Ich wurde von lauten Stimmen und Straßenlärm geweckt und richtete mich auf. Noch war es schattig und düster in der Gasse, und ich warf einen Blick auf die Uhr. Erst halb sieben … Mein Körper hatte wohl immer noch den Rhythmus von der Schulzeit intus. Nein, so früh wollte ich nun wirklich nicht aufstehen, und ich ging auch absolut nicht davon aus, dass Nicki um diese Uhrzeit schon wach sein konnte. Im Gegenteil, es war nicht auszuschließen, dass er erst vor kurzem ins Bett gegangen war.
Als ich das nächste Mal wieder erwachte, war es Viertel vor zehn, und die Sonne fiel nun schräg in mein Fenster und die dünne Bettwäsche klebte nur so an mir, denn ich war von der Hitze richtig weichgekocht und total verschwitzt. Der Tag hatte längst begonnen. Ausgelassene Kinderstimmen waren in den Gassen zu hören, Frauen riefen einander etwas zu, und irgendwo lief laute Musik, die nur dann und wann übertönt wurde, wenn ein Motorrad durch die Straße knatterte.
Die Geräusche klangen hier so anders als zu Hause. Eine komplett andere Welt …
Ich beugte mich vor, um das Fenster ganz zu öffnen. Frisch gewaschene Wäsche flatterte an einer langen Leine, die vom Balkon des Nachbarhauses quer über die ganze Straße gespannt war. Ich schaute runter zur Pizzeria und sah Salvatore geschäftig rein- und rausrennen und die Gäste bedienen. Ein paar ältere Herren saßen draußen an den wenigen Tischen und debattierten eifrig – vermutlich über irgendwelche wichtigen Männerthemen wie Fußball, Arbeitslosigkeit, Berlusconi und steigende Benzinpreise.
Ich beschloss, mich erst mal zu duschen und anzuziehen und dann meine Eltern anzurufen. Ich nahm mir ausgiebig Zeit für meine Waschprozedur – nicht zuletzt, weil aus der Dusche nur ein mickeriges Rinnsal mit lauwarmem Wasser kam. Fertig gestylt setzte ich mich etwas später aufs Bett und wählte Mamas Nummer. Damit es für mich nicht zu teuer wurde, rief sie mich sofort zurück, und wir quatschten fast eine halbe Stunde lang. Ich druckste ein wenig herum, als es darum ging, ihr zu beschreiben, wie wir schließlich mit einem geliehenen Motorrad nach Monreale hatten fahren müssen.
«Siehst du, ich hätte ja wetten können, dass ihr zwei euch schon bald in euer erstes Abenteuer stürzt», meinte sie trocken.
«Für den Fluglotsenstreik kann Nicki ja nichts», verteidigte ich ihn.
«Natürlich nicht», sagte sie. «Aber ihr seid in Italien. Pass auf alle Fälle immer gut auf dein Geld auf, ja? Nimm nie alles auf einmal mit. Es kann so schnell was passieren.»
Ich versicherte ihr, dass ich aufpassen würde.
Gegen elf Uhr ging ich dann runter in die Wohnung. Tatsächlich fand ich Domenico schlafend in einem kleinen Zimmerchen. Für ein richtiges Zimmer war es definitiv zu klein, aber für einen Abstellraum – danach sah es nämlich aus – irgendwie zu groß.
Er steckte immer noch in seinen Klamotten und lag ohne Decke und Kissen auf einer frisch bezogenen Matratze. Auf dem Boden neben dem rostigen Bettgestell lagen sein Handy und seine Zigaretten. Sein Rucksack stand offen daneben, und ich entdeckte darin einen dicken Umschlag, den ich sofort wiedererkannte. Es war der Umschlag, den seine Mutter Maria mir gegeben und den ich Nicki ungeöffnet ausgehändigt hatte, obwohl ich vor Neugierde, was wohl darin war, fast geplatzt war. Und er war nach wie vor fest zugeklebt. Nicki hatte ihn nicht angerührt.
Es war so gemein, da drin war wahrscheinlich die Antwort auf so manche Geheimnisse seiner Vergangenheit, und ich durfte den Umschlag nicht aufmachen!
Aber wozu hatte er ihn wohl mitgenommen?
Ich weckte Domenico mit einem sanften Kuss auf seine Wange. Ich hatte keine Lust, ewig zu warten, bis er sich endlich bequemte aufzuwachen.
Er schlug die Augen auf und stöhnte leise.
«Guten Morgen, Schlafmütze!», neckte ich ihn.
«Unne sugnu …?»
«Auf Sizilien. In Monreale.»
