Wir fuhren auf direktem Weg zu Patrik. Domenico wohnte nun schon einige Wochen bei ihm. Ursprünglich hatte er nur wenige Tage bleiben und sich dann einen neuen Unterschlupf suchen wollen, doch weil Patrik wegen der Trennung von Jenny unter Liebeskummer litt, war Nicki bei ihm geblieben. Und Patriks Mutter war mehr als nur froh, wenn ihr Sohn Gesellschaft hatte. Außerdem half Domenico fleißig im Haushalt mit und kochte auch für Patrik, wenn sie arbeiten musste. Er hatte ja sonst nichts zu tun, seit er seinen Job in der Trattoria Siciliana aufgegeben hatte. Und Patrik war nun mal ein Einzelgänger und ein Bücherwurm, und außer Nicki und mir hatte er nicht viele Freunde.
Domenico parkte vor dem Haus und ließ mich absteigen, dann brachte er das Motorrad in den Fahrradkeller. Ich wartete immer noch ungeduldig darauf, mich endlich in seine Arme werfen zu dürfen.
Er lächelte, als er zu mir zurückkam, und zog mich rasch in den Eingang, wo er seine Arme nach mir ausstreckte. Ich schmiegte mich fest an ihn und sog die mir inzwischen so vertraute Geruchsnote nach Zigarettenrauch und Leder ein. Ich liebte es, seine starken, schützenden Arme ganz eng um mich zu spüren.
«Cori mia», flüsterte er in mein Ohr. «Ich bin fast draufgegangen vor Sehnsucht nach dir.»
«Ich auch», sagte ich leise.
Wir küssten uns vorsichtig. Es war jedes Mal ein Erlebnis, ihn zu küssen. Wenn seine Lippen mich berührten, sackte beinahe der Boden unter meinen Füßen weg. Ich konnte mir dieses Phänomen nicht erklären. Vielleicht lag es daran, dass seine Lippen so rau und weich gleichzeitig waren. So sanft und doch so aufregend. Ich wusste es nicht.
Doch an diesem Tag war irgendetwas anders. Es kribbelte nicht so stark wie sonst. Ich hatte gehofft, dass ich mich dem Rausch einfach hingeben und ein paar Sekunden lang vor Ekstase taumeln konnte, doch irgendwie stellten sich die Gefühle nicht so intensiv ein, wie ich mir das wünschte.
Schlich sich da etwa schon die Macht der Gewohnheit ein?
«Ich bin verrückt vor Liebe nach dir, weißt du das?», flüsterte Domenico, der mein Dilemma ausnahmsweise nicht bemerkte. «Sugnu cottu cugghjutu!»
«Ich auch», erwiderte ich und beschloss, mir keine Sorgen über meine nicht ganz so intensiven Gefühle zu machen. Wahrscheinlich lag das daran, dass ich bald meine Tage bekommen würde …
Ich spürte, wie sein Körper vor Verlangen ziemlich glühte und er sich richtig zusammenreißen musste, mich wieder loszulassen.
«Lass uns hochgehen», meinte er. «Du hast sicher Hunger. Ich hab Arancini gemacht.»
«Was ist das?»
«Hast du das nie gegessen in Sizilien?»
«Nein …»
«Du wirst es mögen. Hab heute Nacht schon damit angefangen. Amunì!» Er zog mich an der Hand die Treppen hoch in den zweiten Stock. Das Haus war alt und hatte keinen Lift.
Patrik wartete schon auf uns. Auch er war gerade von der Schule gekommen. Seine Mutter musste an diesem Tag arbeiten. Patrik und seine Mutter teilten sich eine bescheidene Zweizimmerwohnung. Da sein Vater kurz nach Patriks Geburt bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, reichte das Einkommen gerade knapp zum Leben.
«Da s-seid ihr ja.» Patrik strahlte übers ganze Gesicht. Er war offensichtlich glücklich, dass Nicki bei ihm wohnte.
Wir folgten ihm in sein Zimmer. Für Domenico war ein Klappbett aufgestellt worden, doch so, wie ich Nicki kannte, schlug er sich die Nächte mit anderem als mit Schlafen um die Ohren …
Patriks Zimmer war recht ordentlich, nur in Domenicos Ecke wucherte ein kleines Chaos. Domenico hatte allerdings die meisten seiner Sachen in seiner alten Wohnung gelassen, in der er offiziell immer noch lebte und die er sich mit zwei Studenten teilte. Weil aber Toni seine Adresse rausgefunden hatte, ging er nur noch ganz selten dorthin, um seine Mitbewohner nicht in Gefahr zu bringen. Nur seine Bilder und Buntstifte und die wichtigsten Klamotten hatte er mitgenommen. Ich fragte mich, ob Herr Bahlke, sein Bewährungshelfer, Bescheid wusste, dass Nicki bei Patrik untergetaucht war. Wahrscheinlich nicht.
Auf dem Klappbett lagen lauter angefangene Zeichnungen. Während die beiden Jungs ein paar Worte austauschten, setzte ich mich hin und schaute sie mir an. Es mussten ganz neue Bilder sein, denn ich kannte sie noch nicht. Ich erfasste sofort, dass es sich wieder um diese bruchstückhaften Erinnerungen an seine Kindheit auf Sizilien handelte, die er in letzter Zeit intensiver denn je zu verarbeiten versuchte. Ich erkannte ein weiteres Mal diesen Mann mit dem schwarzen Schnurrbart, den er schon öfters gezeichnet hatte. Irgendeine bedeutende Rolle musste er in Domenicos Leben gespielt haben, so viel stand jedenfalls fest.
Ich schaute mir ein Bild nach dem anderen an und merkte gar nicht, dass die Jungs in der Zwischenzeit in die Küche gingen.
Da waren eine weitere Zeichnung mit einem Fischerboot und ein neuer Versuch, ein bestimmtes Zimmer räumlich zu erfassen und zu Papier zu bringen – beides Dinge, die er schon oft gemalt hatte. Ein Strand mit einer Felsklippe. Und ein Haus an einem Hang. Ich würde wohl nie aufhören können, über sein enormes Zeichentalent zu staunen. Trotzdem ... seine inneren Bilder kamen zweifelsohne immer stärker in ihm hoch, und ich spürte, dass er verzweifelt versuchte, das Puzzle zusammenzusetzen. Irgendwann musste in dieser Hinsicht einfach etwas geschehen. Er konnte nicht ewig mit diesen ungelösten Rätseln in seinem Herzen leben.
Ich legte die Bilder zur Seite und gesellte mich zu Domenico und Patrik in die Küche.
Domenico holte gerade eine Glasschale mit in Alufolie eingewickelten Kugeln aus dem Kühlschrank und schaltete den Ofen ein.
«D-da bist du ja.» Patriks Blick hellte sich auf, als er mich sah. «W-wie war eigentlich d-dein letzter Schultag?» Er kriegte sein Stottern einfach nicht ganz weg, aber uns störte es nicht.
Ich seufzte. Mein letzter Schultag … ein Kapitel, das ich am liebsten schnell vergessen wollte.
«Isabelle hat mir nochmals so richtig den Kopf gewaschen», stöhnte ich. «Ich durfte mir wieder einmal mehr anhören, wie falsch und feige und hinterhältig ich bin.»
Domenico drehte sich um und sah mich scharf an. «Isabelle kann von Glück reden, dass ich ihr nie mehr über den Weg gelaufen bin.»
«S-sie war immer so», sagte Patrik. «V-von Anfang an.»
Ja, ich erinnerte mich ziemlich präzise an meinen ersten Schultag in der Realschule. Mir war Isabelle gleich als eine der Ersten aufgefallen – neben der bildhübschen Delia. Ich hatte mich von Anfang an vor dem großen, herrischen Mädchen gefürchtet und mich von ihr ferngehalten, weil ich gespürt hatte, wie sie tickte.
«Sie war neidisch, weil ich nix von ihr wollte», sagte Domenico ruhig und stellte die Glasschale in den Ofen. Dann lehnte er sich mit verschränkten Armen an den Herd und beobachtete uns. Obwohl wir schon Oktober hatten, trug er immer noch kurze Ärmel, so dass seine Tätowierung am rechten Oberarm sichtbar war.
«Was? Neidisch? Natürlich nicht, Nicki. Sie konnte dich nie leiden», meinte ich.
Er verdrehte die Augen, wie er es oft machte, wenn er mit etwas nicht einverstanden war.
«Sag schon! Wie kommst du jetzt darauf?»
«Sie hat 'ne Riesenszene gemacht, als ich mit Delia zusammen war. Ich bin mit ihnen ausgegangen an diesem Abend. Sie haben sich beide an mich rangeschmissen. Und ich hab mich für Delia entschieden. Isabelle ist rausgerannt und hat auf dem Klo geheult. Die ganze Schminke war verschmiert, als sie zurückgekommen ist. Ich hab's genau gesehen.»
