4. Reise mit Hindernissen

Domenico kam prompt satte fünfundfünfzig Minuten zu spät, und Paps hatte den Zenit der Geduld schon weit überschritten. Auch ich war drauf und dran, die Wände hochzugehen. Das Schlimmste war, dass er weder anrief, geschweige denn an sein Handy ging. Grrrr. Manchmal konnte er einen echt in den Wahnsinn treiben!

«Herrschaft noch mal, was macht er wieder so lange? Wir wollten um Viertel vor elf abfahren!», wetterte Paps.

Um fünf vor elf hörten wir endlich das erlösende Geräusch seines Motorrades. Gleich darauf kam Domenico ins Haus gestürmt, den Helm immer noch auf seinem Kopf.

«Sorry», entschuldigte er sich. «Wurde aufgehalten!»

«Ja, ist gut, pack deine Sachen ins Auto, dann können wir endlich los», knurrte Paps.

Domenico schob das Motorrad in die noch offene Garage. Paps hatte ihm erlaubt, dass er es hier unterstellen durfte, während wir weg waren. Dann schmiss er seine Sachen, die aus nichts weiter als aus seinem Rucksack bestanden, in den Kofferraum von Paps' Auto.

«Ist das alles?», fragte ich verblüfft.

«Weißt doch, dass ich nie viel brauche.»

«Hast du keine warmen Sachen dabei?»

«Doch. Das, was ich anhab.» Er zeigte grinsend auf seine Lederjacke. «Süße, ich kenn Sizilien …»

Tja, und ich selbst reiste mit einem großen Trolley und einer vollgepackten Handtasche. Delia, meine beste Freundin, hätte das wohl den kleinen, feinen Unterschied zwischen Mann und Frau genannt. Aber ich hatte bereits vorgesorgt und einfach Nickis schwarzen Kapuzenpulli, den er mir am Vortag mitgegeben hatte, in mein Gepäck gestopft. So leicht würde er mir nicht davonkommen!

Mama kam heraus, um sich von uns zu verabschieden.

«Passt auf euch auf», bat sie. «Und Nicki, du beschützt Maya, ja? Ich will nicht, dass ihr irgendwas zustößt. Du bist verantwortlich für sie, ja?»

«Klar doch.» Er legte den Arm um mich.

«Und auch dafür, dass das mit der Unterkunft klappt.»

«Natürlich. Das wird klappen», versicherte er.

«Und ihr macht keine dummen Sachen, hört ihr?» Mama war noch nicht ganz beruhigt. «Du auch nicht, Maya, ist das klar?»

«Nein, Mama, bestimmt nicht», sagte ich.

«Ich pass schon auf sie auf», lächelte Domenico und wickelte eine meiner Haarsträhnen um seinen Zeigefinger. «Vertraut mir doch!»

«Okay. Aber ruft hin und wieder mal an, ja? Und lasst das Handy wenn möglich eingeschaltet.»

Wir versprachen es.

Mama sah uns an. «Warum hab ich bloß wieder dieses untrügliche Gefühl, dass ihr beide mal wieder in die dümmsten Abenteuer verwickelt werdet?»

«Kommt ihr?», rief Paps im selben Moment. «Wir sind spät dran!»

Wir umarmten Mama und beteuerten nochmals, dass wir wirklich auf uns aufpassen würden. Dann rannten wir zum Auto.

Paps brauste los. Domenico zog mich an sich und streichelte meine Arme, und ich kriegte trotz der Jacke wieder ganz schön Gänsehaut. Wir sprachen kaum ein Wort, da Paps beim Fahren immer unheimlich konzentriert und angespannt war.

Das Wetter war recht freundlich, aber kalt. Der bevorstehende Winter zeigte uns seine ersten Vorboten. Wir kamen mit zwanzig Minuten Verspätung am Flughafen an, doch wir hatten immer noch genug Zeit. Paps blieb bei uns, bis wir eingecheckt hatten. Dann verabschiedeten wir uns auch von ihm.

«Ruft bitte an, wenn ihr angekommen seid, ja?», bat er. «Oder sendet meinetwegen eine SMS. Ich möchte sicher sein, dass ihr eine gute Unterkunft habt.»

Wir beruhigten meinen Vater, dass wir das sicher tun würden, und ich nahm mir fest vor, es dieses Mal nicht zu vergessen wie damals in Norwegen.

Bei der Sicherheitskontrolle wurde Domenico mal wieder ziemlich intensiv auseinandergenommen. Er wurde mehrmals mit dem Scanner abgetastet, und auch sein Rucksack wurde gründlich durchsucht. Ich war bereits durch und wartete ziemlich nervös auf der anderen Seite.

«Die haben voll Stress gemacht wegen den Medis», stöhnte er, als er wieder bei mir war. «Sie hätten fast den Arzt angerufen und gefragt, ob er mir das alles wirklich verschrieben hat.»

Domenico musste einiges an Medikamenten einnehmen, Psychopharmaka und Antidepressiva und Schlafmittel, um seine Emotionen einigermaßen stabil halten zu können. Außerdem ließ sich seine wilde Vergangenheit nun mal nicht ausradieren. Sie hatte deutliche Spuren an ihm hinterlassen. Die Narben im Gesicht und auch seine verfärbten und teilweise abgebrochenen Zähne erweckten schnell mal Misstrauen in seinen Mitmenschen. Daran hatte ich mich erst mal gewöhnen müssen.

