2. Der letzte Schultag

Ich fühlte die Blicke meiner Klassenkameraden wie piksende Nadeln in meinem Nacken.

Ich spürte förmlich, wie sie sich tausend Fragen stellten. Wie sie neugierige Gedanken in ihren Köpfen wälzten und drehten und sich eine ganz eigene Geschichte zusammenreimten – eine Geschichte, die nicht der Wahrheit entsprach, weil sie die Wahrheit gar nicht wirklich wissen wollten. Sie hatten kein Interesse daran zu erfahren, wie die Situation wirklich war, sondern sie wollten sich ihre eigene Wahrheit zurechtbiegen, eine Pseudo-Wahrheit, die bequem war, weil sie ihnen den Freipass gab, sich selbst nicht in Frage stellen zu müssen.

Ich wusste, dass viele Gerüchte über mich kursierten, warum ich die Schule verließ. Erstaunlich viele Gerüchte für jemanden wie mich, die ehemalige Miss Unsichtbar. Gerüchte, die es gar nicht geben könnte, wenn man wirklich unsichtbar wäre.

Aber das war ich eben nicht. Auch wenn ich die letzten Wochen von der Klasse nur mit eiskaltem Schweigen bedacht worden war, so als würde ich gar nicht existieren.

Aber in Wirklichkeit war ich eine kleine Berühmtheit in der Schule. Fast jeder kannte meinen Namen, und die meisten wussten inzwischen, dass ich mit dem berüchtigtsten «Gangster» der Stadt befreundet war – mit Tiger-X, dessen Name eigentlich nie an unserer Schule hätte bekannt werden dürfen. Aber nach seinem Weggang hatte diese Bezeichnung irgendwie doch die Runde gemacht und war nun in aller Munde. Tiger-X, der gefährliche Bandenführer und Drogendealer, dessen wirklicher Name inzwischen in Vergessenheit geraten war.

Doch Domenico, mein Nicki, war nichts von alledem. Er war weder Bandenführer noch Drogendealer. Diese Zeiten waren vorbei. Er war nur der ehemalige Straßentiger, der sich nach vielen, vielen Strapazen endlich nach Ruhe und einem warmen «Nest» sehnte.

Ach, warum mussten die Leute immer jeden Schrott glauben, ohne selber nach der Wahrheit zu forschen? Warum machten es sich die meisten so bequem und plapperten einfach alles nach, was sie hörten?

Ja, es wurde wirklich höchste Zeit, dass ich hier die Fliege machte. Heute war mein letzter Schultag, und ich hatte niemandem gesagt, warum ich wegging. Ja, ich hätte ihnen die Wahrheit erzählen können, aber ob sie sie mir wirklich geglaubt hätten? Isabelle hatte zu viel Macht in der Klasse, und sie hatte die Fakten bereits so verdreht, dass alles, was ich zu entgegnen versucht hatte, nur noch kläglich im Abseits gelandet war. Also hatte ich es aufgegeben. Irgendwann, so hoffte ich, würden vielleicht einige diese Lügen durchschauen. Aber das ging mich ja nun nichts mehr an. Ich hatte keine Freunde in dieser Klasse.

Nur Frau Galiani, mein Klassenlehrer Herr Wolf und die Schulleitung wussten über die wirklichen Gründe für meinen Weggang Bescheid. Für die anderen aus meiner Klasse würde die Schule nach den Herbstferien weitergehen, aber für mich vorerst nicht.

Ich war geistig kaum noch anwesend an diesem Morgen. Ich hatte in der Schule eh längst den Anschluss verpasst. Durch die schwere Krankheit meiner Mutter und all das, was zuvor noch passiert war – Domenicos Schwierigkeiten, Mingos Tod, die Eheprobleme meiner Eltern und so weiter –, war ich in eine regelrechte Depression gefallen. Ich hatte den Kontakt zur Außenwelt manchmal fast eingestellt und war nur noch mit meinem Innenleben beschäftigt gewesen. Aber das musste sich nun dringend bessern, darum sehnte ich mich auch nach einer räumlichen Veränderung. Und nach einer neuen Klasse, in der ich nochmals ganz von vorne beginnen und einiges besser machen konnte.

An diesem Tag freute ich mich nur noch darauf, Nicki endlich wiederzusehen und in seinen Armen zu liegen. Er war es gewesen, der mich in den letzten Wochen gehalten und getröstet und mir Mut zugesprochen hatte, wenn die Verzweiflung wegen Mamas Krankheit mich wieder übermannt hatte. Ja, er hatte genau gewusst, wie ich mich fühlte, weil er nach Mingos Tod dasselbe durchgemacht hatte.