Er richtete sich benommen auf.
«Chi ura su'?»
«Bald elf.»
«Schon?» Er schnappte sich eine Zigarette und klaubte eine angefangene Blisterpackung Antidepressiva aus dem Rucksack. Ohne weitere Worte verschwand er ins Bad.
Ich machte es mir auf dem quietschenden Bett bequem und studierte die dunkelbraune, etwas schwülstig verschnörkelte Kommode mit der Heiligenstatue, weil ich nichts Besseres zu tun hatte. Es sah aus, als würde die Familie hier auf ziemlich engem Raum leben.
Erst nach einer halben Ewigkeit erschien Domenico wieder. Er roch nach Sandelholz und Zigaretten, eine herbe Mischung, die ich trotzdem auf eine seltsame Art mochte, weil sie halt nach Nicki duftete.
«Soll ich dir 'n bisschen Monreale zeigen?», fragte er und berührte sachte meinen Arm.
«Gern!» Ich war froh, wenn endlich Action in den Tag kam!
«Lass uns mal runtergehen. Salvatore hat bestimmt einige Reste rumliegen, damit können wir Panini oder so was machen.»
Auf dieses Wort hin spürte ich, dass mir tatsächlich der Magen knurrte. Wir gingen runter in die Pizzeria, und ich stellte bald fest, dass sie sich kaum verändert hatte seit dem letzten Mal. Die schmuddeligen Tischdecken waren immer noch dieselben, und sogar die vergilbten Speisekarten waren noch nicht mal gegen neue ausgetauscht worden. Auch der Fernseher hing noch am selben Ort und sendete die Wiederholung eines Fußballspiels auf Rai Tre. Ein kleines Grüppchen alter, zahnloser Männer starrte gebannt auf den Bildschirm.
Domenico führte mich in die Küche. Salvatore war damit beschäftigt, ein paar Töpfe abzuspülen. Eine Frau stand an einem Arbeitstisch und belegte ein paar Panini. Genau genommen war sie die einzige Frau, die ich in dieser Pizzeria sah, und ich ging davon aus, dass es sich um Salvatores Mutter handelte.
Salvatore drehte sich zu uns um und fing sofort an, Domenico vollzuquatschen. Bald schon waren die beiden Jungs in ein angeregtes Gespräch vertieft, während ich mit knurrendem Magen danebenstand und wieder einmal mehr Geduld beweisen musste. Unglaublich, wie viel Italiener reden können! Es blieb mir nichts anderes übrig, als eine weitere Madonnenfigur mit Jesuskind zu studieren, ehe sich Domenico wieder mir zuwandte.
«Komm, Principessa, ich mach uns ein paar Panini!»
Ich setzte mich auf einen Hocker und sah ihm zu, während er wie selbstverständlich aus den Resten ein paar Panini für uns kreierte. Essbares war hier offenbar mehr als genug vorhanden. Ich war ganz froh, dass Salvatore wieder zum Bedienen der Gäste rausgehen musste. Ich hatte nämlich insgeheim den Verdacht, dass es sich bei ihm um eine männliche Quasselstrippe handelte.
«Hast du hier manchmal auch ausgeholfen?», wollte ich von Domenico wissen, weil es den Anschein machte, als ob er sich in dieser Küche bestens auskannte.
«Mhmm. Musste ja irgendwie zusehen, dass wir alle was zu beißen hatten. Wir durften dafür hier kostenlos essen, so viel wir wollten.» Mit flinken Handgriffen schnitt er ein paar Salamischeiben ab und verteilte sie auf den Broten. Ich konnte mir wirklich gut vorstellen, dass er eines Tages ein eigenes Restaurant führen würde, auch wenn die Sache mit seinem Schulabschluss immer noch ein offenes Kapitel war.
«Was möchtest du noch drauf haben?», fragte er. «Funghi? Sardinen? Sardellen? Paprikaschoten?»
«Alles», sagte ich, während meine Gedanken wieder zurück zu Domenicos und Mingos Leben und Kindheit hier in Monreale wanderten.
«Hat Mingo auch in dieser Küche geholfen?» Ich konnte mir Mingo irgendwie gar nicht so richtig beim Kochen vorstellen.
«Nee, der hätte nur alles verschüttet …» Domenico schob die Panini in den Holzofen. «Er hat dafür Sachen für Alfredo repariert … darin war er ja gut.»
«Alfredo?»
