7. Wiedersehen in Catania

Wieder staute sich der Verkehr, doch Domenico schlängelte uns da frech hindurch. Bald bog er in eine Seitenstraße ab und fuhr zielstrebig auf verschlungenen Pfaden durch die Gassen. Er schien sich auch hier wie in seiner Westentasche auszukennen, aber er verfügte ohnehin über einen hervorragenden Orientierungssinn und ein enormes bildhaftes Gedächtnis. Wie sonst hätte er all diese Bilder malen können?

Bald erkannte auch ich die Gegend und die Seitengasse mit Luigis Trattoria wieder. Das verfallene Leuchtschild mit den riesigen grünen Neonlettern hing noch schiefer als letztes Mal. Sofort schossen so viele Erinnerungen in mein Gedächtnis. Wie ich damals mit Mingo in der Trattoria gesessen und mich mit ihm unterhalten hatte, wie er mir seine Einstichwunden gezeigt hatte … und wie Domenico mich damals zum allerersten Mal auf dem Motorrad mitgenommen hatte. Auch an Luigi Lombardo konnte ich mich noch gut erinnern. Mein Vater hatte damals seine Frau ärztlich betreut. Ich war gespannt, ob es besser geworden war mit ihrem offenen Bein.

Wir parkten vor dem Eingang und stiegen ab. Irgendwas stimmte hier nicht … Warum waren die Fenster alle mit Holzlatten verbarrikadiert?

«Strano …», murmelte er. «Sieht so verlassen aus hier.»

Er ging zur Tür und versuchte sie zu öffnen, doch sie war verriegelt. Irgendwie begann ich zu ahnen, dass wir ein Problem hatten …

Als Nächstes versuchte Domenico, eine der Holzlatten vom Fenster zu lösen. Er schaffte es und spähte durch die Lücke.

«Tatsächlich. Alles ausgeräumt», meinte er bestürzt.

«Das heißt, die Trattoria existiert nicht mehr?»

Er zuckte mit den Schultern. «Sieht so aus. Haben sie ihn also doch kleingekriegt …»

«Wer?», fragte ich, doch Nicki legte nur den Zeigefinger auf die Lippen.

«Da redet man hier nicht drüber», flüsterte er.

«Und was machen wir jetzt?» Mein Mut sank in Sekundenschnelle in den Abgrund. Kein Geld, keine Dusche, kein Essen …

«Sieht nicht so aus, als ob er noch hier wohnen würde», sagte er leise.

«Und was heißt das nun?» Ich sah ihn verzweifelt an.

Er zog mich wortlos an sich, streichelte über mein Haar und dachte nach.

«Ein Zimmer kann ich dir bieten», sagte er schließlich. «Mit der Dusche und dem Klo wird's eher schwierig. Aber wir finden schon 'ne Lösung.»

«Ein Zimmer?» Doch ehe er antwortete, dämmerte es mir.

«Sofern die Bruchbude noch steht», meinte er leise. «Komm, sehen wir nach.» Er ließ mich wieder los und schob das Motorrad zwischen den geparkten Autos und Vespas, die die Gasse verstopften, hindurch. Ich folgte ihm, bis wir vor dem zweitletzten Haus standen.

Es hatte sich kaum was verändert hier. Auch an dem Haus war nichts renoviert worden. Es stand immer noch genauso verfallen da mit dem abgerissenen Dach, wie ich es in Erinnerung hatte. Nur die Läden waren überall verrammelt, und zwar auch im untersten Stock, wo Nicki und Mingo damals mit Jenny und den anderen Jungs gehaust hatten.

Hektisch fummelte Domenico am Türschloss herum. Seine Hand zitterte ein wenig.

«Auch zu», stöhnte er. «So ein Mist!»

«Oje. Und nun?»

«Warte.» Er schaute zum Balkon hoch. «Ich klettere hier rauf und schau mal, ob man die Tür von innen öffnen kann.»

Er stellte sich auf einen kleinen Mauervorsprung, packte die unteren Gitterstäbe und konnte sich so auf den Balkon hochhangeln. Wieder mal wurde mir bewusst, wie viel Kraft er in den Armen hatte. Der Laden und die Balkontür ließen sich zum Glück leicht öffnen, und er verschwand im Innern.

Eine Weile später kam er resigniert wieder zurück.

«Total zu. Ich müsste das Schloss aufbrechen», meinte er. «Traust du dir zu, auf den Balkon zu klettern?»

«Ich hab nicht so viel Kraft …», sagte ich zweifelnd.

«Ich helf dir doch.» Er kauerte sich nieder und reichte mir die Hand durch die Gitterstäbe. «Versuch's wenigstens. Sonst müssen wir uns nach was anderem umsehen.»

