21. Aufbruch nach Berlin

Nicki und ich umarmten uns zum x-ten Mal, und ich seufzte einmal mehr, wenn ich daran dachte, dass wir uns nun mehrere Wochen nicht sehen würden.

«Wie soll ich es nur die ganze Zeit ohne dich aushalten?», stöhnte ich zum hundertsten Mal.

«Und ich ohne dich? Aber ich mach 'ne ganz schöne Wohnung für uns bereit, bedda mi'. Wirst sehen!» Er streichelte zärtlich mein Haar und küsste mich. «Und mit dem Rauchen hör ich auch auf. Jetzt wird's endlich klappen, wenn der ganze Stress weg ist, da bin ich mir sicher. Und wenn du dann jeden Tag bei mir bist, kann ich vielleicht sogar mit den Schlafpillen aufhören und später auch mit den Antidepressiva.»

«Das wäre wirklich schön», sagte ich.

Paps hatte alle seine Beziehungen spielen lassen, und so hatten wir tatsächlich eine Wohnung bekommen, die von einem Jugendprojekt betreut und verwaltet wurde. Wir hatten sie allerdings sofort beziehen müssen, sonst wäre sie weitervergeben worden. Deswegen reiste Nicki nun schon voraus, um alles für uns vorzubereiten, während ich über Weihnachten zu Hause blieb und Anfang Januar noch mit meinen Eltern für ein paar Wochen nach Basel gehen würde, bevor ich sie dann für lange Zeit nicht mehr sehen konnte …

Diese Zeit würde nicht leicht werden für mich, das wusste ich, und ich hatte noch keine Ahnung, wie ich das ohne Nicki durchstehen sollte. Wir würden uns nicht sehr oft sehen können, da die Distanz zu groß war und wir unsere restlichen Ersparnisse lieber für die Wohnungseinrichtung brauchen wollten. Wobei zu sagen ist, dass uns alle Gäste anstelle von Sachgeschenken zur Verlobung kleine und große Couverts mit Geldbeträgen überreicht hatten. Es war eine stolze Summe zusammenkommen!

«Ich hoff, ich find bald 'nen Job», meinte Nicki. «Damit ich auch was richtig Schönes für dich machen kann.»

«Das wird bestimmt was», war ich mir sicher. «Und du kannst auf alle Fälle schon mal anfangen, die Sache mit deinem Schulabschluss zu regeln. Dich nach Fernkursen erkundigen und so. Je schneller du den Schulabschluss hast, desto besser.»

«Ach nee, dafür brauch ich deine Hilfe», stöhnte er. «Das schaff ich nicht allein. Außerdem geh ich lieber arbeiten, als diese elende Paukerei durchstehen zu müssen.»

«Aber ohne Schulabschluss kannst du keine Ausbildung in der Gastronomie machen. Und beim Lernen werde ich dir ja dann sowieso helfen.» Ich zog seinen Kopf zu mir heran und küsste ihn auf die Wange. Die Sache mit dem Schulabschluss würde noch eine ziemliche Knacknuss werden. Ganz zu schweigen von dem Aids-Test, den er ebenfalls in Berlin machen wollte.

«Halt mich fest», murmelte er und legte seinen Kopf auf meine Schulter. «Mensch, ich werd dich so vermissen, duci mia … bitte, komm bald, ja?»

«Sobald ich kann», versprach ich.

Wieder hielten wir uns fest und streichelten einander den Rücken. Ich fühlte seinen Herzschlag, und ich war mir sicher, dass er auch den meinen fühlen konnte, so heftig, wie mein Herz gerade hämmerte.

Es war ein schönes Gefühl, verlobt zu sein, ja. Aber ich wusste, dass ich ihm damit ein Ja gegeben hatte, das nicht mehr so leicht rückgängig zu machen war, ohne sein und auch mein Herz extrem zu verletzen. Auch wenn eine Verlobung noch keine Heirat war, hatte ich ihm doch ein Versprechen gegeben, und er mir. Und das, obwohl noch so viele Schatten über unserer Zukunft hingen und immer noch eine Anzahl Fragen offen waren. Insbesondere all die, die uns meine Eltern gestellt hatten …

Ja, ich kam nicht umhin, zugeben zu müssen, dass nach wie vor eine gewisse Angst in mir zurückblieb. Was würde in Berlin alles geschehen? Wie würde er allein klarkommen? Würde er es überhaupt packen? Oder würde er in irgendeiner Form wieder abstürzen, sei es mit Alkohol, Pillen, Zigaretten oder – was das Schlimmste war für mich – Mädchengeschichten? Die Mädchen würden sich ja garantiert auch in Berlin an ihn ranschmeißen …

Ja, selbst wenn die guten Absichten in seinem Herzen groß waren – ich wusste, dass diese Gefahr nach wie vor bestand. Es würde noch einige Zeit brauchen, bis er wirklich festen Boden unter den Füßen haben würde. Und ebenso würde auch ich Zeit brauchen, bis ich ihm in dieser Hinsicht wieder voll vertrauen konnte. Die Wunde, die durch die Sache mit Angel entstanden war, schmerzte natürlich immer noch ab und zu.