«Das kann ich kaum glauben. Isabelle und weinen? Unmöglich!» Nie im Traum konnte ich mir vorstellen, dass dieses stolze, herrschsüchtige Mädchen je eine Träne vergießen würde.
«Klar. Was denkst du denn? Glaubst du, ich erzähl dir Mist? Ich mein, ich seh genau, ob jemand geweint hat oder nicht.»
Er drehte sich wieder um und stellte den Timer auf die richtige Zeit ein. Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich das für möglich halten sollte. Allerdings musste schon gesagt sein, dass Domenico eine erstaunliche Gabe hatte, Menschen zu durchschauen …
«Ich geh mal für'n Moment raus, okay?», meinte er plötzlich und holte seine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche. «Ihr könnt ja schon mal den Tisch decken, wenn ihr wollt. Den Salat mach ich nachher.»
Wir nickten.
Ich schaute ihm nach, als er auf den Balkon ging. Mir fiel wieder mal auf, wie dünn er immer noch war, obwohl er nicht gerade wenig Süßigkeiten in sich hineinstopfte. Er nahm einfach nicht zu, nicht mal von den Medikamenten, die er gegen seine bipolare Störung nehmen musste. Vielleicht, weil er so viel Temperament hatte und ständig in Bewegung war.
«Ich m-mach mir Sorgen um ihn», meinte Patrik leise, als ob er meine Gedanken erraten würde.
«Warum?» Ich schaute ihn an. Patrik kam mir immer ein wenig vor wie ein kleiner Bruder.
«Er r-raucht wieder so v-viel in letzter Zeit. Ich g-glaub, er k-kommt nicht ganz klar, wenn er allein ist …»
«Ist das wirklich so?», fragte ich mit gedämpfter Stimme. Ich hatte Nicki die letzten Tage ja nicht so oft gesehen.
«G-gestern, bevor ich zur Sch-schule bin, hat er eine neue P-packung aufgemacht. Und als ich drei St-tunden später wieder nach Hause gekommen bin, war sie sch-schon leer. Er g-gibt es nicht zu, aber ich hab's g-genau gesehen, weißt du. Irgendwas scheint ihn t-total zu beschäftigen …»
Ich nickte resigniert. Seine Nikotinsucht war mir sowieso ein unerklärliches Rätsel, und ich hatte beinahe aufgehört, an eine Lösung für dieses Problem zu glauben. Ich hatte es akzeptiert, dass er ein gewisses Maß an Zigaretten brauchte, um sich wohlzufühlen. Aber ich machte mir Sorgen um seine Lunge, von der bereits ein Teil herausoperiert worden war, weil er sie in der Vergangenheit zu sehr strapaziert hatte.
«Ich g-glaub, dass er seinen B-bruder immer noch extrem vermisst, Maya …», flüsterte Patrik. «Er t-tut zwar immer so, als sei alles okay, a-aber … ich b-beobachte ihn, weißt du. S-seine Augen sind so ... ich weiß nicht. I-irgendwie so wie damals, als er in der K-klinik war ...»
Ja, was Nicki alles trieb, wenn er allein war, wusste ich nie so richtig. Darüber redete er ja nicht. Aber dass die Wunde, die Mingos Tod hinterlassen hatte, noch lange bluten würde, darauf hatte ich mich eingestellt. Genauso wie darauf, dass mein Herz bluten würde, falls Mama wirklich an ihrer Krankheit sterben sollte …
«W-weißt du, er war heute V-vormittag auf dem Jugendamt wegen Manuel», flüsterte Patrik weiter. «Hinterher war er g-ganz komisch. Ich w-weiß nicht, was dort passiert ist.»
Tja, die Sache mit Mingos Sohn war zurzeit auch alles andere als einfach …
«Und er m-malt auch ständig diese B-bilder von Sizilien», fuhr Patrik fort. «Und nachts werkelt er st-ständig in der K-küche rum und schläft erst am Morgen, wenn meine M-mutter und ich aus dem Haus gehen. Ich h-hab gesehen, dass er manchmal total starke Schlaftabletten nimmt. Er s-sagt, er k-kriegt das nicht ohne die hin.»
«Hmm …» Ich schielte vorsichtig zur Balkontür hinaus. Domenico lehnte sich ans Geländer und schien ganz in Gedanken versunken zu sein. Neben ihm stieg Zigarettenrauch in die Luft, dessen Geruch sich durch die Ritzen in die Küche stahl.
«Ich w-würde ihm so gern helfen», sagte Patrik. «Er ist … der b-beste Freund, den ich je hatte … und er h-hat so viel für mich g-getan. Er ist wie ein B-bruder, weißt du … und ich k-kann mit ihm über alles reden. A-aber man k-kann ihn so schwer fassen …»
«Es ist unmöglich, ihn je ganz zu erfassen, glaub ich», murmelte ich. «Es ist wohl noch niemandem gelungen, völlig an ihn heranzukommen. Aber ich freu mich über jedes bisschen mehr, das er mir von sich zeigt.»
«Ich w-werde ihn so v-vermissen, wenn er weg ist … Weißt du, er p-passt auf mich auf, d-dass ich nicht zu viele Süßigkeiten nasche, weil ich doch a-abnehmen möchte …»
Auf einmal stand Domenico wieder bei uns.
«Was redet ihr über mich?», fragte er.
«Nichts …» Natürlich konnten wir ihm nichts vormachen.
Er beließ es dabei, kniff seine Augen zusammen und sah nach den Arancini.
«Cori mia, wolltest du nicht den Tisch decken?», fragte er sanft.
«Doch», murmelte ich und stand auf, um das Geschirr aus dem Schrank zu nehmen.
Er regulierte die Hitze im Ofen, dann begann er, den Salat zu waschen und zu schneiden. In der Zwischenzeit deckten Patrik und ich den Esstisch im Wohnzimmer, das zugleich auch Schlafzimmer seiner Mutter war.
«Welche möchtet ihr zuerst essen?», fragte Domenico, als es so weit war. «Ich hab welche mit Bolognese-Sauce gemacht und welche mit Mozzarella.»
Wir einigten uns auf Bolognese. Domenico hatte für jeden insgesamt zwei Arancini gemacht.
Eigentlich hatten wir meinen Schulschluss feiern wollen, aber irgendwie war keiner von uns so richtig in Partystimmung. Die beiden Standpauken von Isabelle und Frau Galiani hatten mir irgendwie die Laune verdorben. Und auch Nicki war eindeutig etwas über die Leber gekrochen.
«Was läuft jetzt mit Manuel?», wollte ich wissen. «Darfst du ihn nun bald wieder öfters sehen?»
«Ach, vergiss es.» Er winkte ab und starrte seinen Teller an.
«Nein, sag schon!» Bei ihm musste man meistens hartnäckig nachfragen.
«Ach, ich hab keine Chance. Die blöde Psychologin meint eh, ich sei schuld, dass der Kleine so durcheinander ist.»
«Aber wieso denn?», empörte ich mich. «Ich versteh das einfach immer noch nicht!»
Carrie war mit Manuel zu einer Kinderpsychologin gegangen, weil ihr kleiner Sohn regelmäßig stundenlange Heulanfälle hatte und das ganze Haus zusammenbrüllte. Was allerdings nie der Fall gewesen war, wenn Domenico bei ihm war.
Domenico zuckte mit den Schultern und zerdrückte das Reisbällchen mit seiner Gabel. «Ich hätte ihn zu stark an mich gebunden und blabla. Ich wolle mit Manuel ja nur meinen toten Zwillingsbruder ersetzen und so Psychokram. So 'n kranker Quatsch, ey. Stimmt doch alles gar nicht.»
Ich suchte nach den richtigen Worten.
«Mensch, ich weiß, dass Mingo tot ist, okay? Ich hab's kapiert. Aber ich liebe den Kleinen eben. Er ist wie ein Sohn für mich, ey! Ich hab ihm versprochen, ihn zu beschützen. Ich hab's Mingo versprochen. Aber diese vollkranke Psychotante setzt sich mit aller Kraft dafür ein, dass ich ihn nur noch einmal im Monat sehen darf. Diese bescheuerte Frau hat doch null Durchblick!»
«Aber es ist doch offensichtlich, dass der Kleine so viel brüllt, weil er dich vermisst!», rief ich. Diese Psychologin war wirklich neben den Schuhen, das fand ich ebenfalls.
«Sag ich ja auch, aber die dumme Zicke weiß es besser.»
«Und was meint Carrie dazu?», wollte ich wissen.