Ich war froh, als wir später im Flieger nach Milano saßen. Ich hatte Nicki den Fensterplatz überlassen, weil er ja noch nicht so oft in den Genuss des Fliegens gekommen war. Er kaute aufgeregt auf einem Nikotinkaugummi herum, während er ganz fasziniert das Wolkenmeer da draußen betrachtete.

Der Flughafen in Milano schien mir größer als der unsere und auch viel hektischer. Aber das lag wohl daran, dass die Italiener generell temperamentvoller sind. Und dass Mailand nun mal eine Weltstadt ist.

«Milano-Malpensa. Hier musste ich auch umsteigen, als ich nach Rimini flog», erzählte Domenico.

Wir hatten hier zwei Stunden Aufenthalt bis zum Weiterflug nach Palermo. Zuerst bummelten wir ein wenig durch die Läden, aßen eine Kleinigkeit und suchten dann das Gate für den Weiterflug. Auf der Anzeigetafel stand allerdings, dass der Flug verspätet war.

«Warten wir halt», meinte Domenico schulterzuckend.

Es blieb uns wohl nichts anderes übrig. Ich hoffte, die Verspätung würde sich in Grenzen halten. Sonst würden wir es am Ende kaum noch rechtzeitig nach Monreale schaffen, und Salvatore und seine Familie würden ja wohl irgendwann auch schlafen gehen. Wie blöd, dass wir nicht so wie letztes Mal einen direkten Flug hatten kriegen können …

«Wart mal hier, bin gleich wieder da», holte mich Domenico auf einmal aus meinen Gedanken und verschwand, ehe ich ihn aufhalten konnte. Na super! Was hatte er denn jetzt wieder vor? Ich wollte ihm nachlaufen, doch da war er schon im Menschengewühl verschwunden.

Verärgert setzte ich mich auf einen freien Stuhl und stellte fest, dass ich gute Lust hatte, Nicki demnächst an die Gurgel zu springen!

Als er nach einer Viertelstunde immer noch nicht zurück war und auf der Anzeigetafel nach wie vor dieses mehr als störende delayed prangte, fing ich innerlich langsam an zu kochen. Die Ungewissheit darüber, wie lange es noch dauern würde, bis sich auf dieser Tafel irgendwas regte und bis Nicki wieder aufzutauchen gedachte, war schier unerträglich. Bestimmt musste er sich wieder irgendwo eine oder mehrere seiner blöden Kippen reinziehen. Und zudem wurde im Lautsprecher seit einigen Minuten ständig eine verdächtig klingende Ansage auf Italienisch heruntergeschnarrt, von der ich kaum ein Wort verstand. Und von meinem Dolmetscher war weit und breit keine Spur zu sehen. Leider war auch die englische Ansage so undeutlich, dass ich lediglich mitbekam, dass es irgendwo technische Schwierigkeiten gab. Auf der Anzeigetafel erschienen immer mehr delayed-Meldungen. Die Sache betraf also nicht nur unseren Flug. Offenbar hatten wir ein ernsthaftes Problem.

Endlich kam Domenico zurück. Er schien nicht die Spur nervös zu sein und brachte mir sogar einen Schokoriegel mit.

«Endlich!», stöhnte ich. «Wo warst du denn schon wieder so lange?»

«Die Raucherecke ist fast am anderen Ende», sagte er.

«Hast du irgendwas mitgekriegt von der Ansage?»

«Ja. Die Fluglotsen streiken. Deswegen geht im Moment gar nix», meinte er gelassen, als sei es das Normalste auf der Welt.

«Wie bitte?» Ich starrte ihn an.

«Amore mio, wir sind in Italia. Das kommt vor.»

«Ja Bingo! Und was jetzt?»

«Warten», meinte er achselzuckend. «Der Streik geht bis um acht.»

«Ja … aber dann … kommen wir ja erst irgendwann um zehn Uhr oder so in Palermo an?»

«Genau.»

«Aber dann können wir das doch glatt vergessen mit Salvatore?»

«Easy. Die gehen nicht so früh pennen. Die haben die Pizzeria manchmal bis nach zwei Uhr morgens offen, wenn viel los ist. Das reicht locker.»

«Und wenn sie uns nicht aufnehmen aus irgendeinem Grund? Dann finden wir um die Zeit vielleicht gar kein Hotel mehr!» Ich ärgerte mich, dass er die Sache immer noch so auf die leichte Schulter nahm.

«Die nehmen uns auf. Keine Sorge. Die haben ein paar Mansarden, die sie an Gäste vermieten. Da ist meistens was frei. Wir durften da immer gratis pennen. Und sonst dürfen wir bestimmt in irgendeinem ihrer Zimmer schlafen.»

«Okay. Ich glaub dir ja. Aber – nur für den Fall, dass das doch nicht klappt: Hättest du auch einen Plan B?»

Er grinste, offenbar fand er meine Sorge amüsant.

«Süße, mach dir doch keinen Kopf. Ich find immer was zum Pennen.»

«Aber du weißt ganz genau, dass wir meinen Eltern versprochen haben, nicht auf der Straße zu schlafen», ermahnte ich ihn streng.

Jetzt lachte er und packte mich. Ich wollte mich losreißen, doch er drückte sanft meine Arme runter und begann, meinen Nacken zu küssen.