Das Einzige, was mir blieb, war, weiter darauf zu vertrauen, dass mein Herz mir den richtigen Weg weisen würde. So, wie Pfarrer Siebold es mir einst gesagt hatte …

Und doch mischte sich auch eine ungestüme Vorfreude in all die Zweifel; die Vorfreude auf unser gemeinsames Leben in Berlin. Wo wir endlich einen richtig neuen Anfang wagen konnten und nicht ständig von irgendwelchen Gangs bedroht wurden. Wo Nicki auch endlich Ruhe haben würde vor seiner Vergangenheit. Und wo wir jeden Tag unsere traute Zweisamkeit genießen konnten, so wie wir es in den letzten Tagen bei Zio Giacomo und auch an jenem Wochenende in Tante Lenas Hütte erlebt hatten. Wo Nicki jeden Tag für mich kochen würde, wo wir gemeinsam die Stadt entdecken und viele schöne Ausflüge unternehmen konnten und wir endlich das machen durften, was uns Spaß machte, ohne dauernd auf der Flucht sein zu müssen.

«Ich kann es echt kaum erwarten, bis du bei mir bist», flüsterte er, als hätte er meine Gedanken erraten. «Süße, wir werden ein richtig cooles Leben haben, das versprech ich dir!»

«Ich kann's auch kaum erwarten», seufzte ich und spielte mit seiner Holzperlenkette – der einzigen Kette, die er noch um den Hals trug, nachdem ich sie ihm mal geschenkt hatte.

«Ich liebe dich, Nicki», sagte ich, und mein Atem dampfte richtig in der Kälte. Es war ein Grad minus draußen – ganz schön frostig für Anfang Dezember.

«Und ich liebe dich.» Er drückte mich noch einmal fest an sich, und ich genoss ein letztes Mal die Wärme in seinem Körper, sog ein letztes Mal seinen Duft sein und küsste ein letztes Mal seine weichen Lippen.

«Aber nun muss ich wohl langsam los. Ich hab noch 'nen weiten Weg vor mir …» Er löste sich widerwillig von mir.

«Pass auf dich auf!»

Er nickte und stülpte sich den Helm über. Typisch Domenico – er war verrückt genug, um mit dem Motorrad nach Berlin zu brezeln. Und das bei der Kälte und mit nichts anderem als seinem Rucksack und seinen Bildern, die er im Seitenkoffer verstaut hatte. Und dem Umschlag von seiner Mutter, den er nach wie vor nicht geöffnet hatte. Viel mehr besaß er ja nicht, und den Rest seiner Klamotten würden wir ihm später mitbringen, wenn mein Vater mich in ein paar Wochen nach Berlin fahren würde.

«Bau mir keinen Unfall, ja? Und bitte … bitte, schließ in Berlin deinen Computer ans Netz, damit wir skypen können.»

Aber ich wusste von vornherein, dass er das nicht machen würde. Computer waren nicht sein Ding, und er hatte seinen Laptop immer noch kaum angerührt. Doch spätestens für seinen Schulabschluss würde er ihn brauchen.

Er hob den unteren Teil seines Klapphelms hoch, damit wir uns doch noch ein allerletztes Mal küssen konnten. Dann startete er den Motor und fuhr langsam an, winkte mir nochmals und warf mir ein Kusshändchen zu. Und ich hatte Tränen in den Augen, als ich ihm nachschaute.

Er war noch nicht am Ende der Straße angelangt, als er das Motorrad auf einmal wieder stoppte. Er rief einer Frau etwas zu, die den Bürgersteig entlangging und offenbar zu unserem Haus wollte. Die Frau zog den Hut von ihrem Kopf und schüttelte ihr wildes Haar – und ich erkannte Maria di Loreno!

Total baff wischte ich mir die Tränen aus den Augen und verfolgte gespannt, was nun geschehen würde. Was machte Maria hier? War sie wieder aus Sizilien zurückgekehrt? Und warum das? Hatte sie zu uns gewollt? Hatte sie ihren Sohn gesucht?

Ich hörte Domenico heftig mit seiner Mutter diskutieren. Ich wollte schon zu ihnen hinrennen, als Domenico Maria mit einer Handbewegung hieß, sich hinter ihm aufs Motorrad zu setzen. Maria stieg auf und hielt sich an Nicki fest, während er erneut aufs Gaspedal trat und dieses Mal endgültig aus meiner Sichtweite verschwand.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Wohin fuhr Domenico jetzt mit seiner Mutter? Was hatte er vor? Brachte er sie irgendwo hin? Wollte er mit ihr reden? Er würde sie ja wohl kaum mit nach Berlin nehmen, oder? Schon gar nicht ohne Helm … Mit diesen Fragen würde ich ihn dann auf jeden Fall sofort bestürmen, sobald er sich aus Berlin meldete. Bis dahin musste ich mich wohl oder übel noch gedulden …

Noch eine Weile blieb ich stehen und starrte in die Richtung, in die das Motorrad soeben verschwunden war.

Dann drehte ich mich um, bereit, mein neues Leben anzupacken. Ich würde auf jeden Fall in der Zwischenzeit schon mal damit beginnen, unsere gemeinsame Geschichte und all die vergangenen Ereignisse aufzuschreiben. Das hatte ich mir fest vorgenommen.