An diesem Tag war es also das letzte Mal, dass für mich diese melodiöse Schulglocke ertönte. Das letzte Mal, dass ich mich von diesem Stuhl erhob und meine Bücher einpackte. Und das letzte Mal, dass ich Herrn Wolf einen schönen Tag wünschte und dann die Treppe zum Ausgang hinunterging. Hier in diesem Gymnasium würde ich nichts vermissen. Weder die Klasse noch das Gebäude noch den Hof noch sonst was. Und auch nicht meine einsame Nische, in der ich oft gesessen und für meine kranke Mutter gebetet hatte.

Und am allerwenigsten Isabelle …

Ja, es war endlich auch das allerletzte Mal, dass ihre eisigen Sphinx-Augen mich streiften. Wenn auch besonders intensiv dieses Mal, denn sie hatte extra am Ausgang auf mich gewartet.

«So!», sagte sie forsch und dominant, die Hände auf ihre Hüften gestemmt. «Ein jämmerlicher Abgang, den du da machst, das muss ich schon sagen.»

«Lass mich durch!» Ich tat etwas, das ich außer der legendären Ohrfeige noch nie gewagt hatte: Ich schob das große Mädchen – sie überragte mich um einen halben Kopf – einfach zur Seite. Aber an diesem letzten Tag gab es ja keinen Grund mehr, sich vor ihr zu fürchten.

«So-so, das Wort Anstand hast du ja wohl noch nie gehört», kommentierte sie meine Geste. «Kein Wunder, du hast dich ja nicht mal von uns verabschiedet. Eigentlich erwarte ich ja immer noch eine Entschuldigung!»

Eine Entschuldigung – für was? Ja, ich wusste es: für die Ohrfeige, die ich ihr verpasst hatte. Aber ich wusste nicht, weshalb ich mich entschuldigen sollte. Dafür, dass sie mir jahrelang das Leben schwergemacht hatte, weil ich nicht nach ihrer Pfeife tanzte?

Sie reckte ihr spitzes Kinn in die Höhe und wartete auf meine Antwort, während sie ihr schwarz gefärbtes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenband, so dass ihr herzförmiger Stirnansatz noch besser sichtbar wurde. Ihre Augen ließen nicht von mir ab.

Einen Moment überlegte ich, ob ich ihr nicht einfach alles Gute wünschen und kommentarlos gehen sollte. Musste man sich unbedingt in Feindschaft trennen? Konnte man sich nicht am Schluss wenigstens noch verzeihen, wenn man auch nichts mehr miteinander zu tun haben wollte?

«Tut mir leid», hörte ich mich sagen. «Ich wüsste nicht, wofür ich mich entschuldigen sollte.»

«Tja», seufzte sie dramatisch. «Und ich hatte wirklich gehofft, du würdest es wenigstens an deinem letzten Tag noch merken. Aber da habe ich mich wohl geirrt.»

«Sieht so aus.» Ich griff nach der Türklinke. Ich hatte jetzt wirklich keine Lust mehr auf eine ihrer Diskussionen.

«Aber stattdessen hast du dich ja nur gewundert, warum ich dir angeblich dauernd böse Blicke zugeworfen habe, nicht wahr?», fuhr sie streitlustig fort. «Ich möchte dir gern etwas sagen: Seit Anfang der Realschule habe ich um einen guten Klassengeist gekämpft. Mir war es immer sehr wichtig, dass die Klasse als Einheit zusammenhält. Und alle haben das auch problemlos gemacht. Bis auf eine gewisse Madame Fischer, die bei jeder Gelegenheit ihre Krokodilstränchen fließen ließ und mit ihrem weinerlichen und zimperlichen Verhalten stets die ganze Klasse in Verruf gebracht hat. Was meinst du, wie oft wir nachsitzen mussten, nur weil wir angeblich so blöde Zicken waren? Dabei durfte man dich ja nicht mal anhauchen, und schon fingst du an zu flennen. Irgendwann wurde uns das halt auch zu blöd. Und dann kam dieser Vollidiot in unsere Klasse und hat auch noch gemeint, er müsse dich verteidigen. Sorry, der hatte überhaupt keinen Durchblick, was in der Klasse alles abging. Der hatte null Ahnung, was wir immer alles ausbaden mussten, nur weil Madame Zimperlich wegen jeder Kleinigkeit zu Mami und Papi oder zu Frau Galiani gerannt ist und nichts Besseres zu tun hatte, als zu petzen. Anstatt dass sie selber mal den Mund aufgemacht und sich wie eine erwachsene, reife Person gewehrt hätte! Aber nein, sie hat nie den Anstand gehabt, mit uns direkt zu sprechen. Nein, alles musste hinter unserem Rücken geschehen. Und alle hatten ja Mitleid, wenn die kleine Maya weinte. Ach, die arme, arme Maya und die böse, böse Klasse!»