Domenico war in der Vergangenheit öfters recht barsch zu Carrie gewesen und hatte sie gnadenlos herumkommandiert, wenn er der Meinung gewesen war, dass sie sich nicht angemessen um Manuel kümmerte. Das war etwas, was ein Punkmädchen wie Carrie sich natürlich nicht ohne weiteres gefallen ließ. Aber dass Nicki nun Manuel so gut wie nicht mehr sehen durfte, lag wohl auch nicht in ihrem Interesse.
«Die muss parieren, wenn sie ihr Kind behalten will. Und ich kann nix machen. Bin ja immer noch auf Bewährung bis Ende März. Der Bahlke meinte, ich hätte bis jetzt Glück gehabt, dass keiner Anzeige gegen mich erstattet hat. Na ja …» Sein Blick wurde noch düsterer. «Jetzt hält mich eh nix mehr hier.»
«Aber das kannst du doch nicht einfach akzeptieren, Nicki», sagte ich.
Er schloss die Augen. «Irgendwann werd ich ihn zu mir holen. Sobald ich in Berlin bin und nicht mehr unter dieser Kontrolle stehe, lass ich mir was einfallen.»
«Aber nicht wieder eine Entführung!» Ich schaute ihn schockiert an.
Er zuckte mit den Schultern. «Kommt drauf an.»
«Nein, Nicki, das kannst du nicht machen! Spinnst du?»
Er sah mich wieder an, und in seinen Augen zuckten die mir wohlbekannten unheilvollen Blitze auf. «Meinst du, ich überlass Manuel seinem Schicksal?», zischte er wütend. «Falls denen irgendwie einfallen sollte, ihn wegzugeben, in ein Heim oder 'ne Pflegefamilie oder sonst wohin, dann … kann ich dir nicht garantieren, dass ich noch Rücksicht auf irgendwelche Gesetze nehme, sorry. Ich hab Mingo und Manuel ein Versprechen gegeben, und das halte ich. Basta.»
Ich ahnte, dass es nur den Medikamenten zu verdanken war, dass er an diesem Vormittag auf dem Jugendamt nicht randaliert hatte.
«Meinst du nicht, Morten könnte dir helfen? Du hattest doch selbst mal diese Idee», versuchte ich seinen Wutausbruch abzuwiegeln.
«Dafür ist es noch zu früh», sagte er bitter. «Im Moment kann ich überhaupt nix anderes tun als warten. Morten hat den Kleinen ja noch nicht mal gesehen.»
Gleich darauf klingelte sein Mobiltelefon. Er hatte sich ein altes Exemplar von seinem Kumpel Mike ausleihen müssen, weil sein eigenes ja immer noch in Tonis Händen war.
«Minghia!», schimpfte er, als er auf dem Display den Anrufer checkte. Er stand auf und verließ mit dem Handy den Raum.
«Seine M-mutter ruft ihn m-mindestens fünfmal am Tag an», raunte Patrik.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. «Was will sie denn dauernd von ihm?»
Aber noch viel mehr fragte ich mich, woher Maria seine neue Handynummer hatte und warum er überhaupt ranging, wo er doch ständig behauptete, nicht mit ihr reden zu wollen.
Wir hörten, wie er in der Küche lautstark diskutierte, und ich versuchte, ein paar Worte zu verstehen, doch er redete viel zu aggressiv und zu schnell. Außerdem sprach er in seinem sizilianischen Dialekt.
Etwas später hörten wir, wie er das Handy zornig auf den Tisch knallte und auf den Balkon stürmte.
«Jetzt geht er wieder r-rauchen», murmelte Patrik.
Wir warteten mit Weiteressen, bis Domenico wieder zu uns zurückkam.
«Wollt ihr noch Arancini?», fragte er, obwohl wir die erste Portion noch gar nicht fertig geschafft hatten.
Patrik wollte sofort aufstehen, doch Domenico nahm ihm den Teller aus der Hand.
«Gib her. Ich mach das. E ttu, bedda mi'?»
Ich nickte. «Gern.»
Ein paar Minuten später war er wieder da und brachte uns die neu gefüllten Teller. Ich sah, wie seine Hand richtig stark zitterte, als er sie auf den Tisch stellte. Das Telefongespräch musste ihn erneut aufgewühlt haben.
«Was wollte deine …», begann ich, doch er kam mir zuvor.
«Hat Jenny eigentlich wieder angerufen?», wandte er sich an Patrik. Ein eindeutigeres Ablenkungsmanöver hätte ihm nicht einfallen können. Patrik warf mir einen Blick zu, der mir signalisierte, dass es besser war, auf diesen Themenwechsel einzugehen. Außerdem war Jenny ein Thema, das im Moment sein Herz sowieso fast zum Überlaufen brachte.
«Ja», seufzte er deshalb. «S-sie ist immer noch so t-traurig. Ich weiß gar n-nicht, was ich machen soll.»
«Sie wird drüber hinwegkommen», meinte Domenico und verschlang sein Essen ziemlich hastig. Es war meinen Eltern nie ganz gelungen, ihm gute Tischmanieren beizubringen. Doch spätestens dann, wenn er eines Tages wirklich in der Gastronomie arbeiten sollte, würde er es lernen müssen.
«Sie war halt meine erste F-freundin», sagte Patrik traurig. «A-aber ich hätte es k-keinen Tag mehr ausgehalten …»
«Mir brauchst du nix zu sagen. Ey, ich weiß, wie anstrengend Jenny sein kann», stöhnte Domenico. «Sie hat mich auf Sizilien manchmal fast zum Wahnsinn getrieben. Was die plappern konnte! Ey nee, ich mein, das hält kein normaler Mensch aus. Jen braucht echt jemand, der damit umgehen und ihr trotzdem Grenzen setzen kann und so. Und du brauchst 'ne ruhigere Frau, glaub ich.»
Patrik nickte. Domenico hatte anscheinend schon oft versucht, ihn zu trösten, aber es fiel ihm trotzdem nicht leicht, über die Trennung hinwegzukommen.
«W-was mach ich b-bloß, wenn ihr dann in Berlin seid?», murmelte er traurig. Patrik war einer der wenigen, die in unsere geheimen Zukunftspläne eingeweiht waren. «Ich werde euch s-so vermissen. Außer euch h-hab ich d-doch kaum Freunde …»
«Dann komm doch einfach mit», meinte Domenico, der sich offensichtlich wieder etwas beruhigt hatte. «Sag ich dir doch dauernd. Wir könnten 'ne WG zu dritt machen.»
Doch Patrik schüttelte nur bedröselt den Kopf. «Ich k-kann meine M-mutter nicht allein hier lassen …»
Nicki und ich wussten beide, dass Patrik zu sehr an seiner Mutter hing, als dass er jemals ausziehen würde, deswegen drangen wir nicht weiter in ihn ein.
Etwas später machte Domenico die Küche sauber (er bestand darauf, dass wir sitzenbleiben sollten) und verdrückte sich danach nochmals auf den Balkon, um zu rauchen.
Patrik war extra in die Bibliothek gefahren, damit Nicki und ich ein paar Stunden für uns hatten. Das fand ich extrem nett von ihm. Denn Domenico war immer noch der Meinung, dass es zu gefährlich sei, sich bei mir zu Hause oder irgendwo draußen aufzuhalten.
«Machst du dir nicht ein bisschen zu viel Sorgen?», fragte ich. Ich hatte bis jetzt noch niemanden von den Gangs in der Straße bei mir daheim rumlungern sehen. «Janet ist doch nicht mehr in der Gang. Und wissen die denn wirklich, wo ich wohne?»
«Senti, scia', du hast keine Ahnung, was in der Szene alles läuft», sagte er leise, während er seine Arme um mich schlang und mich auf seinen Schoß zog. Wir saßen in Patriks Zimmer auf dem Klappbett und hatten es uns mit ein paar Kissen an der Wand bequem gemacht. «Ich hab nicht umsonst Suleika gesagt, sie soll das Gerücht in Umlauf setzen, dass ich mit dir wieder Schluss gemacht hab.»
«Du hast bitte was?» Ich wandte mein Gesicht ihm zu.
Seine Lippen legten sich auf meine Wangen und streichelten zärtlich meine Haut.
«Süße, es ging nicht anders», hauchte er mit seiner stets leicht heiseren Stimme. «Ich muss dich einfach schützen. Deshalb dürfen wir auf keinen Fall zusammen gesehen werden. Ich mein, schon dich von der Schule abzuholen war 'n Risiko.» Seine Arme zogen sich enger um mich. Ich fühlte, wie heftig sein Herz schlug, fast so, als hätte er gerade einen großen Kampf ausgestanden.
«Die Xenon-Tigers haben mir gesteckt, dass Toni bereits 'nen Racheplan gegen mich ausgeheckt hat», erklärte er schließlich mit matter Stimme. «Der wird nicht ruhen, bis er mich kriegt. Selbst wenn er in den Knast kommt, hat der genug Leute, die mich fertigmachen können. Dass jetzt alles so ruhig scheint, ist nur Täuschungsmanöver, verstehst du? Er will, dass ich mich in Sicherheit fühle. Darum müssen wir doppelt aufpassen jetzt.»