«Nicht jetzt», fauchte ich. Ich war nun wirklich nicht in Stimmung für ein Schmusestündchen! Ich ging fast die Wände hoch vor Nervosität, und er hatte nichts anderes im Sinn, als herumzuknutschen. Ein bisschen mehr Organisation hätte wirklich nicht geschadet. Es brauchte ja nicht alles so akribisch durchgeplant zu sein, wie es mir entsprach, aber auch nicht so chaotisch à la Mister Obercool. Ein gesundes Mittelding wäre wirklich ideal gewesen …

Domenico hielt mich immer noch fest. «Ey, Principessa, vertrau mir doch. Ich sorg schon dafür, dass du ein Bett kriegst, ja?»

«Wehe, wenn nicht», knurrte ich.

«Du bist so unwiderstehlich, wenn du dich aufregst», grinste er und packte meine Hand. «Komm, wir gehen Gelati essen.»

«Gelati?» Nicki hatte sie echt nicht mehr alle! Auf ein Eis hatte ich jetzt echt am allerwenigsten Lust. Doch er zog mich einfach mit sich, und ich gab es schließlich auf, ihm zu widersprechen. Es änderte ja doch nichts an der Situation.

Doch am Eisstand wurde meine Laune sofort noch tiefer in den Keller gerissen: Ich stellte wieder einmal fest, wie sich ein paar Mädchen ganz ungeniert an Domenico ranschoben. Und als ich sah, wie er sie aus seinen Augenwinkeln beobachtete, war mir wieder mal völlig klar, dass ihm seine Wirkung durchaus bewusst war. Das stand völlig im Gegensatz zu der Tatsache, dass er zwischendurch immer behauptete, sich selbst hässlich zu finden.

«Du bemerkst schon, dass sich eine Menge Mädchen nach dir umdrehen, oder?», sagte ich angriffslustig, als er mir das Pistazieneis in die Hand drückte, das ich bestellt hatte.

Seine Augen verengten sich sofort und blitzten mich drohend an.

«Willst du vielleicht mal wissen, wie viele Jungs dir hinterherschauen?», zischte er, während er in Sekundenschnelle die berüchtigte unsichtbare Schutzmauer um sich herum aufrichtete, die kein Mensch durchdringen konnte. Diese Mauer, die ihn davor schützen sollte, dass jemand zu tief in seinen Wunden herumstocherte. Es war dieses Spiel, das er dauernd spielte, um die Kontrolle über die Situation zu behalten.

Ich schaute zur Decke, weil ich seinen schneidenden Blick nicht aushielt. Mit diesen stechenden Augen konnte er Mädchen manipulieren, konnte sie um den Verstand bringen. Und noch mehr …

Etwas Eiskaltes hielt mein Herz umklammert.

«Hey!» Ich spürte, wie er sachte seine Hand auf meine Schulter legte. «Alles klar mit dir?» Seine Stimme hörte sich auf einmal wieder sanft und besorgt an. Ich wendete mich ihm zu und schaute direkt in sein Gesicht. Der drohende Blick war verschwunden. Fast kam es mir vor, als hätte ich mir all das vorhin nur eingebildet …

«Komm, duci mia, gehen wir zum Gate zurück», sagte er weich und nahm zärtlich meine Hand.

Mittlerweile waren fast alle Sitze bei unserem Gate besetzt. Wir fanden gerade noch zwei freie Plätze ganz am Ende und nahmen sie in Beschlag. Ich aß mein Eis fertig, dann legte ich meinen Kopf an Nickis Schulter, um ein wenig zu dösen. Es hatte ja keinen Sinn, immer wieder nervös zur Tafel zu schauen, wenn der Streik erst um acht Uhr aufgehoben würde.

Als ich schon fast weggedämmert war, klingelte Domenicos Handy. Er schob mich sachte von sich weg, um an seine Hosentasche zu kommen. Als er auf das Display schaute, wechselte sein Blick sofort auf Sturmwarnung.

«Arrè!», zischte er und drückte die Stummschaltung.

«Wieder deine Mutter?»

«Nenn diese Frau nicht Mutter!»

Dass Maria so hartnäckig sein konnte, war sogar mir ein Rätsel. Ich wünschte mir zwar nach wie vor, Nicki würde sich endlich mit seiner Mutter aussprechen, doch da er ihr ganz offensichtlich zu verstehen gegeben hatte, dass er das nicht wollte, konnte sie ihn ja wirklich so langsam in Ruhe lassen, fand ich. Oder war seine Aufforderung dazu nicht deutlich genug?

Zu meiner großen Erleichterung wurde der Flug tatsächlich kurz nach acht ausgerufen. Nicht nur ich war unendlich erleichtert. Alle Leute drängten sich sofort zum Kontrollschalter. Draußen war es bereits Nacht, und ich merkte, wie müde ich inzwischen war.

Es war fast zehn vor neun, als der Flieger endlich abheben konnte, und wir hatten noch über eineinhalb Stunden zu fliegen. Während des Fluges döste ich meist an Nickis Schulter weiter, und er streichelte die ganze Zeit meine Hand. Ich rechnete mir aus, dass wir frühestens gegen Mitternacht in Monreale sein würden, wenn alles gutging.

Doch da hatte ich mich gewaltig geirrt. Weil unser Flug verspätet war, bekamen wir nicht so ohne weiteres die Lande-Erlaubnis und mussten Palermo mindestens fünf Mal umkreisen. Domenico starrte schweigend aus dem Fenster und betrachtete die Lichter seiner Heimatstadt. Es war schließlich fast elf, als wir endlich wieder auf dem Boden standen.