Ich hatte ganz vergessen, dass ich die Tür hatte öffnen wollen. Mit so einer langen Standpauke hatte ich nun echt nicht mehr gerechnet! Meine Hand ruhte immer noch auf der Klinke, während ich Isabelle dummerweise mit offenem Mund anstarrte.

«Und dein ach so toller Gangster hat deine Tränchen ja noch so süß gefunden, dass er um ein Haar Delia getötet hätte», fügte sie schonungslos hinzu, und ich presste schnell wieder die Lippen aufeinander, um nicht so bescheuert dazustehen.

«Man stelle sich das mal vor! Dir ist wohl nicht bewusst, wie kriminell und fies das eigentlich war. Ich bin heute noch entsetzt, wenn ich daran denke.» Sie schüttelte sich regelrecht vor Abscheu, während ich innerlich zu beben begann. Wieso schaffte sie es bloß immer, die Tatsachen so zu verdrehen, dass man sich nachher wirklich schuldig und mies fühlte?

«Tut mir leid, aber mit solchen Menschen wie dir kann ich einfach kein Mitleid haben», setzte sie noch einen drauf. «Solche Leute sind für mich falsch und feige. Das Leben ist halt kein Zuckerschlecken, und wir alle müssen kämpfen und uns verteidigen. Im Leben weht nun mal ein scharfer Wind, und wer ihm nicht die Stirn bieten kann, ist meiner Meinung nach selber schuld. So!»

Ihre Augen ruhten erwartungsvoll auf mir. Ich presste meine Lippen noch fester zusammen. Auch wenn ihre spitzen Pfeile wieder mal mitten ins Herz getroffen hatten – klein beigeben und vor ihr in Tränen ausbrechen würde ich diesmal nicht! Denn das war genau das, was sie von mir erwartete. Ich hatte in all den Jahren aber auch einiges dazugelernt!

Also tat ich genau das, was in ihren Augen als feige galt: Ich drückte endlich die Türklinke hinunter und schlüpfte blitzartig nach draußen. Sollte Isabelle von mir denken, was sie wollte! Vielleicht war ich feige, ja, aber ebenso gut wusste ich, dass es unmöglich war, mit ihr zu diskutieren.

Wir tickten nun mal anders, so war das.

Ich stolperte über den Schulhof, während ich die von Isabelle so verpönten Tränen mit aller Macht zurückzuhalten versuchte. Ich hasste meine blöde Heulerei ja auch, aber ich war nun mal verflixt nah am Wasser gebaut, und ich machte das wirklich nicht mit Absicht!

«Maya, warte mal!»

Ich drehte mich um und sah Ayse auf mich zustürmen. Ayse, die mal meine Schulfreundin gewesen war, bis sie es, angeblich wegen meiner Depression, nicht mehr mit mir ausgehalten hatte. Aber in Wahrheit hatte Isabelle sie gegen mich aufgehetzt, dessen war ich mir sicher.

«Was ist denn?», fragte ich unwirsch. Konnte ich nicht endlich gehen?

«Darf ich dich noch was fragen?» Sie blieb vor mir stehen.

«Okay …»

«Sind diese Gerüchte um deinen Freund wahr?», fragte sie geradeheraus. «Ich meine … dass er ein krimineller Drogendealer ist und schon mehrmals im Knast war und so?»

Um ein Haar hätte ich die Augen verdreht. Na super, mit dieser Frage hätte sie ja nun wirklich schon früher kommen können!

«Entscheide selber, was du glauben willst», entgegnete ich ungeduldig.

«Ich möchte aber gern die Wahrheit wissen», sagte sie leise und etwas verlegen. «Weil … es ist dieser … dieser hübsche Typ mit der Tätowierung am Oberarm und den rötlichen Haaren, nicht wahr?»

Ich sah, dass sie ganz rot war im Gesicht. Aha. Daher wehte also der Wind.

«Ja», sagte ich schlicht.

«Er … er hat mich zwei, drei Mal angeschaut … mit so stechenden Augen … ich hatte richtig Angst vor ihm … ich bekam ganz weiche Knie …»

«Ja?» Das konnte er gut. Er konnte gut Mädchen mit seinen Blicken um den Verstand bringen. Mister Universum …

Und ich hasste es, wenn er das tat.