«Verstehe», seufzte ich. Das ganze Versteckspiel begann langsam ziemlich große Ausmaße anzunehmen. Aber ich hatte ja wirklich keine Ahnung, was sich hinter den Kulissen alles abspielte, weil Nicki sich vehement weigerte, mich einzuweihen.
«Und Mila hat auch noch nicht genug», fügte er hinzu. «Siehst du das da auf meiner Wange?» Er deutete auf die Kratzer, die mir vorhin auch schon aufgefallen waren.
«Was ist passiert?» Ich berührte die Stelle vorsichtig mit meinen Fingern.
«Die Weiber – also Mila und ihre Gang – haben mich angegriffen. Sie waren völlig besoffen, sonst hätten sie das nie gewagt. Glaub mir, ich musste denen ziemlich was in die Fresse geben. Kapierst du nun, was da abgeht?»
Der drohende Unterton in seiner Stimme, als er über diese Mädchen redete, machte mir wieder mal richtig Angst. Sofort musste ich wieder an Janets Geschichte denken. An die schreckliche Story mit den Zigarettenkippen. Mich schauderte. Und ein leiser Gedanke meldete sich: Wenn er den Mädchen das wirklich angetan hat – war es dann nicht verständlich, dass sie sich rächen wollten? Müsste er sich dann nicht eigentlich bei ihnen entschuldigen?
Fast unwillkürlich zog Nicki mich enger an sich, als würde er spüren, was in mir vorging.
«Hab keine Angst, cori mia», flüsterte er mir zärtlich ins Ohr und streichelte meine Wange. «Komm, ich verwöhn dich 'n bisschen. Das brauchst du jetzt. Lehn dich an mich.»
Ich gehorchte seiner Aufforderung und versuchte mich zu entspannen, während er sehr vorsichtig seine Hand unter mein T-Shirt schob und ganz zart meinen Bauch streichelte.
Ich schloss die Augen und versuchte, diese Geschichte aus meinem Bewusstsein zu verdrängen. Wenn er mich so liebevoll anfasste, konnte ich mir einfach kaum vorstellen, dass er so etwas Schreckliches getan hatte.
Und dennoch …
Ein anderer Gedanke durchzuckte mich auf einmal wie ein schmerzhafter Blitz. Unwillkürlich öffnete ich die Augen und fuhr wieder hoch.
«Sag mal, hast du Ayse, meine Schulkollegin, ein paar Mal angemacht?», fragte ich eine Spur zu heftig.
Er zog seine Hände zurück und schaute mich an, als wäre ich nicht recht bei Trost. «Sag mal, spinnst du?»
«Na ja, sie meinte zu mir, du hättest sie manchmal ziemlich intensiv angeschaut …»
«Jetzt hör doch endlich mal auf mit diesen Geschichten», brauste er auf. «Vertrau mir doch endlich mal. Ey, ich liebe dich, bedda mi'!»
Ich zitterte auf einmal am ganzen Körper. Nicki spürte es und legte etwas zaghaft wieder seine Hand auf meinen Bauch. Ich sah, dass er sich seine Lederbänder, die er immer um seine Handgelenke trug, neu gebunden hatte.
«Sag mal, was bedrückt dich denn?», fragte er leise. Seine Stimme versagte fast. Er hatte immer etwas Probleme mit seinen Stimmbändern. Das kam von seinem übermäßigen Zigarettenkonsum. Auch seine Zähne sahen deswegen alles andere als schön und gepflegt aus.
«Ach, nichts … vergiss es …»
«Hey, du kannst mir doch alles sagen …», flüsterte er zärtlich. «Ich bin doch immer für dich da.»
Ich holte tief Luft. Nein, genau über diese eine Sache konnte ich mit ihm nicht reden, das wusste ich genau.
Er schob meinen Ärmel zurück und küsste meine Schulter und dann meinen Nacken. Ein angenehmer Schauer fuhr durch meinen Körper.
«Ich mein, ich kann auch aufhören», sagte er wehmütig. «Wenn du nicht möchtest, dass ich dich berühre, musst du es nur sagen.»
«Ich … ich möchte es nicht überstürzen», suchte ich schnell nach einer glaubwürdigen Antwort.
«Aber das mach ich doch gar nicht», antwortete er leise und zog meinen Ärmel wieder runter. «Keine Angst. Ich werde nicht mit dir schlafen, bevor du es nicht möchtest. Das hab ich dir doch gesagt. Ich möchte das hier mit dir richtig machen. Vertrau mir doch endlich.»
Ich fühlte seinen inneren Schmerz, als er dies sagte. Ich spürte richtig, wie all das, was er in der Vergangenheit mit seinen Mädchengeschichten durchgemacht hatte, irgendwie an seiner Seele zerrte.
«Bitte vertrau mir, Principessa», bat er noch einmal, und das Flehen in seiner Stimme beruhigte mich schließlich wieder etwas. Er meinte es wirklich ernst mit mir, daran gab es keinen Zweifel. Und in meinem allertiefsten Innern wusste ich das ja auch. Vielleicht war es wirklich besser, endlich all diese alten Mädchengeschichten zu vergessen und ihm einfach zu vertrauen, egal, was er früher getan hatte …
«Ich glaub, ich bin einfach mit meinen Nerven ziemlich fertig», murmelte ich. «Tut mir leid …»
«Macht doch nichts.» Er legte seine Arme etwas schüchtern wieder um meinen Bauch.
«Ich mag's, wenn du mich streichelst», versicherte ich, als er keine Anstalten mehr machte, mich zu liebkosen.
«Ich will's jetzt besser auch nicht überstürzen», murmelte er in mein Haar.
Wir blieben eine kleine Weile einfach schweigend so sitzen. Ich fühlte wieder einmal die Hitze in seinem Körper. Zweifelsohne kostete es ihn ziemlich viel Kraft, seine Hormone zu kontrollieren und sich zurückzuhalten. Umso mehr wurde mir bewusst, wie viel es bedeutete, dass er sich so zusammenriss, nur um mich nicht zu überrumpeln.
«Jetzt genießen wir erst mal unsere Ferien», sagte er weich. «Das haben wir uns verdient, glaub ich.»
«Ja, allerdings», seufzte ich. Allmählich ging es mir wieder besser und meine Gedanken wurden klarer. Ich beschloss, nicht mehr länger zu grübeln.
«Was macht eigentlich deine Wunde am Bein?», fragte ich stattdessen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Toni ihn am Bein angeschossen. Zum Glück war es nur ein Streifschuss gewesen.
«Ach, viel besser», meinte er. «Ich spür's kaum noch. Ich hatte schon schlimmere Verletzungen.»
Ja, das konnte ich mir denken …
«Wann geht unser Flug noch mal?», fragte er.
«Morgen um halb zwei», sagte ich. «Wir kommen um acht Uhr abends in Palermo an.»
«Okay», sagte er und schien über etwas nachzudenken.
«Hast du nun Salvatore Bescheid gesagt, dass wir kommen?»
«Sciatu mia, ich hab dir doch gesagt, dass ich seine Telefonnummer nicht hab. Aber das geht schon in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.»
«Aber bis wir in Monreale ankommen, wird das doch ziemlich spät, oder? Wir müssen erst noch das Gepäck holen und dann mit dem Bus nach Palermo fahren und dann umsteigen …»
Er grinste ein wenig. «Süße, ich hab gesagt, mach dir keine Sorgen, okay?» Er wühlte sein Gesicht etwas neckisch in mein Haar. Typisch, im Gegensatz zu mir plante Nicki nie etwas. Wir hatten nicht mehr viel Geld für unsere Reise zur Verfügung, da wir ja fast alles für Norwegen ausgegeben hatten. Wir mussten uns daher mit möglichst günstigen Übernachtungsmöglichkeiten arrangieren. Eine Bedingung meiner Eltern war nämlich gewesen, dass ich mir die Reise selber finanzierte. Und da Domenicos Budget von der Jugendhilfe auch nur knapp bemessen war, hatte er vorgeschlagen, dass wir uns bei seinen Freunden auf Sizilien einquartierten.
«Und wenn es nicht geht? Wenn Salvatore und seine Familie uns nicht bei sich übernachten lassen?»
«Wieso sollten die uns nicht bei sich übernachten lassen? Ich versprech dir, falls nicht, finden wir eben was anderes. Ich kenn genug Leute.»
«Meinst du?»
«Klar. Außerdem bleiben wir ja eh nicht ewig in Monreale. Ich will dir ja noch so viele andere schöne Orte zeigen.»