«Salvatores Vater.» Er klaubte eine Zigarette aus der Packung in der Hosentasche und ging nach draußen in den kleinen Hof, der direkt hinter der Küche lag und für Gäste unzugänglich war. Ich folgte ihm und merkte, dass seine Stimmung auf einmal gedrückt war. Es war wohl gar nicht gut gewesen, dass ich das Thema auf Mingo gelenkt hatte …
«Mingo war echt gut drauf hier», sagte er leise und zog die Nase hoch. Ich merkte, dass er den Tränen nahe war.
«Er hat kaum noch gespritzt und fast nur noch gesnieft. Eitsch, mein ich. Heroin. Weißt du ja. Wir hätten niemals von hier weggehen sollen.»
«Und warum habt ihr es dann getan?» Das war mir bis zu diesem Tag immer noch nicht hundertprozentig klar.
«Ach, es gab viele Gründe», winkte er kraftlos ab.
Ich schwieg und stellte mich neben ihn, um meine Hand auf seine Brust zu legen und sie leicht zu massieren. Ich wusste, dass er das mochte. Er schloss die Augen und lehnte sich an mich, und ich ließ es sogar zu, dass er mich mit seinem Zigarettenqualm einnebelte. Im Moment war es wieder echt schwierig, Zugang zu ihm zu kriegen.
Zwei Zigaretten später gingen wir zurück in die Küche. Die Panini waren längst fertig, Salvatore hatte sie für uns aus dem Ofen gezogen und auf einen Teller gelegt. Wir machten es uns am Küchentisch bequem und verzehrten die knusprigen Brote. Salvatore gesellte sich während des Essens zu uns und plauderte wie ein Wasserfall. Er warf mir immer wieder komische Blicke zu und sagte etwas zu Nicki, was offenbar furchtbar lustig war.
«Was tratscht ihr da über mich?», fragte ich angriffslustig.
Domenico grinste verschmitzt. «Salvatore hat mir grad erzählt, wie du damals die Cola ausgeschüttet und deinen Vater fast zur Verzweiflung getrieben hast.»
«Ha, ha, ha», machte ich. Langsam wurde mir das echt zu bunt. Ich hoffte, dass Salvatore uns nicht auch auf unserem Spaziergang durch Monreale begleiten würde. Aber zu meiner Erleichterung musste er in der Pizzeria helfen.
«Was möchtest du denn gern sehen?», fragte Domenico. «Möchtest du in den Dom?»
«Den hab ich schon mit meinem Vater gesehen …»
Am allerliebsten wäre ich in das Schulgebäude gegangen und hätte dort ein wenig herumgeforscht. Zum Beispiel nach diesem Zimmer, welches Domenico immer zu zeichnen versuchte. Irgendwie nahm ich einfach an, dass es sich irgendwo in dieser Schule befand, obwohl ich dafür keine Beweise hatte. Aber ich wusste natürlich genau, dass Domenico das nicht wollte.
«Ich möchte gern zu dem Aussichtspunkt, wo man ganz Palermo überblicken kann», sagte ich deshalb.
«Okay», meinte er.
Wir schlenderten Richtung Dom. Ich erkannte so vieles wieder, weil ich damals auch etliches fotografiert hatte. Genau genommen hatte ich fast jeden Winkel von Monreale abgelichtet. Wir schlängelten uns durch Autos, Menschengruppen und Verkaufsstände. Die Straße war ein einziges buntes Wirrwarr. Viele der Häuser waren von außen nicht mehr als Bruchbuden, während andere wiederum gepflegt und einladend wirkten. Doch die meist gelblichen Fassaden hätten in der Regel fast alle einen Anstrich nötig gehabt.
Von etlichen Balkonen flatterte Wäsche, was dem Gesamtbild noch ein paar zusätzliche Farbtupfer verlieh. Ein roter Wagen, der von oben bis unten mit Putzwaren behangen war, schob sich schwerfällig durch den Verkehr, und der Fahrer dieses rollenden Haushaltswaren-Shops pries seine Waren durch einen Lautsprecher an. Ich schaute ihm fasziniert nach, während Domenico ihn keines Blickes würdigte. Für ihn war das natürlich alles normal …
Ich fand den Gedanken irgendwie aufregend, dass er in so einem typisch sizilianischen Nest aufgewachsen war. Die Geheimnisse, die um seine Kindheit hier herumschwebten, waren nun zum Greifen nah. All die Fragen und Überlegungen begannen nun deutlicher Form anzunehmen. Wo hatten er und Mingo gewohnt? In einem kleinen Zimmer, zusammen mit Mamma Rosalia? Oder doch in einer kleinen Wohnung? Was hatten sie den ganzen Tag gemacht? Hatten sie in den Gassen gespielt, wie die anderen Kinder auch? Hatten sie einen Kindergarten besucht? Was für Leute hatten sie gekannt? Wie gut konnte er sich nun tatsächlich erinnern?