Alles drängte sich ungeduldig zum Ausgang. Nachdem wir bei der Gepäckausgabe vergeblich bei den Inlandsflügen gesucht hatten, fanden wir meinen Trolley schließlich auf dem Förderband, das Gepäckstücke aus Zürich und Madrid auslud. Das sollte mir mal einer erklären. Als wir ihn endlich hatten, wollte ich schon aufatmen. Doch die lange Schlange bei der außerplanmäßigen Passkontrolle stellte meine Geduld erneut auf eine harte Probe. Ich war so hundemüde und sehnte mich nach einem warmen Bett. Ich hatte absolut keine Lust, abermals auf irgendetwas zu warten. Irgendein Sicherheitsbeamter fasste mir von hinten an die Hüfte, weil ich offenbar im Weg stand. Doch da hatte er nicht mit Domenico gerechnet, der ihm sofort in seiner Muttersprache den Marsch blies. Ein paar Leute drehten sich bereits nach uns um. Klar, wenn man mit Nicki unterwegs war, erregte man immer Aufsehen.

Schließlich kamen wir zum Ausgang. Wir hatten natürlich nichts zu verzollen, aber Domenico wurde dennoch in ein kleines Nebenzimmer gebeten, aus dem er aber schon nach ein paar Minuten wieder freikam. Er sah halt auch verdächtig aus, das vergaß ich immer wieder.

Draußen empfing uns angenehm milde Luft. Es war ganz anders als zu Hause. Domenico grinste und zog seine Jacke aus. Ich wurde wieder ziemlich nervös, weil er überhaupt keinen Grund zur Eile sah.

Typisch Italiener, dachte ich grimmig.

«Fährt um diese Zeit überhaupt noch ein Bus?», fragte ich spitz. Er sollte mal ein bisschen dalli machen, fand ich.

«Höchstens nach Palermo», gähnte er und zündete sich eine Zigarette an. «Nach Monreale fährt von hier aus sowieso keiner.»

Mann, hatte der Nerven!

«Und was machen wir nun?», fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

«Hey.» Er war auf einmal wieder hellwach und kniff mich zärtlich in die Wange. «Süße, du kriegst 'n schönes Bett heut Nacht. Versprochen! Komm jetzt!» Er klemmte die Kippe zwischen die Lippen, packte meine Hand und nahm mir den Trolley ab. «Schauen wir mal, wie wir nach Palermo kommen.»

Domenico fand bald die Busstation. Doch seltsamerweise waren wir die Einzigen, die hier auf den Bus nach Palermo warteten. Domenico rief einem Flughafenmitarbeiter, der gerade vor der automatischen Schiebetür eine Zigarette rauchte, eine Frage zu und erhielt eine Antwort, von der ich nicht viel verstand – nur, dass wir schon wieder ein Problem hatten.

Als der Mann gegangen war, sah Nicki mich an. «Tja, bedda mi' … die streiken auch. Da fährt kein Bus mehr heute.»

«Nein, im Ernst?» Ich hätte schreien können.

«Tja, das ist nun mal Sizilien.» Er spürte, dass ich langsam aber sicher wirklich fertig war mit den Nerven, und zog mich an sich. Ich legte mein Gesicht auf seine Schulter, und er kraulte zärtlich meinen Nacken.

«Und jetzt?», murmelte ich erschöpft.

«Müssen wir halt 'n Taxi nehmen …» Er schlenderte auf die andere Seite, wo tatsächlich mehrere Kleinbusse standen. Schon nach kurzer Zeit kam er jedoch wutschnaubend zurückgestürmt.

«Was ist denn jetzt schon wieder los?», stöhnte ich ungläubig.

«Der Typ will allen Ernstes fünfzig Euro, der spinnt doch. Und das nur bis Palermo, ha! Dem hab ich schön die Meinung gegeigt. Komm mit, wir machen das jetzt auf meine Art!»

Willenlos folgte ich ihm wieder zu den Parkplätzen.

Domenico lächelte. «Vertraust du mir, Süße? Ich hab 'nen Plan. Du kriegst dein Bett. Ich hab's dir und deinen Eltern versprochen, okay?»

Ich nickte matt. Etwas anderes blieb mir eh nicht übrig. Nickis Pläne waren meistens ziemlich abgefahren, aber eins wusste ich: Wenn er sich dann mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde er auch ans Ziel kommen.

Er nahm wieder meine Hand und meinen Trolley und führte mich Richtung Straße. Er steuerte schnurstracks auf zwei junge Männer zu, die gerade in ein Auto stiegen. Er haute sie einfach an, und nach einem kurzen Wortwechsel war der Deal offenbar geritzt.

«Komm, steig ein, sie nehmen uns bis nach Palermo mit», sagte er. «Hab keine Angst.»

Mir war langsam alles egal. Ich wollte einfach irgendwann mal in Monreale ankommen. So überließ ich Nicki die Führung und beschloss, mich einfach auf ihn zu verlassen.

Die Jungs ließen uns mitten in Palermo Centro raus. Hier in der Nähe hatte ich mit meinem Vater in einem Hotel gewohnt. Ich erkannte den Park wieder und den Normannenpalast, und es kam mir vor, als wäre ich erst gestern hier gewesen.

Da wir wegen des immer noch dichten Verkehrs kaum vorangekommen waren, war es inzwischen weit nach Mitternacht. Doch ich hatte es aufgegeben, mir Sorgen zu machen. Und das will bei mir was heißen!