«Bis auf Taormina …»
«Maya … Süße … ich kann nicht ohne Mingo dorthin», sagte er leise. «Das pack ich einfach nicht. Außerdem hab ich ihm fest versprochen, dass ich nie ohne ihn dorthin gehen werde.»
«Du bist auch ohne ihn nach London gegangen …»
«Ja, aber Taormina ist was anderes.»
«Schon klar», sagte ich etwas frustriert. Ich wusste ja, dass er zu seinem toten Zwillingsbruder immer noch eine tiefe Verbundenheit empfand. Trotzdem, der Gedanke, nie mit Nicki zusammen diese schöne Märchenstadt besuchen zu können, stimmte mich nicht gerade glücklich.
«Und Catania müssen wir leider auch auslassen», fuhr er fort. «Wegen Paolo. Wenn der erfährt, dass ich dort bin, macht er mich zu Hackfleisch.»
Na gut, auf Catania konnte ich auch verzichten. Ich hatte es ja schon gesehen, und es war in meinen Augen nicht viel mehr als einfach eine Großstadt. Aber eine andere Frage tauchte auf …
«Du, sag mal, gibt das eigentlich keine Probleme mit Salvatore? Paolo und Salvatore sind ja Cousins … und soweit mir bekannt ist, halten die Familien auf Sizilien ja ziemlich zusammen.»
Er legte seinen Kopf leicht schief. «Na ja … das hoff ich jetzt mal nicht. Aber falls doch, dann merk ich das schnell, und ebenso schnell sind wir dann auch wieder verduftet. Drum ist es umso besser, wenn wir uns nicht anmelden. Dann kann Paolo auch nicht vorgewarnt werden.»
«Na toll», sagte ich.
«Ey, ich glaub nicht, dass Salvo uns verraten wird», beruhigte er mich. «Wir sind Freunde. Mingo und ich gehören auch schon fast zur Familie. Und soweit ich weiß, haben Salvatore und sein Vater auch mit Paolo nicht so viel am Hut. Er hat Paolo immer einen geldgierigen Sack genannt. Aber Paolo war der Einzige, der uns damals helfen konnte wegen dem Methadon, als Mingo wieder mit dem Spritzen anfing. Deswegen sind wir nach Catania gegangen.»
«Hoffen wir mal das Beste … Ich würde eigentlich ganz gern ein paar Tage in Monreale bleiben», sagte ich. «Ich würde mir nämlich gerne nochmals die Schule ansehen, wo du damals Mamma Rosalia gesucht hast. Und ich dachte, wir könnten ja auch deine Bilder mitnehmen und nachsehen, ob es dieses Zimmer, das du immer zeichnest, tatsächlich gibt.»
Das hätte ich besser nicht sagen sollen! Sofort spürte ich, wie sich seine Bauchgegend zusammenzog.
«Maya – ich will nicht in meiner Vergangenheit rumforschen, okay?» Seine Stimme war unverhältnismäßig barsch. «Ich will nur Ferien machen dort und dir all die schönen Sachen zeigen, e basta!»
«Ja, danke auch. Musst du mich denn immer gleich anschnauzen?»
«Tut mir leid», entschuldigte er sich sofort erschrocken und umklammerte mich wieder fester. «Süße …»
«Ich denke halt einfach, es würde dir helfen», kämpfte ich weiter. «Du versuchst ja dauernd, deine Erinnerungen aufzuzeichnen.» Ich beugte mich ein wenig über den Bettrand und hob das Bild auf, das den Mann mit dem schwarzen Schnauzer zeigte.
«Das ist was anderes», sagte er leise. «Bilder kann ich so zeichnen, wie ich sie haben will. So, wie es in mir drin aussieht. Aber wenn ich erfahre, dass es in Wahrheit doch nicht so ist, muss ich wieder von vorne anfangen …»
«Von vorne anfangen?»
«Na ja, ich hab jetzt versucht, die ganze Kacke zu verarbeiten und das Chaos in mir drin irgendwie auf die Reihe zu kriegen. Ich will nicht, dass das nun wieder alles durcheinander gerät.» Seine Finger entspannten sich wieder etwas, doch ich spürte bereits wieder seinen Drang nach der nächsten Zigarette.
«Verstehe», sagte ich. «Aber du weißt ja jetzt zum Beispiel immer noch nicht, wer dieser Mann war, oder? Ist das denn nicht belastend, mit dieser Ungewissheit zu leben?»
Er zuckte mit den Schultern. «Es genügt mir zu wissen, dass es ihn gegeben hat.»
«Hast du denn wenigstens eine Vermutung, wer es sein könnte?»
Ich spürte, dass ich ihn mit meinen Fragen quälte, und beschloss, gleich wieder damit aufzuhören. Überraschenderweise gab er mir doch Antwort.
«Ich glaub, er war ein Fischer, der irgendwo da bei den Stränden in der Nähe von Palermo lebte. Mamma Rosalia ist ja immer mit uns an den Strand gegangen. Wahrscheinlich haben wir dort gespielt.»
«Aber vielleicht könntest du ihn treffen und hättest eine schöne Begegnung?», sagte ich.
«Und was, wenn ich rausfinde, dass es ihn doch nicht gegeben hat? Oder dass er gar nicht gut war? Was, wenn ich rausfinde, dass ich einfach nur verrückt bin? Nee, danke!»
«Ich glaube nicht, dass du verrückt bist», sagte ich leise. «Ich meine, diese Erinnerungen kommen nicht von ungefähr.»
«Weiß ich nicht. Die Psychiater haben mich als psychisch schwer geschädigt abgestempelt. Was soll ich denn da glauben? Nee – im Moment komm ich mit den Sachen einigermaßen zurecht, ich will mir das jetzt nicht kaputtmachen lassen. Ich will endlich klarkommen mit mir, wenn wir dann zusammen nach Berlin gehen. Ich will, dass wir es dann richtig schön haben dort. Ich will keine psychischen Probleme und so 'ne Kacke mitnehmen und dich dann dauernd belasten, verstehst du das?»
Ich nickte.
«Darum schau ich mir auch die blöden Fotos von meiner Mutter nicht an», fuhr er fort.
«Du meinst, die Fotos in dem Umschlag, den sie dir gegeben hat? Sind es wirklich Fotos?»
«Ich geh davon aus.»
«Und was wirst du damit machen?»
«Ich nehm den Umschlag mit nach Sizilien und schmeiß ihn dort ins Meer.»
«Ehrlich jetzt?»
«Na klar. Ich hasse Fotos sowieso. Und ich hasse es, dass Leute immer alles fotografieren müssen.»
«Warum denn?», fragte ich. «Fotos sind doch immer eine schöne Erinnerung.»
«Ich will lieber meine eigenen Erinnerungen haben, nicht das, was Fotos mir zeigen», sagte er. «Ich hab schöne Erinnerungen an das Meer und an unsere Mutter, die immer mit uns dorthin gegangen ist. Das genügt mir. Das will ich mir nicht kaputtmachen lassen, okay?»
«Mutter – du redest jetzt aber von Mamma Rosalia?»
«Wer denn sonst? Die andere ist doch keine Mutter …»
«Warum gehst du dann immer ran, wenn sie anruft?», fragte ich und konnte den lauernden Tonfall in meiner Stimme nicht unterdrücken.
«Tu ich doch gar nicht.»
«Aber vorhin hast du es getan.»
«Ich hab ihr nur gesagt, dass sie mich in Ruhe lassen soll.»
Ich schwieg. Patrik hatte mir was anderes erzählt. Er hatte mir gesagt, dass Nicki in letzter Zeit öfters mit seiner Mutter telefonierte.
«Wie ist sie überhaupt an deine Handynummer gekommen?»
«Oh, Süße, können wir das Thema wechseln? Ich will nicht über diese Frau reden, ehrlich!»
Doch nach einer kurzen Schweigepause fuhr er auf einmal mit veränderter Stimme fort: «Ich meine, das ist doch voll krank! Die ganze Zeit hat sie uns nur Blödsinn erzählt, und wenn wir was von Mamma Rosalia gesagt haben, hat sie nur gemeint, Mamma Rosalia hätte es gar nicht gegeben, sie sei unsere Mutter und wir sollen den ganzen Mist einfach vergessen. Und jetzt kommt sie auf einmal und will mir die ganzen Sachen geben, die wir noch von Sizilien haben. Ich mein, ey, was soll denn das? Hätte sie auch früher tun können.» Er schob mich sachte zur Seite, um aufstehen zu können. Er konnte dem Verlangen nach einer Fluppe wohl nicht mehr widerstehen.
Ich blieb sitzen, während er auf den Balkon ging. Ich wusste, dass ich mir kein leichtes Leben an seiner Seite ausgesucht hatte, und obwohl ich ihn liebte, gab es immer noch Augenblicke, wo ich an meiner Entscheidung, mich mit ihm zu verloben, zweifelte.