Ach, dass er mir aber auch gar nichts darüber erzählte! Das war so zermürbend …
«Du, Nicki …»
«Maya – ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht in meiner Vergangenheit rumforschen will. Okay?»
Es war mir richtig unheimlich, dass er sofort gecheckt hatte, worauf ich hinauswollte …
Beim Domplatz wurde es wieder heller. Die engen Straßen hatten eine Menge Schatten gespendet, doch jetzt standen wir in der prallen Sonne, und ich merkte, wie heiß es war. Sofort zog ich meine Jacke aus.
Auf dem riesigen Platz wimmelte es von Touristen und Verkaufsständen. Der Dom von Monreale war immerhin eine bekannte Sehenswürdigkeit.
Domenico grinste. «Unglaublich, dass die alle nur wegen dem Dom hierherkommen.»
«Mein Vater wollte mir damals jedes Detail verklickern», stöhnte ich. «Er fand, Geschichtsunterricht in den Ferien sei genau das, was ich brauche.»
Er lachte. «Ehrlich gesagt weiß ich kaum was über den Dom», meinte er. Er deutete die Straße hinunter. «Da! Schau!»
«Wow», sagte ich. Die Straße machte einen Bogen, und direkt vor uns hatten wir eine fantastische Aussicht auf Palermo.
Ich holte sofort den Fotoapparat aus der Handtasche. Domenico trat schweigend zur Seite, um ja nicht aus Versehen vor meine Linse zu geraten. Wir gingen noch ein paar Meter weiter, so dass ich eine noch bessere Sicht hatte. Auch wenn ich das schon letztes Mal alles ausgiebig mit der Kamera festgehalten hatte, konnte ich einfach nicht genug Bilder davon kriegen.
Allerdings war ich nicht die einzige Touristin, die diese Idee hatte. Eine dicke Amerikanerin trat mir andauernd vor die Linse, und ich musste immer wieder zur Seite weichen, um ein paar vernünftige Aufnahmen hinzukriegen. Domenico stand mit einer Zigarette in der Hand ein paar Meter von mir entfernt und amüsierte sich köstlich. Solange er keine Angst haben musste, dass ihn jemand fotografierte, war er ziemlich guter Laune.
Als ich den Fotoapparat in meiner Handtasche verstaute, trat Nicki wieder näher zu mir. Beide wurden wir eine Weile lang ganz von den leuchtenden Farben in den Bann gezogen. Das unwahrscheinlich blaue Meer bildete einen schönen Kontrast zu den goldgelben Häusern. Kein Wunder, dass Nicki das häufig graue Wetter in Deutschland oft auf die Seele schlug.
«Und? Gefällt dir Monreale?», fragte er leise.
«Ja, sehr», sagte ich. Ich hätte so gern gewusst, wie intensiv diese Erinnerungen an seine Kindheit hier mittlerweile wieder an die Oberfläche seiner Seele gespült worden waren. Ich konnte richtig fühlen, wie sich beim Betrachten dieser schönen Aussicht die Sehnsucht in ihm verstärkte. Deshalb legte ich meinen Arm um ihn.
«Woran denkst du?», fragte ich sehr vorsichtig.
Er drückte seine Kippe auf dem Eisengeländer aus, das die Straße vom Hang abzäunte.
«Dass Mingo immer behauptet hat, er könne sich an gar nix erinnern. Aber ich bin mir ganz sicher, dass er es konnte. Als wir hier waren, war er es, der den Weg zur Pizzeria und zur Scuola gefunden hat. Manchmal war er echt wirr in der Birne … so wie ich auch …»
Wir traten schweigend den Rückweg an. Ich traute mich nicht zu fragen, was er nun vorhatte und wohin er gehen wollte. Wenn er solch wechselnde Launen hatte, schwieg man am besten, das hatte ich mittlerweile einsehen müssen. Ich folgte ihm einfach, und anscheinend wollte er zurück zur Pizzeria.
Doch zu meiner Überraschung blieb er vor dem lachsroten Schulgebäude stehen. Eine der beiden Laternen, die neben dem Eingang standen, sah ziemlich malträtiert aus.
«Stell jetzt einfach keine Fragen, okay?», sagte er und schaute mich eindringlich an. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu nicken, und er stieß die Tür auf. Wieder einmal ärgerte ich mich, dass er immer den Ton angab, wenn es darum ging, ob man reden durfte oder nicht.