Ich stellte mich auf die Mauer und packte die Gitterstäbe, doch wie ich befürchtet hatte, hatte ich zu wenig Kraft in den Armen, um mich hochzuhangeln. Doch Domenico schob seine Hände einfach unter meine Achselhöhlen und zog mich hoch, bis meine Füße nur noch in der Luft baumelten. Schließlich konnte ich mich oben am Geländer festhalten. Er half mir und hielt mich fest, bis ich darübergeklettert war.

«Na also», meinte er und lächelte.

Ich schaute ihn verblüfft an. «Du bist … so unglaublich stark.»

Er grinste, doch da war auch etwas Verzerrtes in seinem Blick. Ich wusste sofort, dass ihm dieser Kraftakt ziemliche Schmerzen in der Lunge bereitet hatte.

«Das dürftest du eigentlich gar nicht tun», murmelte ich.

Zaghaft betraten wir die Küche. Oder das, was mal eine Küche gewesen war. Auch da hatte sich kaum was verändert seit dem letzten Mal. Nur dass der Boden noch staubiger und dreckiger war als damals. Vor der Balkontür war alles voller Taubenkot. Ein paar alte Kisten mit Töpfen und Pfannen, Plastik- und Metallteilen sowie verstaubten Kabeln lagen noch herum, und in der Ecke stand ein total verdreckter Kühlschrank, der allerdings nicht mehr am Strom angeschlossen war.

«Na ja, jedenfalls steht die Bude noch», meinte Domenico. «Aber anscheinend will Paolo sie doch nicht abreißen lassen, sonst hätte er sie nicht so verrammelt.»

Ich sah mich angewidert um. Der Taubenkot war noch lange nicht das Ekligste. Hinter dem Kühlschank entdeckte ich sogar etwas, das ich als Rattenkot identifizierte. Eine tote Eidechse lag auch da. Ich musste beinahe würgen, als ich das sah.

«Elende Viecher», schimpfte Domenico. «Tja, bedda mi', ein Fünfsternehotel ist es nicht gerade.»

Nein, ganz und gar nicht … Und ich wusste nicht, ob ich hier wirklich schlafen wollte.

«Hast du keine Freunde hier in Catania, bei denen wir wohnen können?», fragte ich.

Domenico trat wieder hinaus auf den Balkon. «Höchstens Angel. Die hätte wahrscheinlich Platz.»

Nein, auf Angel hatte ich noch weniger Lust … Irgendwie sah ich sie heimlich immer noch als meine Konkurrentin – warum, konnte ich selber nicht so recht erklären.

«Aber du kennst doch bestimmt noch viele andere Leute hier», sagte ich.

«Schon …» Sein Gesicht verfinsterte sich. «Hör zu: Ich will einfach nicht, dass Paolo zu früh erfährt, dass ich hier bin, okay?»

Ich zuckte mit den Schultern. Was verstand ich schon!

«Könnte man nicht rausfinden, wo Luigi jetzt wohnt?», meinte ich hoffnungsvoll. «Ich meine … es geht ja nicht nur ums Schlafen, sondern auch darum, wo wir was zu essen herkriegen, oder?» Ich merkte, wie ungewohnt sich diese Frage für mich anhörte – eine Frage, die tagtägliche Realität für Tausende von Straßenkindern war. «Wir haben gerade mal noch drei lausige Euro in der Tasche und den Rest von den anderen Esswaren, aber das reicht nicht mehr allzu weit. Und – Benzin für die Rückfahrt brauchen wir ja wohl auch noch, stimmt's?»

Statt einer Antwort öffnete Domenico vorsichtig den Kühlschrank. Eine uralte, angerostete Cola stand darin. Domenico zog sie raus und betrachtete sie stirnrunzelnd.

«Was ist?»

«Sie ist vor zwei Jahren abgelaufen.» Er stellte sie auf die Schrankfläche und starrte sie an.

Zwei Jahre … dann musste sie etwa aus der Zeit stammen, in der die Zwillinge hier gelebt hatten …

«Zur Not kann ich schon Geld zusammenschlauchen», sagte er endlich. «Ich bin gut darin. Mach dir keine Sorgen, Maya.»

«Wenn du meinst …»

«Hey, du hast 'nen ehemaligen Straßentiger bei dir. Ich weiß, wie man überlebt. Ich hab monatelang für Bianca und Mingo gesorgt.» Er nestelte in seiner Hosentasche rum, aber die Zigaretten waren anscheinend alle.

«Komm, sehen wir mal nach, ob wir uns ein Lager einrichten können. Danach besorgen wir uns was zu essen und was wir sonst noch so brauchen. Und keine Angst, ich mach hier schon alles sauber.»