«Schön für dich», entgegnete ich matt. «Ich muss jetzt los.»

«Okay, ich … warte kurz …» Sie zog verlegen ihre Hand aus ihrer Manteltasche und hielt sie mir hin. «Ich wollte nur sagen … es … es tut mir leid … na, du weißt schon. Ich wünsch dir alles Gute für die Zukunft und so.»

Ich schaute sie ein paar Sekunden lang ziemlich verdattert an, ehe ich ihre Hand nahm.

«Danke», sagte ich. «Ich dir auch.»

Ja, wir hatten keine sehr intensive Beziehung zueinander gehabt, aber ihre einfache Entschuldigung tat mir trotzdem irgendwie gut. Im Grunde wusste ich ja, dass Ayse auch ziemlich schüchtern war und Angst vor Isabelle hatte. Und ich war wirklich unerreichbar gewesen die letzten Wochen. Und dass Ayse sich offenbar heimlich in Nicki verknallt hatte, konnte ich ihr nicht mal verübeln.

«Mir tut es auch leid, dass ich mich nicht mehr um dich gekümmert habe», rief ich ihr zu, als sie schon am Gehen war. Sie drehte sich nochmals um, lächelte ein wenig und winkte mir zaghaft zum Abschied.

Ein schon lange nicht mehr dagewesenes Gefühl von Freiheit durchflutete mich, als ich ihr nachsah. Das hier war vorbei. Endgültig vorbei! Fast hätte ich vor Freude meine Arme in die Luft geworfen und wäre herumgetanzt, so wie die quirlige Jenny das immer machte, wenn sie von etwas begeistert war.

Zur Feier des Tages machte ich zum letzten Mal noch einen Abstecher über den Realschulhof. An die Realschule, die im vorderen Trakt des gesamten Schulkomplexes lag, hatte ich bessere Erinnerungen, wenn auch hier die Anfangszeit nicht gerade leicht gewesen war. Doch nach Domenicos Weggang hatte ich hier wenigstens Freunde gehabt.

Als käme er wie gerufen, sah ich noch ein letztes Mal unseren kauzigen Hausmeister, Herrn Biedermann, über den Schulhof schlurfen. Er führte mal wieder die üblichen Selbstgespräche und gestikulierte wild in der Luft herum. Irgendjemand hatte ihn wohl mächtig geärgert. Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen, obwohl Isabelles Maßregelung immer noch in meinem Magen rumorte.

«Hallo Maya!»

Die Stimme hinter mir ließ mich vor Schreck zusammenfahren. Einen Augenblick hatte ich fast Angst, Isabelle hätte mich verfolgt, und war umso erleichterter, als Frau Galiani in mein Blickfeld trat.

«Da bist du ja. Ich habe mir fast gedacht, du würdest nochmals herkommen, um dich von deinem alten Schulhof zu verabschieden. Und so, wie es aussieht, habe ich Recht gehabt.»

Sie lächelte – etwas, das ziemlich selten vorkam. Das Lächeln passte eigentlich gar nicht so richtig zu ihren herben Gesichtszügen, und vielleicht war das der Grund, warum sie es eher selten einsetzte.

«Stimmt …», murmelte ich.

«Na, da dachte ich, ich könnte mich noch von dir verabschieden», meinte sie. «Ich bin froh, dass dein Vater dir erlaubt hat, ein halbes Jahr Pause zu machen.»

Ja, es hatte ein wenig Überredungskunst gebraucht, aber Frau Galiani hatte meinen Vater schließlich überzeugt, dass ich nach dem strapaziösen Jahr, das hinter mir lag, ein halbes Jahr Auszeit brauchte.

«Ja, das bin ich auch», sagte ich, immer noch dieses Gefühl von Freiheit auskostend.

«Weißt du denn mittlerweile, was du danach machen möchtest?», fragte sie. Wie so oft kam sie ohne Umschweife gleich zur Sache, aber das lag wohl auch daran, dass sie nicht viel Zeit für langen Smalltalk hatte.

Ich zögerte. Bis jetzt wussten ja noch nicht mal meine Eltern, worüber Domenico und ich ernsthaft nachdachten. Genau genommen wusste das außer Nicki, Pfarrer Siebold und mir gar niemand, und Pfarrer Siebold hatte uns hoch und heilig versprochen zu schweigen. Frau Galiani wusste nur, dass meine Eltern Haus und Praxis verkaufen und auf Weltreise gehen würden. Und dass ich mich zwischen einer Mädchen-WG oder einem Wechsel mit meinen Eltern zusammen in eine kleinere Wohnung entscheiden musste.