«Komm», sagte Domenico. «Ich kenn hier jemanden, der mir noch 'nen Gefallen schuldig ist. Bleib dicht bei mir, ja?» Er nahm mir wieder mein Gepäck ab und fasste mich an der Hand. Mir war bald klar, dass er hier jede Straßenecke kannte, als er mich zielstrebig durch den Verkehr führte. In die laue Herbstluft mischte sich der Geruch von immer noch warmem Teer, Abfall und Abgasen. Die Palmen wiegten sich über unseren Köpfen im sanften Nachtwind.

Domenico zog mich in eine schmale Seitenstraße und klingelte an einer Haustür. Die Hausfassade war in einem ziemlich verwitterten und renovierungsbedürftigen Zustand, wie es bei den meisten Häusern hier der Fall war. Eine ältere Frau trat auf den Balkon und rief etwas zu uns herunter.

«Totò c'è?», rief Domenico zurück.

Die Frau erklärte irgendwas und wedelte wild mit der Hand in eine bestimmte Richtung. Ich versuchte, ihre Antwort zu verstehen, doch es gelang mir nicht. Meine Schulkenntnisse reichten eben nur beschränkt für diesen sizilianischen Dialekt.

«Capiu», meinte Domenico schließlich. «La ringrazio!»

«Und nun?» Ich sah ihn an.

«Wir müssen zu Peppino's Bar», sagte er. «Ist nicht weit von hier.»

«Könntest du mir – nur so nebenbei natürlich – mal erklären, was du genau vorhast?»

«Ich versuch, uns 'n Motorrad zu leihen, mit dem wir nach Monreale fahren können. Totò ist mir, wie gesagt, noch was schuldig.»

«Und wer ist Totò?» Konnte er mir nicht mal alles in einem Satz erklären, so dass ich nicht dauernd gezwungen war, ihm Fragen zu stellen? Ich hasste es ja, ihn ständig bedrängen zu müssen, aber manchmal war es echt notwendig, um wenigstens die nötigsten Informationen zu bekommen.

«Kumpel von Mingo und mir», sagte er nur. Klar, dass sich dahinter wieder irgendeine zwielichtige Geschichte aus seiner Vergangenheit verbarg, die er mir lieber nicht auftischen wollte.

«Komm jetzt», sagte er und reichte mir wieder die Hand, um mich durch den chaotischen Verkehr zu geleiten. Unglaublich, wie viel gehupt wurde. Die Menschen hier waren nun mal um einiges temperamentvoller als unsereiner. Wie Domenico …

Er wartete gar nicht erst, bis uns irgendein gnädiger Autofahrer durchgehen ließ, sondern zog mich einfach über die Straße und schlug sich die linke Hand in die rechte Armbeuge, als jemand laut hupte. Gesticolazione gehörte hier eindeutig zur Kommunikation.

Auf der anderen Seite zweigte eine schmale Gasse ab, in der ich ein giftgrünes Leuchtschild mit der Aufschrift Peppino's Bar erblickte. Grünes Licht schimmerte auch aus den Fenstern, und der Lärm der betrunkenen Gäste drang auf die Straße. Schon wieder so eine Spelunke! Nicki und Mingo hatten früher natürlich dauernd in solchen Lokalen verkehrt.

Domenico wandte sich zu mir um. «Warte am besten beim Eingang», ordnete er an. «Ich bin gleich zurück. Dauert nicht lang!»

Ich war jetzt zu müde, um mit ihm zu streiten, und ich wollte nur endlich in Monreale und in irgendeinem Bett sein, also wartete ich gehorsam neben der Tür, während er sich den Weg durch das Menschengewühl bahnte und nach Totò Ausschau hielt. Hoffentlich würde das nicht ewig lange dauern, sonst würde ich hier noch im Stehen einschlafen!

Ich nutzte die Wartezeit, um meinen Eltern endlich die versprochene SMS zu senden. Die Armen hatten sich bestimmt schon Sorgen gemacht, aber bis jetzt hatte ich ihnen ja noch keine beruhigende Message liefern können.

Sind wegen eines Streiks zwar stark verspaetet, aber sicher in Palermo angekommen und fahren nun nach Monreale, schrieb ich. Na ja … gelogen war das jedenfalls nicht. Dass ich jetzt hier in Palermo vor einer Spelunke stand und wartete, bis Mister Universum ein Motorrad aufgetrieben hatte, rieb ich ihnen besser nicht unter die Nase. Im Grunde hätten wir auch ein Taxi nehmen können, aber ich war ja auch froh, wenn wir das Geld sparen konnten.

In dem Moment erschien Domenico wieder. Er hatte einen Schlüssel in der Hand und hatte sich tatsächlich beeilt. Ich war ihm echt dankbar dafür.

«Na, wer sagt's denn! Amunì, Principessa.» Er nahm mir das Gepäck wieder ab und fasste nach meiner Hand.

Wir kehrten zu dem Haus zurück, wo wir zuerst geklingelt hatten. Das Motorrad stand zusammen mit anderen Fahrzeugen in einem kleinen offenen Schuppen. Es war ein stattliches Teil mit zwei großen Seitenkoffern.

«Was mach ich denn mit meinem Gepäck?», fragte ich. Ich konnte den Trolley ja unmöglich mit aufs Motorrad nehmen.