Wir verließen die Küche und traten in den engen Flur, in dem immer noch der gleiche Schrott herumlag wie vor zwei Jahren. Niemand hatte hier je aufgeräumt. Domenico eilte voraus in das kleine Zimmer, das er damals mit Mingo und Jenny geteilt hatte.

Der Vorhang, der Jennys Abteil von dem der Zwillinge getrennt hatte, lag heruntergerissen am Boden. Jennys kleines Sofa stand noch da und war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Der halbe Verputz war von der Decke heruntergebröselt.

Während ich mir noch den Kopf zerbrach, wie wir dieses Dilemma lösen sollten, war Domenico schon in den hinteren Teil des Raumes getreten, der ihm und Mingo gehört hatte. Auch die Matratzen der Zwillinge waren unter einer ordentlichen Staubschicht begraben. Na wunderbar! Wie sollten wir bei dem vielen Staub schlafen können?

Domenico holte tief Luft und setzte sich behutsam auf Mingos Matte – jedenfalls hatte ich damals angenommen, dass sie Mingo gehört hatte. Er steckte seine Hand in den Spalt zwischen die beiden Matten und fand zwei zerknautschte Zigaretten, die er sich sofort in die Hosentasche steckte.

Ich gesellte mich zu ihm.

«Kannst du dir vorstellen, hier zu schlafen?», fragte er leise.

Ich schaute mich um und rümpfe die Nase. Der Rattenkot und die tote Eidechse hatten mir ziemlich den Rest gegeben. Ich wollte nicht wissen, was sich da noch für Viecher tummelten. Und bestimmt steckten in den Matten lauter Wanzen. Und von Klo und Dusche ganz zu schweigen …

«Ich mach alles sauber vorher. Keine Angst», wiederholte er mit Nachdruck, als er meinen angewiderten Gesichtsausdruck bemerkte.

Ich dachte an Jenny. Wie hatte sie das gemacht? Aber sie war auch nicht so zimperlich wie ich. Sie lief ja sogar manchmal im Winter barfuß herum, wenn die Temperaturen es einigermaßen erlaubten. Und Bianca? Na ja, immerhin half mir der Gedanke, dass sie das auch überlebt hatte …

«Okay», willigte ich zögernd ein. «Wenn … wir irgendwo ein Klo und eine Dusche finden …?»

«Im Keller ist 'ne Dusche, aber die funktioniert nicht mehr. Manchmal haben wir Wasser vom Brunnen in der Nähe geholt, aber meistens haben wir sowieso im Meer gebadet, Mingo und ich.»

«Und Jenny?»

«Ach, die ist manchmal zu Luigi rübergegangen. Aber der hatte auch nicht immer Wasser. Es gibt auch Duschen am Strand, aber der ist etwas weit weg. Wir können aber auch dorthin fahren, wenn du möchtest.»

«Und … wo seid ihr aufs Klo gegangen?» Ich kam mir echt dumm vor bei dieser Frage, aber da Domenico ja nie viel über sein Leben erzählte, waren solche banalen Fragen auch nie beantwortet worden.

«Es gibt'n Klo hier, aber der Spülkasten funktioniert nicht mehr. Wir müssen einfach Wasser holen und nachgießen.»

Ich nickte bedröselt.

Domenico grinste und verstrubbelte mein Haar. «Hey, komm schon! Das hier ist ein Luxusheim für Straßenkids. Wir haben monatelang so gelebt.»

Er begann, die Matratzen vom gröbsten Staub zu befreien, schüttelte den Vorhang auf dem Balkon aus und legte ihn dann drüber. Danach stöberte er ein wenig in der alten Holzkiste, die auch noch da rumstand. Doch bis auf ein paar alte Disco-Flyer und einem Gürtel war offenbar nichts Brauchbares darin zu finden.

«Oh Mann, den hab ich die ganze Zeit gesucht», murmelte er und hielt den Gürtel hoch. Es war ein schlichter, dunkelbrauner Gürtel, an den ich mich vage erinnern konnte. Mir fiel ein, dass er ihn damals, als ich ihn hier besucht hatte, getragen hatte.

«Komm, sehen wir mal nach, ob wir im Keller was Brauchbares finden», meinte er schließlich.

Auch der Keller war die reinste Müllhalde. Eine alte, abgetakelte Waschmaschine, die längst nicht mehr in Betrieb war, stand verlassen da, und tatsächlich war auch eine Dusche vorhanden. Doch natürlich gab sie kein Wasser her, als ich hoffnungsvoll den Hahn aufdrehte.