Nur die heimliche dritte Option, nämlich mit Domenico zusammen nach Berlin zu ziehen, kannte sie nicht.

«Ich bin mir noch nicht ganz sicher», antwortete ich vage.

«Na, ich denke, so eine Mädchen-WG könnte doch ganz lustig für dich sein», ermunterte sie mich. «Das würde dir viele interessante Erlebnisse bescheren.»

Ich nickte, obwohl ich jetzt gar nicht über dieses Thema reden wollte. Sie meinte es gut, aber die vielen Ratschläge verwirrten mich im Moment.

«Wann gehen deine Eltern denn auf die Reise?», fragte sie vorsichtig. Sie hatte natürlich schon gemerkt, dass ich herumdruckste.

«Ende des Jahres gehen sie wieder nach Basel für eine weitere Untersuchung und Abklärung, ob Mama an dieser Studie für dieses neuartige Medikament teilnehmen kann. Wenn alles gutgeht, werden sie danach auf Weltreise gehen.»

«Und wann wird euer Haus verkauft?»

«Heute. Aber wir dürfen bis Ende des Jahres noch drinbleiben.» Ich konnte einen tiefen Seufzer nicht vermeiden. Ich war so froh, dass ich an diesem Nachmittag mit Nicki zusammen sein konnte, wenn der Verkauf über die Bühne ging.

«Na, immerhin. Das gibt dir noch etwas Zeit.» Und als hätte sie erraten, dass meine Gedanken gerade bei Nicki waren, fragte sie: «Und was hat Domenico vor? Macht er jetzt endlich den Hauptschulabschluss?»

«Ja … er will nochmals einen Anlauf nehmen.» Ich durfte Frau Galiani nichts von Domenicos Plänen verraten, nach Berlin zu gehen. Er hatte mir das ausdrücklich verboten.

«Weißt du, um ganz ehrlich zu sein: Mir geht diese eine Sache einfach nicht aus dem Kopf, die ich dich letztes Mal habe sagen hören», lenkte sie das Thema schonungslos in eine neue Richtung. Ich starrte sie perplex an, zuerst völlig ahnungslos, was sie damit meinte.

«Du hast letztes Mal das Wort Heirat in den Mund genommen – nun ja, es geht mich nichts an, und du hast mir auch den Sachverhalt nachher erklärt. Trotzdem kann ich nicht leugnen, dass mir das irgendwie immer noch Sorgen bereitet.» Auf ihrer Stirn erschien die für sie so typische steile Falte, die mir nicht so geheuer war, weil sie immer ein Anzeichen für etwas Ernsthaftes war.

«Mir ist es einfach sehr wichtig, dir noch einen letzten Ratschlag mit auf den Weg zu geben.» Sie schaute mir fest in die Augen, und mir war klar, dass sie meinen Unwillen gegen noch mehr Belehrungen spürte. Deshalb legte sie wohl auch besonders viel Nachdruck in ihre Stimme, als sie weitersprach: «Häng dich bitte, bitte nicht zu sehr an Domenico. Ich möchte einfach sicherstellen, dass dir bewusst ist, dass er noch ganz viel Zeit brauchen wird, bis er wirklich einigermaßen stabil ist und beziehungsfähig sein wird. Ich möchte einfach nicht, dass du eine Enttäuschung erlebst.»

Ich seufzte innerlich. Nicht schon wieder diese ewig gleichen Ermahnungen! Wieso musste sie mir jetzt ein weiteres Mal damit kommen? Ich wollte nicht wissen, wie oft ich das schon gehört hatte. Nicht nur von Frau Galiani, nein, von überall her. Es kam mir langsam zu den Ohren raus, ehrlich. Ich wusste doch mittlerweile selber am allerbesten, wie Domenico funktionierte! Ich kannte ihn schließlich inzwischen besser als alle anderen.

«Weißt du, ich traue ihm einfach immer noch nicht zu, dass er dich so behandeln wird, wie du es dir wünschst und du es auch verdienst. Du weißt, bis jetzt hat er keine Beziehung länger als ein paar Wochen auf die Reihe gekriegt. Oder dann hatte er mehrere Mädchen gleichzeitig. Und ich bezweifle, dass er diese Verhaltensmuster so von heute auf morgen ablegen kann. Natürlich freut mich das sehr, dass es bis jetzt anscheinend geklappt hat. Aber ich habe halt in der Vergangenheit zu oft gesehen, wie kaltblütig er Mädchen, die er offenbar gern hatte, wieder abservieren oder sogar betrügen konnte. Deswegen: Bleib bitte auf der Hut. Bitte behalte deine Augen auch für andere Möglichkeiten offen, abgemacht?»