Ich starrte auf das Flugzeugposter an der gegenüberliegenden Wand und fragte mich, ob meine Zukunft wohl je wieder rosiger werden würde …
Als Domenico zurückkam und sich setzte, musste er husten. Er hustete öfters; das kam garantiert vom vielen Rauchen. Und da er es bis jetzt immer noch nicht geschafft hatte, für längere Zeit aufzuhören, hatte auch dieser Husten nie ganz ausheilen können. Im Gegenteil.
«Du, ich mach mir echt Sorgen um dich», platzte ich heraus.
«Brauchst du doch nicht», sagte er sanft und wollte seine Arme wieder um mich legen. Doch ich drehte mich schnell zu ihm um und legte meine Hand auf seine Brust.
«Doch. Deine Lunge schmerzt dich. Und du rauchst wieder so viel …» Ich begann, seine Brust zu massieren. Obwohl ich mich an den Zigarettengeruch schon ziemlich gewöhnt hatte, fiel er mir dennoch jedes Mal unangenehm auf.
Er schloss seine Augen und legte seinen Kopf auf meine Schulter. Er mochte es, wenn ich seine Brust massierte, das wusste ich.
«Jaaa, ich weiß … dieser dauernde Stress halt. Und weil du mir so gefehlt hast. Aber hab keine Angst. In Berlin werde ich endgültig aufhören. Ich versprech's dir.»
«Schön, aber du hast es dir schon so oft vorgenommen … Langsam fällt es mir schwer, noch daran zu glauben, verstehst du?»
«Ich weiß, aber wenn du dann jeden Tag bei mir bist, wird es mir leichter fallen», flüsterte er. «Ich bin ja immer dann abgestürzt, wenn wir lange Zeit getrennt waren. Ich brauch dich eben …» Er verteilte ein paar zärtliche Küsschen auf meinem Nacken, während ich ihn weiter streichelte.
«Mach dir um mich keine Sorgen, Principessa. Du hast genug eigene im Moment … Außerdem rauch ich ja nur noch die schwächste Sorte. Ich pass auf, ehrlich.»
Er saugte ein klein wenig an meiner Haut, und ein ekstatischer Stromstoß jagte durch meinen Körper. Ich zuckte zusammen und zog unwillkürlich meine Hand zurück, die immer noch auf seiner Brust lag. Er lächelte und machte die Augen wieder auf.
«Du bist so unglaublich», grinste er.
«Nicki, das ist nicht lustig», murrte ich, wütend über mich selber, weil ich schon wieder auf sein Ablenkungsmanöver reingefallen war. «Ich mach mir wirklich Sorgen um die Zukunft.»
«Komm schon, bedda mi', die Zukunft sind jetzt erst mal unsere Ferien. Und ich werd dich jeden Tag verwöhnen, damit es dir bald besser geht. Du brauchst mir nur zu sagen, was du möchtest, ja?»
Ich nickte müde und lehnte mich an seine Brust. Ich verzichtete auf weiteren Widerstand. Wenn er nicht über diese Dinge reden wollte, wollte er eben nicht.
«Soll ich dir jetzt eigentlich immer noch in Italienisch helfen?», wechselte er das Thema. «Du gehst ja nun vorerst nicht mehr zur Schule.»
«Hmmm», murmelte ich schläfrig. Stimmt, ein bisschen Italienischunterricht wäre gar nicht schlecht, besonders im Hinblick auf unsere Reise nach Sizilien.
«Wir können das Buch ja trotzdem noch zu Ende pauken», schlug ich vor.
«Okay. Ich geh nochmals auf den Balkon, dann können wir loslegen.» Er rutschte wieder vom Bett und ließ mich die nächsten paar Minuten allein.
Ich holte inzwischen das Buch aus meiner Schultasche und suchte die Seite, die gerade dran war.
Nachdem Nicki zurück war und sich wieder so auf dem Bett platziert hatte, dass ich mich an ihn lehnen konnte, las ich ihm die kleine Kurzgeschichte auf Italienisch vor. Er hörte zu und korrigierte meine Aussprache, wenn ich danebenhaute. Vor allem mit dem R hatte ich so meine Probleme.
«Ich krieg's einfach nicht hin», jammerte ich.
«Ich hab dafür Probleme mit dem deutschen R», tröstete er mich. Das stimmte: Wo ich im Italienischen das R manchmal zu wenig rollte, rollte er es dafür im Deutschen eine Spur zu stark.
Danach übersetzten wir den Text zusammen ins Deutsche, und es war dieses Mal ziemlich schwierig, weil die Geschichte irgendwie recht abstrus war. Es ging um eine italienische Opernsängerin, die auf einmal nicht mehr aufhören wollte zu singen und Tag und Nacht weitersang, bis sie ihre Stimme verloren hatte und sich deswegen am Schluss das Leben nahm.
Sogar Domenico fand das ziemlich bescheuert.
«So 'n Quatsch», brummte er. «Die sollten doch lieber was über das wirkliche Leben schreiben.»
«Tja …» Ich schüttelte den Kopf. Mit diesem fantasievollen Ansatz der Sprachvermittlung konnte ich auch nicht gerade viel anfangen. «Bis ich wirklich Italienisch kann, wird's wohl noch einiges brauchen.»
«Das wird schon. Ich konnte ja am Anfang auch kein Deutsch», tröstete mich Domenico.
«Aber du hast es bestimmt schneller gelernt als ich Italienisch.»
«Weiß ich nicht mehr. Am Anfang haben wir einfach gar nix verstanden. Und wir konnten das blöde H nicht aussprechen. Und das Ü auch nicht. Wir wurden immer ausgelacht. Deswegen haben wir meistens lieber mit Italienern rumgehangen.» Er gähnte und streckte sich ein wenig.
«Aber auf einmal ging es dann. Kann dir nicht sagen, warum. Auf einmal haben wir Deutsch geredet, und keiner hat mehr gelacht.»
«Was kannst du besser? Deutsch oder Italienisch?» Ich hatte ihn das noch nie gefragt, obwohl es mich schon lange interessierte.
«Schwer zu sagen. Ich glaub schon Italienisch. Fällt mir irgendwie leichter. Aber es gibt Wörter, die ich nur auf Deutsch kann, weil ich ja hier zur Schule gegangen bin und nicht in Sizilien. Das ganze Zeug halt, was man in der Schule so lernt.»
«Ihr habt aber trotzdem auch Deutsch zusammen gesprochen, Mingo und du, nicht wahr?» Das war auch so ein Phänomen, das mir damals oft aufgefallen war.
«Kann sein. Aber ich glaub, wenn wir unter uns waren, haben wir nur Italienisch gesprochen. Ich weiß auch nicht, manchmal war's uns einfach peinlich, vor den anderen Leuten Italienisch zu reden. Keine Ahnung, wieso.»
Als wir fertig waren, war es schon halb sechs.
«Lass uns aufbrechen», sagte er. «In 'ner halben Stunde musst du zu Hause sein.»
Er achtete immer sehr darauf, mich pünktlich daheim abzuliefern. Während er unsere Jacken und die Helme holte, schaute ich mir seine Bilder nochmals an. Er hatte mir nie gesagt, wer ihm eigentlich das Zeichnen so gut beigebracht hatte. Von wem er dieses Talent geerbt hatte. Ich wusste nicht, ob Morten künstlerisch veranlagt war. Aber irgendwie fiel mir die Vorstellung schwer, dass er das von seiner Mutter Maria geerbt haben sollte.
«Leg sie weg», knurrte er, als er zurückkam. «Sie sind nicht gut. Komm, zieh das an.» Er hielt mir seinen schwarzen Kapuzenpullover hin. «Du frierst mir sonst wieder auf dem Motorrad.»
Ich nahm seinen Pulli und schlüpfte hinein; danach erst reichte er mir meine Jacke.
«Hast du eigentlich schon gepackt für morgen?», fragte ich.
«Nee, du?»
«Gestern Abend.» Natürlich, Nicki würde das alles wie üblich im allerletzten Moment machen. So ein Chaot!
Es nieselte leicht, als wir uns aufs Motorrad setzten. Wegen der dichten Wolken war es schon ziemlich dämmrig. Domenico zog seine Lederhandschuhe an und startete den Motor, und wir brausten über die feuchten Straßen und durch den Feierabendverkehr.
Statt vor unserem Haus hielt er ein wenig weiter vorne in der Straße.
«Steig schon ab und geh rein. Ich fahr noch 'nen Bogen und komm dann nach», wies er mich an. Ich wusste, dass er damit vermeiden wollte, dass uns irgendein potenzieller Verfolger zusammen sah.
Als er sich ein paar Minuten später endlich zu mir gesellte, begegnete uns gerade Mama, die einen Korb voll Wäsche Richtung Klavierzimmer trug. Domenico nahm ihr den Korb sofort ab.