Wir traten ins Innere des Gebäudes. Domenico spähte erst vorsichtig umher, ehe er sich weiter hineinwagte. Ich war etwas mutiger und trat zu der Kommode mit den Kerzen und dem Madonnenbild, das mir schon letztes Mal gleich als Erstes aufgefallen war. Ich konnte mir nicht erklären, was mich an diesem Bild so anzog, aber irgendetwas hatte es mit dieser Malerei auf sich. War es der liebliche Ausdruck auf dem Gesicht dieser Madonna? Oder waren es ihre gefalteten Hände? Irgendwie wusste ich, dass es nicht das war, aber ich konnte auch nicht definieren, was es war.
«Amunì», flüsterte Domenico und ergriff meine Hand. «Aber sei leise!»
So lautlos wie möglich schlichen wir die Treppen hoch. Aus einigen der Türen im ersten Stockwerk drangen leise Stimmen, die sich nach Unterricht anhörten. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen, wohin Nicki mich führen würde. Denn dass er mir irgendwas zeigen wollte, war mir inzwischen klar.
Wir stiegen bis in den dritten Stock hinauf. Dort zweigte ein kleiner, unscheinbarer Flur nach rechts ab. Domenicos Finger klammerten sich fester um meine, als er mich in diesen Flur zog. Noch einmal schaute er sich ängstlich um, dann öffnete er eine kleine Tür.
Eine schmale Wendeltreppe wurde dahinter sichtbar. Er schob mich schnell durch die Tür und schloss sie leise hinter uns. Nun standen wir in völliger Dunkelheit da. Domenico tastete nach dem Lichtschalter, doch der funktionierte offenbar nicht.
«Sei ganz leise», wisperte er abermals. «Die Treppe knarrt fürchterlich. Wir müssen langsam gehen. Es darf uns keiner hören.»
«Was ist denn hier oben?», flüsterte ich zurück.
«Ich hab dir gesagt, du sollst keine Fragen stellen.» Er holte sein Handy heraus und ließ das Display aufleuchten. Ich machte dasselbe. So konnten wir wenigstens sehen, wohin wir traten.
Die Treppe schien in einen kleinen Turm zu führen, doch sie war nicht allzu lang. Zwei Windungen, und wir waren oben. Sie endete vor einer kleinen, verwitterten Holztür, an der ein kleines Kreuz aus Metall hing.
Domenico machte sein Handydisplay aus und lehnte sich gegen die Tür. Ich hingegen ließ meine Lichtquelle an, weil ich etwas sehen wollte. Domenico strich mit seiner Hand sachte über das morsche Holz und presste sein Ohr dagegen. Nur unsere Atemstöße waren in der Stille zu hören; seine waren schwer und hektisch, meine flach und regelmäßig. Ich biss mir auf die Lippen, um meine tausend Fragen mit Gewalt zurückzuhalten.
Ob es sich hier um das Zimmer handelte, das er immer zeichnete?
In dem schwachen Lichtschein meines Handys sah ich, wie sein Gesicht zuckte. Ich streckte meine Hand aus und berührte seinen Arm.
Auf einmal hatte ich wieder das Bild eines kleinen Jungen vor mir, der sehnsüchtig vor der Tür seiner Mutter wartete. Es war nicht das erste Mal, dass ich diese innere Vision hatte, doch sie war so eindrücklich, dass ich Nicki am liebsten in den Arm genommen hätte.
«Sollen wir reingehen?» Ich wusste selbst nicht, was in mich fuhr, als ich mutig nach der Türklinke fasste. Ich hatte einfach nur den Eindruck, dass es von ganz großer Wichtigkeit war, das Geheimnis hinter dieser Tür zu lüften.
Doch schnell wie der Blitz zog er meine Hand weg.
«No, unnu fari!»
Ich fühlte mich, als hätte ich meine Hand verbrannt, während seine lodernden Augen mich fast versengten.
«Wieso kannst du es nicht einfach respektieren?», zischte er verzweifelt.
«Ich dachte … du … willst mir zeigen … was dahinter ist …», antwortete ich mit bebender Stimme und verwünschte mich selber für meine Dummheit. «Du … du hast mich vor diese Tür geführt, und ich dachte …»
«Ich hab nicht gesagt, dass du sie aufmachen sollst!»
Ich konnte förmlich hören, wie sein Herz sich vor Erregung fast überschlug, beinahe so, als hätte er einen Schock erlitten. Er ballte seine Fäuste und lockerte sie wieder – eine Verhaltensweise, die er in der Therapie hatte einüben müssen, um sich selber wieder zu beruhigen.
«Es tut mir wirklich leid, Nicki …»
«Lass uns gehen», sagte er, plötzlich ganz passiv.