«Kannst du ihn hierlassen? Du kannst deine Sachen in die Seitenkoffer stopfen. Wenn ich Totò das Motorrad morgen wieder zurückbringe, hol ich dir den Trolley. Mach dir keine Sorgen. Das geht schon in Ordnung. Allerdings musst du meinen Rucksack nehmen. Ich kann ihn nicht auf'm Rücken tragen, sonst kannst du dich nicht richtig an mir festhalten.»

Ich sah keine andere Lösung und nickte deshalb.

Ich stopfte die wichtigsten Sachen in die beiden Seitenkoffer. Allerdings hatte nicht alles Platz darin, und so war ich gezwungen, einen Teil meiner Klamotten hierzulassen. Domenico räumte ein paar seiner eigenen Sachen in meinen nun halb leeren Trolley um, damit sein Rucksack für mich nicht zu schwer sein würde. Dann versteckte er den Trolley in einem verborgenen Winkel des Unterschlupfs und versicherte mir, dass ihn da niemand klauen würde. Ich hoffte, dass er Recht behalten würde, aber langsam war mir nun wirklich alles egal. Ich wollte endlich in die Heia!

Domenico reichte mir einen der beiden Helme, die am Motorrad hingen.

«Und dieser Totò gibt uns einfach so sein Motorrad?» Ich fand das erstaunlich.

«Ich hab doch gesagt, dass ich noch was bei ihm guthatte. Hab ihm damals ziemlich aus der Patsche geholfen.»

Ich stieg hinter Domenico auf das Motorrad und klammerte mich an ihm fest. Der Rucksack war nun tatsächlich nicht mehr schwer. Meine Handtasche klemmte ich zwischen Domenico und mir fest.

Er drückte den Startknopf, doch der Motor wollte nicht sofort anspringen.

«Du kennst aber den Weg nach Monreale?», fragte ich Domenico überflüssigerweise. Eigentlich war ja klar, dass er ihn kannte, aber ich wollte einfach sichergehen, dass wir nicht noch unnötig durch die Straßen kurven mussten. Mich nervte, dass sich Mister Obercool ein Motorrad auslieh, das er nicht mal richtig anwerfen konnte.

«Klar. Ich find immer heim», sagte er und versuchte erneut, den Motor in Gang zu setzen.

Heim?

«Wie meinst du das?», fragte ich leise, als der Motor schon wieder abstarb. Ich fühlte einen Stich im Herzen.

«Ich bin doch dort geboren», antwortete er nur und startete einen neuen Anlauf.

«Ich dachte, in Palermo?»

«Wer hat das gesagt?»

Das wusste ich auch nicht mehr. Hatte ich es einfach angenommen? Oder hatte Frau Galiani so etwas erwähnt? Während ich noch überlegte, gelang es ihm endlich, den Motor anzulassen, nachdem er zusätzlich einen kleinen Knopf seitlich an der Maschine gezogen hatte.

Auch wenn ich Domenicos Wunsch, nicht nach seiner Vergangenheit zu forschen, respektieren musste, hoffte ich doch inständig, irgendetwas über seine Kindheit zu erfahren. Jedenfalls wusste ich mittlerweile, dass er tatsächlich in Monreale aufgewachsen war. Das hatte ich auf meiner letzten Sizilienreise ja noch nicht hundertprozentig gewusst.

Domenico fuhr aus dem Schuppen in die enge Gasse und bog dann auf die Hauptstraße ab.

Mittlerweile hatte ich mich so sehr an Nickis moderne Ducati gewöhnt, dass ich fast Mühe hatte, mich auf diesem alten, fremden Gefährt nicht zu verkrampfen. Außerdem fuhr Nicki wie ein Henker, schlängelte sich haarscharf zwischen den Autos hindurch und gab ordentlich Gas, wenn er freie Bahn hatte. Die anderen Motorradfahrer machten das alle genauso, so dass ständig einer dem anderen den Weg abschnitt. Die Geschwindigkeitstafeln zeigten von dreißig bis hundert so ziemlich alles gleichzeitig an.

Der Geruch nach verbranntem Gummi und Staub kitzelte unangenehm in meiner Nase, und dazwischen mischte sich hin und wieder auch der Gestank von Abfall. Ich war froh, als Domenico endlich in eine Seitenstraße einbog und wir den dichten Verkehr hinter uns lassen konnten. Allerdings wurde die Sache wegen unzähliger Straßenschäden, die nur notdürftig geflickt waren, ziemlich unbequem.

Tatsächlich schien er den Weg mühelos zu finden, obwohl es mir vorkam, als würden wir uns durch ein Labyrinth von Seitenstraßen und Gässchen schlängeln. Irgendwann stieg die Straße an, und als ich das blaue Hinweisschild mit dem Pfeil und der Aufschrift MONREALE sah, wusste ich, dass wir definitiv auf dem richtigen Weg waren.

Allerdings zweifelte ich nach wie vor daran, dass Salvatore und seine Familie uns um diese Uhrzeit noch reinlassen würden. Es war inzwischen fast ein Uhr nachts …

Wir waren viel schneller oben auf dem Berg, als ich dachte, doch ich erinnerte mich daran, dass ich letztes Mal den Weg ja verschlafen hatte, als ich mit Paps im Bus da hochgefahren war. Schon bald konnte ich das Lichtermeer von Palermo bewundern. Die Aussicht war traumhaft schön, und bestimmt dachte Domenico das Gleiche, denn ich merkte, wie er das Tempo drosselte. Hier oben war es merklich kühler als unten in Palermo, und ich fröstelte bereits wieder.