«Komm, gib her.»
«Ach, Nicki», sagte Mama. «Du bist so lieb.»
Sie wirkte so klein und zerbrechlich seit ihrer Chemotherapie. Ich seufzte. Ihr Anblick deprimierte mich immer noch, obwohl die neue Perücke wirklich hübsch aussah. Doch obwohl sie durch die Therapie immer noch geschwächt war, dachte sie überhaupt nicht daran, faul herumzusitzen. Im Gegenteil. Sie suchte regelrecht nach Beschäftigungen, obwohl Paps sie immer wieder ermahnte, kürzer zu treten.
Domenico brachte den Korb ins Klavierzimmer, wo Mama schon den Wäscheständer aufgebaut hatte. Wie selbstverständlich begann er, die Wäsche aufzuhängen. Dadurch, dass er eine Zeitlang bei uns gewohnt und Mama geholfen hatte, als es ihm nach Mingos Tod so mies gegangen war, kannte er sich in unserem Haushalt bestens aus.
Ich half ihm beim Aufhängen. Danach begleitete er mich hinauf in mein Zimmer.
Kaum betrat ich den Raum, drückte mich die Wehmut des baldigen Abschieds fast mit Wucht in die Knie. Paps hatte das Haus ja an diesem Tag verkauft …
Nicki, der mein inneres Taumeln bemerkte, schlang sofort von hinten seine Arme um mich, um mich zu stützen.
«Cara, ich mach dir auch 'n ganz schönes Zimmer in Berlin», flüsterte er. «Noch viel schöner als das hier. Und mit einem noch schöneren Lichterbett als in meiner alten Wohnung.»
Ja, er wusste immer, wie er mich aufmuntern konnte, und tatsächlich hätte mich diese Aussicht auch getröstet, wenn nicht das klitzekleine Problem existiert hätte, dass meine Eltern noch überhaupt nichts von diesen Plänen wussten.
«Bleibst du noch zum Essen da?», bat ich leise. Ich wollte nicht so allein sein, wenn Paps uns von dem Verkauf berichten würde.
«Nee, muss noch was erledigen», meinte er ausweichend.
Er musste immer irgendwelche Dinge erledigen, von denen er mir nie sagte, was das konkret bedeutete. Ich hatte irgendwann einsehen müssen, dass ich ihm diese Freiheiten lassen musste. Den Tiger der Straße konnte man nun mal nicht einsperren. Ich nahm an, dass er irgendwelche Kumpels treffen musste. Offiziell war er ja immer noch Leader seiner Gang, und er hatte ja auch immer noch einige Schulden offen, die er irgendwie zu regeln versuchte.
«Schade», murmelte ich traurig.
«Principessa, wir sind doch bald für immer zusammen», raunte er zärtlich in mein Ohr und streifte es dabei mit seinen Lippen. «Und dann haben wir für immer Ruhe vor den Gangs. Ich muss einfach ein paar Dinge organisieren, damit das dann auch alles hinhaut.»
Auf dem Weg hinunter kreuzte sich unser Weg wieder mit dem meiner Mutter. Sie lächelte uns an.
«Echt schön, dich mal wieder zu Gesicht zu kriegen, Nicki», sagte sie. «Ich hab dich schon so lange nicht mehr gesehen. Komm, lass mich dich mal in den Arm nehmen.»
Er legte den Kopf auf ihre Schulter, als sie ihre Arme um ihn schlang. Meine Mutter war für Nicki so was wie eine Ersatzmama, weil seine richtige Mutter sich nie richtig um ihn hatte kümmern können. Sie wiegte ihn ein bisschen, und er schloss die Augen und genoss es offensichtlich. Mama hatte Nicki echt gern, und sie wusste, dass er Mutterliebe mehr brauchte als alles andere.
«Tja, ein Sohn wie du wäre echt was», bemerkte sie leise und etwas traurig. Mein kleiner Bruder war ja ums Leben gekommen, als ich zwei Jahre alt gewesen war. Domenico füllte also auch im Leben meiner Mutter eine Lücke aus.
Mama ließ ihn wieder los und musterte ihn forschend.
«Ist alles klar mit dir?», fragte sie. «Du bist so blass. Schläfst du nicht genug?»
«Bin schon in Ordnung», murmelte er verlegen. «Brauch einfach Ferien.»
«Ja, das habt ihr euch wirklich verdient», lächelte sie. «Bleibst du noch zum Essen?»
«Nee, geht nicht, hab noch was vor.» Er schien es auf einmal ziemlich eilig zu haben. «Süße, pass auf dich auf, ja?» Er drückte mir einen Kuss auf die Wange. «Bin morgen um zehn bei euch!»
«Komm aber nicht zu spät», mahnte ich. «Um halb zwölf müssen wir am Flughafen sein! Willst du nicht doch lieber hier schlafen?»
«Nee, geht nicht, hab ich doch gesagt. Außerdem muss ich noch packen. Also, bis morgen!»
Mama schaute ihm nachdenklich hinterher.
«Irgendwie mach ich mir Sorgen um ihn», sagte sie. «Was bedrückt ihn denn?»
«Ich weiß es nicht. Er sagt ja nie was. Du kennst ihn doch. Ich glaub, er kommt einfach mit dem Alleinsein nicht klar … Mingo war ja immer um ihn herum früher.»
«Hmm, möglich», sagte Mama. «Ich würde mir so sehr für ihn wünschen, dass er in einer richtigen Familie leben könnte. Ich glaube, das wäre genau das, was er bräuchte. Er ist damals viel zu schnell von uns weg und wieder in dieses Heim gegangen … Es ging ihm so viel besser, als er die Zeit bei uns lebte.»
Da konnte ich Mama nur beipflichten. Vielleicht war das auch ein gutes Argument für unsere gemeinsame WG in Berlin …
«Die ganzen Therapien und Psychiater sind doch nicht wirklich das, was er braucht. Ich finde, die haben ihn nur noch mehr runtergezogen. Was ist eigentlich mit seiner Familie in Norwegen? Könnte er nicht mal eine Zeitlang dort leben?»
«Na ja …» Das passte nun ganz und gar nicht in unsere Pläne, obwohl ich zugeben musste, dass diese Idee wirklich sinnvoll war. «Ich glaube nicht, dass er sich von mir trennen will.»
«Ja, das ist natürlich ein Argument», seufzte Mama. «Ihr zwei Turteltäubchen. Ach, manchmal wäre ich auch gern noch mal siebzehn …»
Ihre unverhohlene Wehmut tat mir weh.
«Ach, Mama …»
«Keine Sorge, Maya, es ist alles in Ordnung mit mir. Aber du hast wirklich Glück, so einen Jungen wie Nicki zu haben. Trotz all seiner Schwierigkeiten …»
Ich überlegte gerade, ob das nicht der richtige Moment war, um meiner Mutter die Idee von der Verlobung anzuvertrauen, als wir das Knirschen der Haustür hörten.
«Hallihallo», hörten wir Paps' Stimme. «Seid ihr da?»
«Ja», antworteten Mama und ich einstimmig, wie wir es immer machten. Die Tatsache, dass es dieses kleine Familienritual demnächst nicht mehr geben würde, brachte mich schon wieder fast zum Heulen. Bald würde unsere Familie für lange Zeit nicht mehr zusammen sein … und vielleicht sogar nie mehr …
Wir gingen zu Paps in die Küche. Ach, wie sehr wünschte ich mir, Nicki hätte bei mir bleiben können …
«Jetzt sind Praxis und Haus im Besitz von Dr. Ulrich», verkündete Paps wie befürchtet, und ich konnte seiner Stimme anhören, dass auch er um seine Fassung ringen musste. Schließlich hatte er dieses Heim mit so viel Liebe und Hingabe für uns alle aufgebaut …
Und auch mein Plan, aus Paps' Praxis eines Tages eine Praxis für drogenabhängige Kids zu machen, starb hiermit. Aber das war nicht das Schlimmste. Es würde auch noch andere Möglichkeiten geben …
Ich half Mama, das Abendbrot vorzubereiten und den Tisch zu decken, und bald saßen wir alle um den Esstisch. Ich hatte völlig vergessen, Domenico seinen Pullover zurückzugeben, und war ganz froh, dass ich mich fest hineinkuscheln und Nickis Duft in mich aufsaugen konnte. Zum Glück vermied es Paps, während des Essens über den Hausverkauf zu reden. Stattdessen ging es um die Reise nach Sizilien.
«Wann geht's denn jetzt morgen genau los?», wollte Paps wissen. Er hatte versprochen, uns zum Flughafen zu fahren.
«Um halb zwölf öffnet der Check-in-Schalter», sagte ich.
«Okay, dann fahren wir um Viertel vor elf los», bestimmte er. «Nicki hat das mit der Unterkunft in Monreale aber hoffentlich jetzt geregelt?»