Abgemacht? Nein, ich hatte nicht vor, irgendwas mit ihr abzumachen. Das war doch wirklich allein meine Entscheidung! Langsam ging mir das wirklich auf die Nerven, wie all die Erwachsenen mir immer dreinreden wollten. Hallo, ich war fast achtzehn! Und Domenico war neunzehn. Wir waren selber Erwachsene!

Ich biss mir auf die Lippen, um ihr nicht eine patzige Antwort zu geben. Frau Galiani hatte Domenico und mir viel geholfen in der Vergangenheit, und ich war ihr wirklich dankbar. Aber wenn der junge Vogel schon so abrupt aus dem Nest geworfen wurde, sollte er wenigstens selber bestimmen, wohin er fliegen würde, fand ich.

Frau Galiani erwartete jetzt natürlich eine Antwort, und ich nickte deshalb hastig.

«Du kannst dich auch in Zukunft jederzeit gern an mich wenden, wenn du Rat brauchst, ja? Meine Telefonnummer und E-Mail-Adresse hast du ja. Ich helfe dir gern, das weißt du», sagte sie herzlich, und sofort tat es mir wieder leid, dass ich gerade so rebellische Gedanken gegen sie gehegt hatte. Und trotzdem …

«Danke», murmelte ich und war in diesem Moment froh, als ich schon wieder eine andere Stimme meinen Namen rufen hörte. Ich drehte meinen Kopf. Dieses Mal war es Leon, der quer über den Hof auf uns zugeradelt kam. Er holte mich jeweils von der Schule ab und begleitete mich nach Hause, um sicherzugehen, dass mich nicht irgendwelche Typen von den Snakes oder sogar Toni höchstpersönlich verfolgen würden. Bis jetzt war zum Glück nichts passiert, und ich fragte mich, ob Domenico nicht allmählich ein bisschen überbesorgt war. Es hatte nämlich viel zu bedeuten, dass er mich Leons Begleitung anvertraute.

«Da bist du ja. Ich hab dich überall gesucht. Bist du bereit? Oh, guten Tag, Frau Galiani.»

«Guten Tag, Leon. Na, dann lasse ich euch mal.» Frau Galiani lächelte und verabschiedete sich. In den Augen aller Erwachsenen sah ich immer diese verhaltene Hoffnung aufblitzen, wenn ich mit Leon zusammen war.

«Domenico wird wahrscheinlich ziemlich nervös werden, wenn ich dich nicht rechtzeitig abliefere», sagte Leon und sah mich mit seinen stahlblauen Augen an. Ich hatte ihm an diesem Morgen von Domenico ausrichten lassen, dass er mich bis zur Bushaltestelle bringen sollte, wo Nicki mich dann in Empfang nehmen würde. Ich wusste, wie nett es von Leon war, dass er das so ohne weiteres tat.

Ich nickte und beeilte mich, ihm zu folgen. Nein, ich hatte keine Lust, Domenico nervös zu machen. Er konnte so leicht durchdrehen.

Leon schob sein Fahrrad neben sich her, damit er sich meinem Tempo anpassen konnte. «Vor meiner Cousine braucht ihr euch übrigens nicht mehr zu fürchten», sagte er, als wir das Schultor passierten. «Sie hat der Szene ganz den Rücken zugekehrt und macht jetzt Abitur.»

«Das ist gut», sagte ich, während gleichzeitig düstere Erinnerungen an das Gespräch mit Janet Bonaventura und an das, was sie mir über Domenico erzählt hatte, in mir aufstiegen. Zum Glück war Leon so diskret und stellte keine Fragen mehr zu der Beziehung zwischen Domenico und mir. Was vielleicht auch dem Umstand zu verdanken war, dass Domenico in seiner Achtung ziemlich gestiegen war, seit sich herausgestellt hatte, dass der bekannte Zehnkampf-Athlet Morten Janssen Nickis Vater war.

Denn Domenico war somit kein verwahrloster Straßenjunge mehr. Er hatte einen Vater, und zwar einen ziemlich berühmten. Trotzdem wusste ich, dass Leon nach wie vor besorgt um mich war und auch traurig, weil ich mich damals für Domenico und nicht für ihn entschieden hatte.