Mist, nun hatte ich echt was kaputtgemacht!
Kleinlaut schlich ich hinter ihm die Treppe runter. Ich wusste, dass seine Laune nun für den Rest des Tages völlig im Keller sein würde. Aber es war auch echt schwierig: Einerseits wollte ich mich nicht ständig von ihm herumkommandieren lassen, andererseits wusste ich um seine tiefen Verletzungen und dass äußerste Behutsamkeit angesagt war. Der Tiger war stark – und gleichzeitig zerbrechlicher als Porzellan.
Als wir wieder im Freien waren, widmete er sich erst mal ganz seinem Glimmstängel. Ich setzte mich ein paar Meter weiter weg von ihm auf eine kleine Holzbank.
Ach, warum hatte er bloß solche Angst vor seinen Erinnerungen? Er hatte das mit Morten, seinem Vater, doch auch geschafft! Wieso zauderte er nun wieder so?
Als er fertig war mit Rauchen, kam er zu mir rüber.
«Ich fahr nach Palermo und bring Totò das Motorrad zurück», verkündete er.
«Okay», sagte ich. Da er mich nicht fragte, ob ich ihn begleiten würde, ging ich davon aus, dass er allein gehen wollte. Außerdem war es mir zu blöd, ihn extra danach fragen zu müssen.
Wieder zurück in der Pizzeria, holte Domenico das Motorrad aus dem Schuppen.
«Wenn du Hunger hast, geh in die Küche. Salvatore macht dir bestimmt was zu essen», meinte er, bevor er unter dem Helm verschwand. Ohne ein weiteres Wort startete er den Motor. Dieses Mal funktionierte es auf Anhieb.
Und schon war er weg.
Ich hatte keine Lust, hinauf in die muffige Mansarde zu gehen und den Rest des Tages dort zu verbringen, also blieb ich vor dem Eingang stehen. Salvatore war beschäftigt mit dem Bewirten der Gäste, aber ich hatte eh keinen Hunger.
Ziellos schlenderte ich durch die Straße und setzte mich wieder auf die kleine Bank neben der Schule. Eine Weile lang starrte ich einfach ideenlos hinauf in den blauen Himmel. Allmählich begann ein feiner Gedanke in mir aufzukeimen, den ich zwar erst mal in seine Schranken verwies. Doch je mehr ich meinen Blick auf das lachsrote Schulgebäude richtete, desto hartnäckiger saugte er sich fest. Tatsächlich entdeckte ich nun auf dem Dach den kleinen Turm, der mir vorher noch gar nicht aufgefallen war und der mich irgendwie an den Turm in meinem alten Schulhaus erinnerte, wo Domenico mich auch einmal mit raufgeschleppt hatte, damals, ganz am Anfang unserer Freundschaft …
Was, wenn sich in diesem Turmzimmer wirklich etwas befand, das Domenico gewaltig weiterhelfen würde? Das ihn vielleicht von seinen Alpträumen erlösen oder ihm sogar bei seinen Suchtproblemen helfen konnte? Ich musste mir zwar selber eingestehen, dass das etwas märchenhaft klang – aber was, wenn es nun doch so wäre? Und wenn wir einfach abreisen würden, ohne dieses kostbare Geheimnis entschlüsselt zu haben?
Es gab keine Zweifel – ich glaubte es einfach tun zu müssen. Ich hatte ja oft erfahren, dass man Nicki echt zu seinem Glück zwingen musste. Es schien mir sogar fast, als sei dieser Gedanke eine Eingebung. Irgendwie wusste ich einfach, dass das, was wir in diesem Zimmer finden würden, ungeheuer wichtig für Nicki sein würde.
Genau so sicher wusste ich aber auch, dass sehr, sehr viel passieren musste, um Domenico dazu zu bewegen, in das Zimmer reinzugehen. Und dass sich mir hier und jetzt vielleicht eine einzigartige Gelegenheit bot.
Entschlossen stand ich auf und lief wieder zum Eingang. Etwas schüchtern stieß ich die Tür auf und hoffte, auch dieses Mal im Flur niemandem zu begegnen. Doch leider hatte ich nicht ganz so viel Glück: Auf meinem Weg nach oben wurde die Treppe durch einen Putzwagen versperrt. Eine vor sich hin schimpfende Frau tauchte dahinter auf und scheuchte mich griesgrämig aus dem Weg.