«Ähm … er meinte, es sei kein Problem», wich ich aus. Ich wollte Paps nicht unbedingt auf die Nase binden, dass Nicki die Sache ziemlich auf die leichte Schulter nahm.
«Ja, hat er nun oder hat er nicht?» Paps gab sich natürlich nicht so schnell geschlagen.
«Tja, also, er meint, wir können bei seinem Kumpel übernachten. Weißt du, bei den Rigatoris in Monreale. Dort, wo wir Pizza gegessen haben. Du erinnerst dich doch?»
«Schon, aber wissen die, dass ihr kommt?», bohrte Paps weiter. Mama legte ihm beschwichtigend ihre zarte Hand auf die Schulter. Paps nahm sie und streichelte sie mit seinen großen Händen – eine Geste, die er sich vor noch nicht allzu langer Zeit angeeignet hatte.
«N-nein … Nicki hat deren Telefonnummer doch gar nicht», musste ich wahrheitsgemäß gestehen.
«Ja – stehen die denn nicht im Telefonbuch?»
Gute Frage …
Paps legte sein Besteck beiseite. «Weißt du, ich möchte einfach nicht, dass ihr dann am Ende irgendwo auf der Straße übernachtet, so wie damals, als ihr auf dem Weg nach Norwegen wart.»
«Das will ich auch nicht, Paps. Ich habe Nicki auch ausdrücklich gesagt, dass das nicht in Frage kommt!» Ich hoffte, meinen Vater damit einigermaßen beruhigen zu können, doch so leicht haute das nicht hin.
Paps seufzte. «Weißt du, das ist eben eine von Nickis Eigenschaften, die mir Sorgen bereiten. Dass er immer nur davon redet, Dinge zu tun, und sie dann doch nicht tut. Es gibt Situationen, da kann man sich wirklich auf ihn verlassen. Ich rechne ihm zum Beispiel hoch an, dass er sich so sehr um dich gekümmert hat, als wir in Basel waren, und auch, wie hilfsbereit er uns zur Hand gegangen ist. Aber es gibt Fälle, wo ich ihn nach wie vor nicht verstehen kann. Wieso kann er nicht einfach im Internet nachschauen und die Leute anrufen? Eine Pizzeria steht doch bestimmt im elektronischen Telefonverzeichnis Italiens.»
Ich starrte meinen Teller an. Keine Frage, Paps hatte mal wieder Recht … Warum machte Nicki immer alles so hochkompliziert?
«Genauso, wie ich nicht verstehe, dass er immer noch nicht mit dem Rauchen aufgehört hat, obwohl er ständig davon redet und offensichtlich immer noch Schmerzen in seiner Lunge hat.» Paps schüttelte unwillig den Kopf. Für ihn als Arzt war so was einfach unfassbar.
«Nun gut», warf Mama ein. «Das ist ein Suchtproblem. Das ist wohl nicht ganz so einfach, wie wir denken. Denn wenn das wirklich wahr ist, dass Maria ihn und Mingo als Neugeborene aus der Welt schaffen wollte, dann ist das etwas, was seine Kinderseele so unendlich tief verletzt hat, dass das nicht so einfach heilbar ist. Ich bin zwar kein Anhänger von Sigmund Freud, aber in diesem Falle scheinen die Zigaretten wirklich für die fehlende Mutterbrust und somit Mutterliebe zu stehen. Ich werde nie vergessen, wie er damals am Gerichtstag auf meinem Schoß geweint und all diesem Schmerz endlich mal Ausdruck verschafft hat. Aber das hat eben auch nicht gereicht, um dieses Loch in seiner Seele zu heilen. Eine Aussprache mit seiner Mutter wäre da sicher mal vonnöten …»
«Tja, mag sein, aber es gibt ja auch noch all die anderen Dinge. Was ist mit dem Schulabschluss? Er hat doch jetzt nichts zu tun; er arbeitet nicht und muss sich auch nicht um einen drogensüchtigen Bruder kümmern. Warum packt er nicht endlich diese Baustelle mal an? Sein Bewährungshelfer hat ihm doch diese Auflagen gestellt. Er hätte sich zumindest schon längst mal für den Vorkurs anmelden können. Und ganz zu schweigen von dem Aids-Test, der auch schon lange fällig wäre, nicht? Immerhin war das sogar eine der Bedingungen, die wir an ihn gestellt hatten, damit du, Maya, ab und zu bei ihm wohnen durftest. Und was hat er gemacht? Nichts!»
Ich zog kleinlaut die Schultern hoch und kuschelte mich noch tiefer in Nickis Pullover. Leider war es wirklich wahr, was Paps sagte, auch wenn ich es mir nicht gern eingestand. Und da gab es leider noch mehr Dinge, die bei Nicki einfach nicht vorwärts gingen …
«Er hat immer noch keine E-Mail-Adresse eingerichtet, wurstelt nach wie vor wegen seinen Schulden rum, und wir wissen nie richtig, was er so treibt und was Sache ist …» Paps' Augen funkelten mich durch die runden Brillengläser an, und es war genau dieser Blick, der bei mir immer ein besonders schlechtes Gewissen verursachte.
«Weißt du, das alles macht mir schon ziemlich zu schaffen, trotz seiner zweifelsohne vielen guten Eigenschaften. Aber wer garantiert mir zum Beispiel, dass er euch auf Sizilien nicht wieder irgendwelchen Ärger aufhalst? Mir wäre es wirklich wichtig gewesen, dass er das mit eurer Unterkunft geregelt hätte, weil ich einfach nicht will, dass ihr wieder irgendwo unter freiem Himmel übernachtet. Ich meine, ich habe euch diese Reise erlaubt, also darf ich doch auch erwarten, dass er sich um unsere Anliegen kümmert.»
Ich konnte nicht mehr anders, als Paps nur noch beizupflichten.
«Also, ich würde wirklich gern morgen Früh nochmals ein ernstes Wörtchen mit ihm reden», schloss Paps schließlich sein Plädoyer. Wieder nahm er Mamas Hand in die seine, und mir kamen beinahe die Tränen vor Rührung, weil er so etwas früher niemals getan hätte. Zumindest er hatte offenbar Fortschritte gemacht …
Ich war froh, als wir fertig waren mit Essen und ich auf mein Zimmer gehen konnte. Oben fing ich an, meine Packliste und mein Gepäck nochmals genau zu überprüfen. Domenico hatte mir gesagt, dass es im Oktober auf Sizilien immer noch ziemlich warm war, meistens über zwanzig Grad, also entschied ich mich kurzerhand dafür, noch zwei T-Shirts mehr in den ohnehin schon vollen Trolley zu stopfen. Ich hatte fein säuberlich jedes letzte Detail auf der Liste abgehakt.
Da ich noch nicht zu Bett gehen wollte, schaute ich mir die vielen Fotos von Sizilien an, die ich damals auf unserer letzten Reise gemacht und Domenico nur teilweise gezeigt hatte. Die Bilder, wo ich ihn heimlich beim Sprung von dem Felsen im Meer fotografiert hatte, hielt ich nämlich sorgfältig vor ihm versteckt. Er durfte keinesfalls wissen, dass ich ihn damals heimlich abgelichtet hatte, weil er ja eine unerklärliche Phobie vor Fotoapparaten hatte. Trotzdem hatte ich meine Kamera für die jetzige Reise natürlich eingepackt. Das wäre ja gelacht!
Außer diesen heimlich geschossenen Fotos besaß ich von ihm nur noch das alte Schwarzweiß-Bild, das mir Frau Galiani vor langer Zeit mal gegeben hatte und das ich damals nach Sizilien mitgenommen hatte, um ihn zu suchen. Plus das Foto, das ihn zusammen mit seinem norwegischen Halbbruder Hendrik zeigte und das die absolut ultimative Ausnahme gewesen war. Erstaunlich, wie sehr er sich in diesen ungefähr drei Jahren verändert hatte, die zwischen diesen beiden Bildern lagen. Seine Gesichtszüge waren männlicher geworden, seine Wangenknochen traten schärfer hervor, und seine Haare fielen noch etwas länger in sein Gesicht als früher. Er war alles in allem noch hübscher als damals.
Später im Bett lag ich noch lange Zeit wach. Ich war zu aufgeregt vor der Reise, um einschlafen zu können. Außerdem stimmte es mich traurig, dass ich bald nicht mehr in diesem Bett liegen und die Sterne durch das Dachfenster funkeln sehen würde. Eine kleine Träne stahl sich aus meinem Auge, lief über meine Wange und versickerte in meinem Kopfkissen.
Der einzige Gedanke, der mich in dieser Situation tröstete, war, dass Nicki mir dafür bald wieder ein neues Himmelbett mit Lichtern bauen würde …