Genau diese Bedrückung nahm ich nun auch wahr, als wir den Weg zur Bushaltestelle einschlugen.

Domenico stand schon dort und lehnte sich in seiner gewohnt lässigen Haltung und seinem üblichen Jeans-und-Lederjacken-Outfit an sein Motorrad. Seine coolen Gesten und Moves waren ihm wohl längst in Fleisch und Blut übergegangen, weil er sich sein halbes Leben lang auf der Straße hatte behaupten müssen. Er hatte den Helm auf, das Visier stand offen, und ich wusste, dass seinen scharfen Augen nicht mal die geringste Bewegung einer Ameise entging. Tiger-X beobachtete alles, und mir war klar, dass er uns längst gesehen hatte. Ich winkte ihm, während sich in meiner Magengegend das wohlbekannte Prickeln einstellte, wenn ich in seine Nähe kam.

Er löste sich von seinem Motorrad und steckte die Hände in die Hosentaschen.

«Na endlich. Da seid ihr also.»

Ich wollte mich in seine Arme stürzen, doch er hielt mich mit einer eindeutigen Geste auf Abstand.

«Schscht. Nicht hier», sagte er forsch. «Später.»

Ich blieb enttäuscht vor ihm stehen. Was war denn jetzt wieder los? Ich bemerkte ein paar unverkennbare Kratzer unter einem Auge auf seiner Wange, die vor einer Woche noch nicht da gewesen waren. Hatte er sich etwa wieder mit irgendjemandem geprügelt?

Sein Blick fiel auf Leon. «Hi», sagte er kühl.

Mist, Nicki hatte eindeutig miese Laune. Na super! Ausgerechnet an diesem Tag!

«Hi!» Auch Leons Stimme war nicht viel wärmer. Leon und Domenico würden wohl für immer Konkurrenten bleiben.

«Steig auf, Maya», sagte Domenico noch frostiger und reichte mir meinen Helm vom Rücksitz.

«Warte mal», schaltete sich Leon ein. «Ich wollte dir noch was sagen …» Er wandte sich dabei eindeutig an Domenico.

«Mir?» Domenico sah Leon aus seinen eisgrauen Augen an, die zu zwei Schlitzen zusammengepresst waren.

«Ja, dir.»

«Dann schieß los.»

Leon holte tief Luft und erwiderte Domenicos finsteren Blick mit klaren, offenen Augen. Wenn man das Mienenspiel der beiden Jungs beobachtete und miteinander verglich, dann hatte Leon in diesem Moment eindeutig die vertrauenswürdigere Ausstrahlung. In Nickis Blick lagen zu viele rätselhafte Schatten, die es auch mir nicht immer leichtmachten, ihn zu ergründen.

«Also, um es kurz zu machen, Tiger-X …»

«… lass den Namen, ja?», sagte Domenico in unverkennbar drohendem Tonfall. «Er gehört nicht hierher. Er sollte hier gar nicht bekannt sein.»

«Wovor hast du Angst?», fragte Leon ruhig.

«Angst? Ich? Ich hab keine Angst.»

«Natürlich hast du Angst. Du würdest dich sonst nicht dauernd verstecken.»

«Was willst du, ey? Den Psychoonkel spielen, oder was?»

Ich drückte nervös meinen Helm an mich. Wusste Leon denn nicht, dass er sich besser nicht mit dem Tiger anlegen sollte?

Leon schüttelte den Kopf. «Nein …» Auf einmal schien sein Mut zu sinken. «Nein, eigentlich wollte ich gar nicht …»

Domenico verdrehte die Augen, doch ich spürte, dass er sich Mühe gab, ruhig zu bleiben. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen, was Leon Domenico zu sagen hatte.

«Ich weiß, du hältst mich für einen elenden Streber, der keine Ahnung vom Leben hat und der auf der Sonnenseite steht», fuhr Leon nun mit deutlich belegter Stimme fort. «Aber ich wollte dir nur mal sagen … dass bei mir auch nicht alles so rund läuft, wie es scheint. Ich weiß, was es heißt, sich einsam zu fühlen und sich nach der einen Person zu sehnen, die nicht wirklich wissen will, was in dir vorgeht.»

Domenico kniff sofort seine Augen zusammen. «Ey … lass das, okay? Maya hat sich entschieden. Hör auf, sie zu bedrängen.»

«Ich rede doch gar nicht von Maya», erklärte Leon leise und geduldig. «Ich habe Mayas Wahl längst akzeptiert. Nein, was ich dir sagen möchte, ist, dass ich zu einem gewissen Teil nachvollziehen kann, was du durchgemacht hast. Genau genommen bist du mir sogar einen Schritt voraus.»