Irgendwie kam sie mir bekannt vor … Als ich den kleinen Schnurrbart sah, der auf ihrer Oberlippe prangte, konnte ich mich sogar wieder an ihren Namen erinnern: Das war Signora Rossi, dieselbe Putzfrau, die uns auch letztes Mal mit ihrem Karren fast über die Füße gefahren war. Ich kicherte ein wenig bei dieser Erinnerung, und noch ein wenig mehr, als ich auf die Idee kam, dass sie eigentlich das ideale Pendant war zu Herrn Biedermann, dem kratzbürstigen Hausmeister meiner ehemaligen Schule.
Ich tat so, als würde ich hierher gehören, und nahm die letzten Treppenstufen bis in den dritten Stock ziemlich zielstrebig unter die Füße. Oben angelangt, schaute ich mehrmals nach links und nach rechts, ehe ich mich zu der Tür mit der Wendeltreppe dahinter wagte. Erst als ich sicher war, dass wirklich niemand da war, schlüpfte ich hinein.
Als ich sehr vorsichtig die knarrende Wendeltreppe hochging, beschlichen doch Zweifel mein Herz. War es wirklich okay, das hinter Nickis Rücken zu tun? Eigentlich war ich gerade mal wieder dabei, sein Vertrauen zu missbrauchen … Doch andererseits – war es nicht seltsam, dass er mich überhaupt allein gelassen hatte? Er kannte mich doch so gut und konnte sich eigentlich denken, dass ich so was aushecken würde.
Doch ich tat es ja nur zu seinem Besten, redete ich mir schließlich ein. Ich wollte doch so gern, dass er endlich seelisch ganz heil wurde. Dass er die letzten fehlenden Puzzleteile zu seiner Vergangenheit endlich finden würde.
Also stieg ich weiter hoch und stand schließlich wieder vor dieser kleinen Holztür.
Mein Herz überschlug sich mal wieder fast, als ich meine Hand zur Türklinke ausstreckte – im Begriff, ein großes Geheimnis zu lüften.
Und ebenso grenzenlos war ich enttäuscht, als ich feststellen musste, dass die Tür abgeschlossen war.
So ein Mist! Das hätte ich mir ja eigentlich denken können. Manchmal war ich wirklich bescheuert!
Was nun? Ohne auf die knarrenden Stufen zu achten, stieg ich die Wendeltreppe wieder runter und sah mich draußen auf dem größeren Flur um. Ob es hier irgendwo eine Besenkammer oder so was in der Art gab, in der die Schlüssel verwahrt wurden? Ich schlich durch den Gang, doch alles, was ich als mögliche Besenkammer identifizierte, war natürlich ebenfalls abgeschlossen. Und ich konnte ja wohl kaum die grimmige Signora Rossi fragen, ob sie mir die Tür aufschließen würde …
Im selben Moment hörte ich Schritte den Flur entlangkommen, und wie ein aufgescheuchtes Tier stob ich davon und stolperte die Treppen hinunter.
Froh, ungesehen nach draußen zu gelangen, marschierte ich auf schnellstem Weg zur Pizzeria und verkroch mich entgegen meiner anfänglich gefassten Pläne doch in meiner Mansarde. Dort legte ich mich aufs Bett, um ein wenig zu lesen. Ich hatte extra ein Buch mitgenommen, um mir die Zeit zu vertreiben, die ich jeweils damit zubringen musste, auf Domenicos Erwachen am Morgen zu warten. Nicki war ja wegen seiner Schlafstörungen ein Nachtvogel und morgens dafür dann ein Langschläfer per eccellenza …
Doch irgendwie döste ich mitten im Lesen ein und erwachte, als mich etwas zart im Gesicht berührte. Ich schlug die Augen auf. Nicki sah auf mich herunter und lächelte mich an.
«Hey, Principessa, wach auf!»
Er stellte eine Schale Antipasti auf mein Nachtschränkchen. Draußen sah ich schon die Dämmerung hereinbrechen. Ich fuhr hoch und schaute entsetzt auf die Uhr. Das Buch, das auf meinem Bauch gelegen hatte, purzelte zu Boden.
«Ich hab dir die ganze Zeit beim Pennen zugeschaut», grinste er und strich mir übers Haar. «Du bist sehr schön, weißt du das?»
Ich schaute ihn verwirrt an. Offenbar hatte seine Laune wieder gewechselt.
«Hier, falls du was davon haben magst.» Er reichte mir die Schale mit den kleinen Häppchen. Dann bückte er sich und hob mein Buch vom Boden auf.
«Ich hab dir deinen Trolley gebracht», sagte er.
«Danke.» Ich nahm ein Stück gefüllte Aubergine und biss hinein.
«Du hättest mich nicht allein nach Palermo gehen lassen dürfen», sagte er leise.
«Warum? Was ist passiert?»