Wir fuhren in das Städtchen hinein und am beleuchteten Dom vorbei, wo der Platz sich weitete, nur um gleich darauf wieder in schmale Straßen und Gassen zu münden. Domenico fuhr zielsicher um mehrere Kurven, und ich erkannte schließlich das Schulgebäude wieder, wo ich damals nach ihm gesucht hatte. Gleich um die Ecke war auch die Pizzeria Rigatori.

Wie vertraut mir schon wieder alles vorkam!

Zu meinem Erstaunen war die Pizzeria tatsächlich noch hell erleuchtet. Domenico parkte direkt davor. Ein paar junge Leute standen sogar draußen und plauderten ausgelassen. Von Feierabend noch keine Spur!

«Na, was hab ich dir gesagt?», lächelte Domenico, als er mir beim Absteigen half. «Die gehen hier nicht so früh ins Bett.»

Er nahm mir den Helm ab und hängte ihn an den Lenker. Dann legte er den Arm um mich, presste mich an seinen warmen Körper und führte mich zu der Menschengruppe.

Einige von ihnen hielten sofort im Gespräch inne und starrten uns neugierig an. Ich zählte ungefähr elf, zwölf Leute. Plötzlich fing einer vor Freude an zu brüllen.

«Nico! Nico! Unn' ci pozzu credere … ma, che ci fa' tu ccà? Talé a chistu, Domenico c'è!»

Der Typ löste sich aus der Truppe, und ich erkannte Salvatore auf Anhieb wieder an seinen unverkennbaren Segelohren. Er stürmte auf Domenico zu, und die beiden Jungs fielen sich um den Hals und küssten sich auf die Wangen.

Ich stand geduldig daneben, und während die beiden miteinander plauderten, befiel mich ein unheimliches Gefühl, das ich abzuschütteln versuchte.

Es kam mir echt vor, als wäre Domenico soeben nach Hause gekommen. Als würde er in Wahrheit hierher gehören. Er wirkte so komplett anders hier. Viel gelöster als in Deutschland. Er redete lebhafter, und sein Lachen hörte sich sogar richtig befreit an.

Irgendwie beunruhigte mich das.

Als Salvatore mir einen neugierigen und zugleich stutzigen Blick zuwarf, schob mich Domenico vor sich.

«Ti presento a me' zita, Maya.» In seiner Stimme lag unverkennbarer Stolz.

Salvatore grinste von einem Ohr zum anderen. Ob er sich noch an mich erinnern konnte? Jedenfalls begrüßte er mich ebenfalls mit überschwänglichen Küsschen, als würde ich längst zur Familie gehören. Er war, wie Domenico, in der Zwischenzeit gewachsen, und aus dem Flaum auf seiner Oberlippe war richtiger Bartwuchs geworden, den es zu rasieren lohnte. Die Kette mit dem Medaillon, die mir letztes Mal aufgefallen war, trug er nicht mehr.

Er wandte sich wieder Domenico zu und stellte ihm eine Frage. Offenbar ging es um Mingo. Ich versuchte Domenicos Antwort zu verstehen, aber er redete intensiver Dialekt denn je. Doch offenbar sagte er etwas, das Salvatore nicht in Unruhe versetzte. Ich war mir fast sicher, dass er Salvatore verschweigen wollte, was mit Mingo geschehen war.

Danach begrüßte Domenico auch die restlichen der Gruppe und umarmte alle, Jungs wie Mädchen. Offenbar kannte er jeden und jede von ihnen. Ich fand mich damit ab, dass aus einem warmen Bett wohl noch längere Zeit nichts werden würde. Salvatore redete auf Nicki ein wie ein Maschinengewehr. Er hielt uns eine Plastikflasche und ein paar Pizzareste hin. Domenico griff hungrig danach und biss in ein Stück Pizza.

«Hier, Süße. Magst du auch davon?»

«Ich möchte eigentlich lieber was trinken.»

Er hielt mir wortlos die Flasche hin. Das Etikett darauf sah aus, als wäre Essig drin.

«Was ist denn das?»

«Rotwein. Keine Angst, der ist nicht stark.»

«Aber damit kann ich meinen Durst nicht löschen.»

Domenico rief Salvatore etwas zu, worauf dieser in das Innere der Pizzeria düste und gleich darauf mit einer großen Wasserflasche zurückkam. Nicki nahm sie und drückte sie mir anstelle der Weinflasche in die Hand.

Ich ließ die Jungs noch ein bisschen reden und setzte mich auf eine Mauer. Wirklich dumm, dass ich kaum was verstand. Und Domenico war eindeutig so von Wiedersehensfreude erfüllt, dass er mich vorerst ganz vergessen hatte.

Und zu allem trank er den Wein mal wieder wie Wasser.

Als die Mädchen jedoch anfingen, immer enger zu ihm aufzurücken, stand ich wieder auf. Vertraut, wie sie mit ihm waren, schien es, als hätte er auch hier einen ganzen Harem gehabt.

Ich schlenderte langsam zu ihm hinüber und gähnte demonstrativ. Ich schlief wirklich beinahe im Stehen ein. Er sah mich an und sagte etwas zu Salvatore, und der verschwand sogleich im Innern der Pizzeria.

«Du kriegst gleich ein Bett, duci mia», sagte er sanft.

Es dauerte nicht lange, bis Salvatore wieder da war, mit seinem Vater im Schlepptau. Der begrüßte Domenico ebenfalls mit einem Riesenhallo, und ich musste mich noch weitere Minuten gedulden.

