdienen, um eines Tages eine Familie zu ernähren. Und er wird sich dir immer unterlegen fühlen. Ich hoffe, dass dir diese Dinge im Lauf der Zeit noch bewusst werden, Maya.»

Ich schloss die Augen. Das wusste ich ja alles selbst … Aber getrennte Zimmer? Ich hatte mich doch insgeheim so darauf gefreut, mit Nicki zusammen mein Leben zu gestalten, den Alltag zu meistern und viele romantische Stunden mit ihm zu verbringen. Und in seinen Armen zu schlafen …

«Aber vergiss nicht, dass Nicki doch auch eine gutsituierte Familie in Norwegen hat, Martin», wandte Mama zu meiner Erleichterung ein. «Von daher gäbe es in dieser Hinsicht vielleicht mehr Hoffnung, als wir ahnen. Es gibt da etwas anderes, das mir mehr Sorgen bereitet …»

Im selben Moment hörten wir in Paps' Arbeitszimmer das Telefon klingeln. Paps entschuldigte sich und erhob sich. Ich war ganz froh, ein paar Minuten allein mit Mama zu haben. Aber was war es denn, das ihr Sorgen bereitete?

Sie sah mich mit ihren braunen Augen an, die den meinen so ähnlich waren. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, mein eigenes Ich in ihrem Gesicht zu sehen – nur einige Jahre älter.

«Du weißt, dass ich die Geschichte mit Tommy nie ganz verdaut habe», flüsterte sie leise. «Tommy ist an einem Leberversagen gestorben, und er ist keine Dreißig geworden … und er war Nicki in vieler Hinsicht so ähnlich.»

Ich schnappte nach Luft, und es war, als ob ein Dolch sich durch meinen Magen bohren würde. Ich wusste, was sie mir sagen wollte …

«Ich mache mir oft Gedanken über Nickis Gesundheitszustand, weißt du», sagte sie leise. «Seine bereits so ruinierte Lunge, all die Medikamente und Schlaftabletten, die er nehmen muss … und wir wissen noch nicht einmal, ob er HIV-positiv ist oder nicht.» Ich sah, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. «Ich habe einfach Angst, dass du das Gleiche durchmachen musst wie ich, Maya», flüsterte sie. «Ich habe Angst … ja, ich habe manchmal Angst, dass Nicki auch nicht sehr alt werden wird.»

«Bitte sag nicht so was», stöhnte ich. In mir drin brannte alles vor Schmerz. Auch das war eine Sache, die ich ja im Prinzip immer gewusst, aber vehement verdrängt hatte.

«Ich würde dir gern was anderes erzählen», sagte sie traurig. «Aber es ist nun mal eine Realität, die du in Betracht ziehen musst. Deswegen legen dein Vater und ich dir ja so sehr ans Herz, dich nicht nur auf Nicki zu fixieren.»

«Ich liebe ihn, Mama …», murmelte ich verzweifelt.

«Ja, ich weiß, Kind …» Sie seufzte. «Und letzten Endes musst du die Entscheidung ja selber treffen. Wir können dir nur Ratschläge geben …»

Als Paps nicht mehr zurückkam, sagte Mama: «Geh besser mal rauf und sieh nach Nicki. Und sag ihm, dass wir ihm für diese Lösung mit dem betreuten Wohnen sehr, sehr dankbar wären.»

Domenico lag oben in meinem Zimmer auf dem Bett und starrte an die Decke. Er richtete sich sofort auf, als ich eintrat.

«Nicki …», flüsterte ich und setzte mich zu ihm auf die Bettkante. «Alles klar mit dir?»

«Nee … sorry, irgendwie geht's mir echt langsam auf den Keks, dass dein Vater immer irgendwo 'nen Anstandswauwau für uns auftreiben muss», knurrte er. «Immer muss irgendwo ein Erwachsener rumkurven, der auf uns aufpasst. Ich mein … wär ja okay, wenn's so ein Typ wäre wie Pfarrer Siebold … aber ich will mein Leben echt auch mal selber bestimmen können, ohne immer irgend so 'nen Typen um Erlaubnis fragen zu müssen, was ich machen darf und was nicht.»

«Verstehe ich ja … aber meine Eltern wären einfach beruhigt, wenn wir …»

«Nee, Süße. Ich mag einfach nicht mehr. Ständig diese Sozialarbeiter, die mich an der Hand nehmen und mir genau vorschreiben wollen, was ich zu tun habe und wie ich es machen muss. Ey, jetzt hab ich mich endlich mal drauf gefreut, dass ich bald frei bin von all diesen Kontrollfreaks, wenn die Bewährungszeit rum ist, und jetzt will dein Vater uns schon wieder so einen vor die Nase setzen. Ehrlich, ich kann nicht mehr! Jetzt wird wieder alles vorgekaut! Dabei wollte ich doch selber 'ne schöne Wohnung für uns suchen, wollte sie toll einrichten für uns. Ich hab mich so darauf gefreut, ey. Wenn wir in so 'ne blöde betreute WG müssen, wird uns doch wieder alles genau vorgeschrieben. Wann du Besuch haben darfst, von wem du Besuch haben darfst, wo du das Bett hinstellen darfst und wo nicht, was du alles haben darfst und was nicht … du wirst sehen! Ich kenn diese Anstalten. Ey, nee, danke.»

Ich seufzte. Irgendwie stand ich voll zwischen Domenico und meinen Eltern.

«Nicki, ich verstehe dich, aber ich glaub, wir müssen jetzt einfach vernünftig sein. Du kennst meinen Vater. Und – ganz Unrecht hat er nicht, wir sind beide noch sehr jung. Mir ist es halt auch wichtig, dass meine Eltern ruhig und ohne weitere Sorgen auf ihre Reise gehen können. Für die Gesundheit meiner Mutter würde ich alles tun, verstehst du? Und es würde ihr helfen, wenn sie mich gut aufgehoben wüsste.»

Das war das Stichwort, das sein Herz erweichte.

«Okay, okay», murmelte er. «Na schön. Wir haben wohl keine andere Wahl. Wegen deiner Mutter halt. Ist mir schon klar. Will ja auch nicht, dass sie sich Sorgen macht. Und wenn es ihr und dir hilft … na gut. Von mir aus.»

Ich war erleichtert, dass ich ihn mit diesem Argument hatte umstimmen können. Doch insgeheim ahnte ich, dass es für Nicki nicht einfach werden würde, Paps' Bedingungen vorbehaltlos zu akzeptieren. Ich wusste genau, dass er wieder irgendwelche Wege suchen würde, um diesen Kontrollen zu entgehen. Tiger-X ließ sich nun mal nicht einsperren. Dafür hatte er zu lange auf der Straße gelebt …

Andererseits … Tiger-X war ja nun angeblich tot. Und die Kette lag irgendwo in Taormina zwischen den Bäumen und den Felsen begraben.