Er lehnte sich an mich und schob sich eine Olive in den Mund.
«Na, sag schon.»
«Du musst einfach knallhart zu mir sein», flüsterte er.
«Dann sag mir wenigstens, was los war.»
Er schwieg und kaute auf einem Olivenstein herum.
«Magst du mit mir 'nen Film anschauen?», fragte er schließlich, statt mir zu antworten.
«Ja, toll, jetzt lenkst du wieder ab», stöhnte ich.
Ich war ziemlich sauer auf ihn, als wir ins Wohnzimmer runtergingen. Im Moment hatte er echt wieder eine extrem schwierige Phase. Dabei sollten es doch romantische Ferien werden! Aber vermutlich hing das alles mit seinen diffusen Erinnerungen an seine Kindheit zusammen, mit denen er irgendwie nicht zurechtkam und die ihn natürlich hier stärker beschäftigten. Und vielleicht auch damit, dass seine Mutter ihn in letzter Zeit so gestresst hatte. Trotzdem! Ich war nicht der Fußabtreter für seine blöden Launen.
Wir hatten das Wohnzimmer für uns allein, weil die ganze Familie natürlich unten in der Pizzeria war. Ich hatte mittlerweile herausgefunden, dass sie nur zu dritt waren – Vater, Mutter und Sohn Salvatore. Kein Wunder, dass sie alle Hände voll zu tun hatten.
Domenico öffnete den Schrank und durchwühlte ihn auf der Suche nach DVDs. Er zog ein paar Filme heraus.
«Such dir was aus.»
Ich wählte eine Liebeskomödie, die ich schon kannte, weil die DVDs natürlich alle in italienischer Sprache waren. Nicki war es egal, was wir schauten.
Mitten im Film platzte Salvatore herein und fragte, ob wir später noch ein bisschen runterkommen wollten.
«Ich würde nach dem Film gern noch ein wenig runtergehen», sagte Nicki anschließend zu mir. «Magst du mitkommen? Oder möchtest du lieber ins Bett?»
«Du und Salvatore, ihr seid irgendwie ziemlich miteinander vertraut, kann das sein?»
«Ja, klar. Wir sind doch zusammen aufgewachsen.»
«Zusammen aufgewachsen?» Das war mir neu.
«Na ja, wir haben halt als Kinder miteinander gespielt. Einige der anderen Jungs von gestern Abend waren auch dabei. Ich kenn sie alle noch.»
«Dann werden deine Erinnerungen ja immer klarer», stellte ich fest.
Er zuckte mit den Schultern. «Vieles weiß ich immer noch nicht.»
«Was hast du eigentlich mit dem Umschlag deiner Mutter vor?», wollte ich wissen. «Ich hab nämlich gesehen, dass du ihn mitgenommen hast. Willst du ihn nun wirklich ins Meer schmeißen?»
«Mal sehen. Vielleicht. Nach Deutschland nehm ich ihn jedenfalls nicht mehr mit.»
«Das würde ich mir an deiner Stelle noch mal überlegen», sagte ich leise. «Vielleicht sind dort ja wichtige Sachen für dich drin.»
Wieder hob er scheinbar gleichgültig seine Schultern. «Aus irgendeinem Grund hat sie das Zeug ja dauernd vor mir versteckt. Wieso soll mir das denn jetzt noch was helfen?»
«Ich mein ja nur.» Insgeheim fasste ich sofort den Entschluss, dass ich den Umschlag unbedingt vor der Vernichtung retten musste. Ich musste dringend verhindern, dass Nicki ihn ins Meer schmeißen oder sonst irgendwie beseitigen würde.
Da ich keine Lust hatte, das fünfte Rad am Wagen zu sein, weil ich mich an den Gesprächen mit Salvatore und den andern kaum beteiligen konnte, entschied ich mich, nach dem Film ins Bett zu gehen. Ich konnte ja noch ein wenig lesen.
Nicki blieb wieder bei mir, bis ich mit der Waschprozedur fertig war, und deckte mich zu, als ich im Bett lag.
«Ich liebe dich», sagte er leise, bevor er mich verließ.
«Ich liebe dich», antwortete ich.
Er legte für einen kurzen Moment seinen Kopf auf meine Brust und schloss die Augen.
«Ich brauch dich so sehr, weißt du das?»
Ich strich ihm schweigend über sein weiches Haar.
«Ich zeig dir morgen meine Lieblingsstelle am Meer», murmelte er in die Bettdecke, bevor er sich wieder aufrichtete. «Wir fahren bei Sonnenuntergang hin. Es wird dir gefallen. Ich versprech's dir.»