Tja, auch von der ganzen Zeit in Monreale, die er vor drei Jahren mit Mingo hier verbracht hatte, hatte er mir kaum etwas erzählt.

Schließlich brachte Salvatore uns einen Schlüssel.

«Amunì, scia'. Ich zeig dir dein Bett», sagte Domenico sanft und drückte Salvatore die fast leere Weinflasche wieder in die Hand.

Er führte mich außen herum ins Haus hinein, und wir stiegen eine enge Treppe hoch in den obersten Stock. Dort schloss Domenico eine der Türen auf. Wir standen in einer winzigen Mansarde.

«Hier», sagte er und machte das Licht an.

Das Dachzimmer war so eng, dass es gerade Platz für ein kleines Bett, ein Nachtschränkchen und eine kleine Kommode bot.

«Und wo schläfst du?», fragte ich etwas enttäuscht. Ich hatte irgendwie gehofft, wir würden im selben Zimmer schlafen … Ich wollte noch einmal die neue «Schlafmethode» testen, die ich damals an unserem gemeinsamen Wochenende in dem Haus meiner Tante am See zum ersten Mal so richtig entdeckt hatte. Es war nämlich nicht nur mein Wunsch, ihn vom Rauchen wegzubringen, sondern auch von den Schlafpillen, die er wegen seiner dauernden Alpträume seit langer Zeit nahm.

«Sehen wir dann. Wahrscheinlich unten», meinte er ausweichend. «Die anderen Mansarden sind alle besetzt. Ich zeig dir nachher noch Dusche und Klo und so.»

«Meine Sachen …» Ich schaute mich um.

«Bleib hier, ich bring sie dir rauf», sagte er und verschwand.

Ich setzte mich auf das Bett und schaute aus dem kleinen Fenster. Hinter dem beleuchteten Fenster des gegenüberliegenden Hauses brüllten sich ein paar Menschen an. Oder sie diskutierten einfach nur laut. Ich konnte es nicht so richtig einordnen.

Etwas später kam Domenico wieder und brachte mir meine Sachen, die er in zwei große Tüten gesteckt hatte.

«È tutto a vostra disposizione, soave principessa.» Er schmunzelte und legte die Tüten auf mein Bett.

Nachher zeigte er mir Bad und Toilette, die beide draußen im Flur waren. Er wartete im Zimmer auf mich, bis ich im Bad fertig war, und hatte mir schon das Bett bereit gemacht.

«Macht es dir was aus, wenn ich noch 'n wenig runtergehe und mit den anderen quatsche?», fragte er, während er mich liebevoll zudeckte und darauf achtete, dass mir ja warm genug war. «Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen. Vielleicht gehen wir auch noch 'n bisschen rüber zur Piazza.»

Ich zögerte. Warum machte mir das so zu schaffen?

«Hey!» Er beugte sich über mich und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. «Süße, es sind meine Freunde. Ich seh sie doch sonst nie. Vertrau mir doch einfach. Sogni d'oro, principessa.»

«Trink aber nicht zu viel Wein, ja?», bat ich.

Er grinste ein wenig. «Keine Sorge.»

Als er gegangen war, starrte ich eine Zeitlang gedankenverloren an die Zimmerdecke. Direkt vor meinem Fenster brannte nämlich eine Laterne und erhellte den Raum. Wenigstens war es nicht stockdunkel …

Da ich das Fenster einen Spalt breit offen gelassen hatte, hörte ich jede Stimme draußen. Und ich hörte Domenico lebhaft in seinem Dialekt reden und erzählen. Es schien ihm so viel leichter zu fallen, sich in seiner Muttersprache zu unterhalten, obwohl er bis auf ein paar wenige Fehler fast einwandfrei Deutsch sprach. Und auch wenn ich seine Worte nur teilweise verstand, nahm ich dennoch diese innige Sehnsucht wahr, die sie ausdrückten.

Er wollte hier leben, mit jeder Faser seines Wesens. Das hier war sein Land, sein Volk, seine Sprache. Er war mit seinem Herzen hier zu Hause, selbst wenn er zusammengezählt beinahe mehr Zeit seines Lebens in Deutschland verbracht hatte. Aber in seiner Seele war er immer Sizilianer geblieben. Und das machte mir Angst.

Konnte das gutgehen? Er hatte öfters angedeutet, dass er eigentlich lieber hier leben würde, aber erst jetzt wurde mir diese Tatsache in schonungsloser Deutlichkeit bewusst. Während der Schlaf mich langsam übermannte, fragte ich mich, warum er wohl nie den Kontakt zu Salvatore aufrechtgehalten hatte, obwohl sie doch echt dicke Freunde zu sein schienen. Ob das ebenfalls an Nickis innerem Nähe-Distanz-Konflikt lag? Auch Hendrik, Domenicos Halbbruder in Norwegen, hatte sich schon mehrmals beklagt, dass er kaum noch an ihn rankomme, obwohl damals in Norwegen eine wirklich tiefe Freundschaft und sogar Bruderschaft begonnen hatte.

Aber Nicki war nun mal keine einfache Persönlichkeit, und ich wusste: Mir war etwas ganz Besonderes gelungen, dass ich so eine tiefe und bis jetzt sogar ziemlich stabile Beziehung zu ihm hatte aufbauen können. Er war mir ja bisher nicht untreu geworden – ganz anders, als mir immer alle prophezeit hatten …