Ich verstand nicht, worauf Leon hinauswollte, und Domenico schien es ähnlich zu gehen. Wenigstens wirkten seine Augen nicht mehr so frostig.

«Du hast es gewagt, dich auf die Suche nach deinem Vater zu machen. Ich sehe meinen Vater zwar jeden Tag, aber er sieht mich nicht. Und ich habe bis jetzt nie den Mut gehabt, ihm all das zu sagen, was mich schon seit Jahren unglücklich macht. Deswegen fand ich das wahnsinnig mutig von dir, nach Norwegen zu gehen und einen Menschen zu suchen, den du noch nie gesehen hast. Ich traue mich noch nicht mal, zu meinem Vater ins Büro zu gehen. Die ganze Zeit hoffe ich, dass er mich endlich entdeckt, dass er mich sieht … aber …» Leon lächelte traurig. «Er sieht nur seine Arbeit. Und ich fürchte, ich werde damit leben müssen. Genau genommen habe ich nicht wirklich einen Vater … Du hingegen hast einen. Sieh es als Vorrecht und Privileg.»

Domenico schüttelte ungläubig den Kopf und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Leon war noch nicht fertig.

«Ich war übrigens damals auch auf der Beerdigung deines Bruders. Ich weiß nicht, ob du das überhaupt mitgekriegt hast. Das wollte ich dir schon immer mal sagen. Ich wünsche euch beiden viel Glück. So, das wär's dann.»

Leon wandte sich seinem Fahrrad zu, und ich konnte nur ahnen, wie viel Überwindung ihn dieses Geständnis gekostet hatte.

Domenico hob seine Hände und nahm den Helm von seinem Kopf. «Warte!»

Leon drehte sich wieder um.

Domenico trat auf ihn zu und streckte ihm zu meiner Überraschung seine Hand hin. «Danke, dass du Maya immer zur Schule begleitet hast. Du hast mir 'nen großen Gefallen getan.»

Leon schlug vorsichtig ein. «Keine Ursache.»

Ich sah die beiden Jungs an. Beide waren sie hübsch. Leon, dessen Mutter eine Ostfriesin war, war um einiges größer als Domenico mit seinem sizilianischen Blut. Ihr Charakter spiegelte sich auch in ihrem Aussehen wider: Während Leon sich mit Brille und Blazer um einen seriösen Stil bemühte und dadurch, dass er seine blonden Haare kurzgeschnitten trug, seinen hohen Stirnansatz zeigte, sah Domenico in seiner Lederjacke und den wilden kupferbraunen Haaren, die ihm lang ins Gesicht hingen, verwegen aus wie eh und je.

«Also, das war's. Vielleicht … vielleicht magst du ja mal wieder mit Frauke Kontakt aufnehmen, Maya. Sie ist neuerdings auch auf Facebook. Ich übrigens auch. Vielleicht können wir so in Kontakt bleiben, so dass wir uns nicht ganz aus den Augen verlieren.»

«Okay», sagte ich, immer noch verblüfft über Leons offene Worte.

Leon stieg nun endgültig aufs Fahrrad, winkte uns zu und radelte davon.

Es war seine Art zu sagen, dass unser gemeinsamer Weg hier zu Ende war. Einen Moment lang machte sich Wehmut in mir breit. Ich hatte Leon nicht immer fair behandelt, und trotzdem war er stets so anständig zu uns gewesen.

Auch Domenico sagte eine Weile lang nichts und starrte dem Fahrrad hinterher. Ich hätte gern gewusst, was er in diesem Moment dachte. Schließlich setzte er seinen Helm wieder auf und sah mich an.

«Komm, duci mia», sagte er sanft.

Je vertrauter wir uns wurden, desto öfter redete er Sizilianisch mit mir. Er schien manchmal komplett zu vergessen, dass ich den Dialekt kaum verstand und lediglich ein paar lausige Schulkenntnisse in Italienisch besaß. Wahrscheinlich war das Reden in seiner Muttersprache eine automatische Reaktion, die sich bei ihm einstellte, wenn er jemanden an sein Inneres heranließ.

Und deshalb mochte ich es.

Ich setzte mir ebenfalls den Helm auf und stieg hinter ihm aufs Motorrad. Er ließ den Motor an, und ich legte meine Hände fest um seinen Bauch.

Der kühle Fahrtwind kroch in alle Öffnungen meiner Jacke. Ich fror richtig während der Fahrt. Immerhin war es ja auch schon Mitte Oktober …