«Wir holen uns später mit dem Kanister Wasser am Brunnen», sagte Domenico und deutete auf einen Zehnliter-Kanister, der zwischen rostigen Werkzeugen und kaputten Gartengeräten in einer Ecke stand. Daneben fand sich ein leerer Plastikeimer, den er gleich ergriff, um ihn mit hochzunehmen. «Aber jetzt treiben wir erst mal was zu essen und ein paar Sachen auf. Komm!»

Ich merkte an der Art, wie er alles dirigierte und organisierte, dass er auch bei Mingo und Bianca immer der Chef gewesen war. Nachdem wir festgestellt hatten, dass auch der Hinterausgang verrammelt war, gingen wir wieder in die Wohnung hoch.

«Ich brech nachher das Schloss auf», murmelte er.

Wir hatten also vorerst keinen anderen Ausweg, als über den Balkon zu springen. Nicki sprang zuerst und half mir dann, indem er mich von unten auffing.

Als Erstes brachten wir das Motorrad, das noch immer vor dem Haus stand, in eine sichere Nische.

«Und wohin gehen wir jetzt?», fragte ich danach.

«Ich dachte, wir gehen zu Angel», meinte er etwas schüchtern und zündete sich sehnsüchtig eine der zerknautschten Zigaretten an, die er gefunden hatte.

Angel … Ich konnte nicht verhindern, dass ein Stachel der Eifersucht mich pikste. Wieso wollte er ausgerechnet zu Angel? Ich konnte mich noch gut an die niedliche Angel mit der zarten Haut und dem glänzenden Haar erinnern, die zwar ein klein wenig pummelig, aber dennoch sehr hübsch gewesen war. Zweifelsohne hatte sie ihm gefallen.

«Ich dachte, es sei zu gefährlich, ins Zentrum zu gehen? Wegen Paolo und so?», fragte ich spitz.

«Angel wird mich nicht verpetzen», sagte er. «Aber bei ihr kriegen wir was zu essen und auch alles andere. Außerdem kann sie dir vielleicht 'n paar Klamotten und Kosmetiksachen leihen.»

Der Weg ins Zentrum war zu Fuß ziemlich weit, aber so konnten wir wenigstens Benzin sparen. Bald erkannte ich die Via Etnea wieder, und schließlich standen wir auf der Piazza Stesicoro.

Erneut kam es mir so vor, als sei ich gerade erst hier gewesen. Wie lebendig all die Erinnerungen noch waren! Die wilde Motorradfahrt, die Flucht vor Fabio … und schließlich mein Ausflug zum Polizeiposten.

«Ob es Fabio noch gibt?», fragte ich.

«An den Vollidioten mag ich gar nicht denken», stöhnte Domenico. «Ja, bestimmt gibt's den noch.»

In der Nähe vom Bellini-Park befand sich das Ristorante Da Vincenzo. Meine Kehle wurde immer enger, je näher wir dem Eingang kamen. Ich verstand meine Reaktion selber nicht. Domenico liebte doch Angel gar nicht mehr. Warum fühlte ich mich durch sie immer noch mehr bedroht als durch jedes andere Mädchen?

Vielleicht, weil sie das einzige Mädchen außer mir gewesen war, das er mal hatte heiraten wollen? Bis auf Carrie, aber die zählte nicht richtig für mich. Das wäre eine reine Gefälligkeit wegen Manuel gewesen … Und Suleika, aber das zählte auch nicht richtig, die hatte doch nur ihrer Zwangsehe entfliehen wollen.

Domenico selbst war ziemlich in Gedanken versunken.

«Hoffentlich ist sie überhaupt noch da», meinte er leise.

Hoffentlich nicht, dachte ich.

Fast instinktiv blieb ich ein paar Schritte hinter ihm zurück. Domenico ging ohne weiteres durch den Eingang und schnurstracks Richtung Küche, während ich vor dem Bild mit dem Ätna stehen blieb. Ich fühlte mich total eigenartig. Als wäre hier eine Mauer, die mir sagte: Bis hierher und nicht weiter.

Domenico kam wieder aus der Küche, offenbar immer noch auf der Suche. Im selben Moment kam eine junge Kellnerin um die Ecke. Wenn ihr Haar nicht so geglänzt hätte, hätte ich sie nicht auf Anhieb wiedererkannt. Domenico streckte sofort die Hand nach ihr aus und berührte ihren Arm.

Sie wirbelte erschrocken herum und ließ beinahe das Tablett fallen. Domenico fing es im letzten Moment auf. Angel starrte ihn mit ihren großen, kindlichen Augen an.

«Nico!», kreischte sie ungläubig und fiel ihm einfach um den Hals. Er stellte das Tablett behutsam auf den Boden und legte dann seine Arme um sie. Ich hielt die Luft an.

Angel schmiegte sich unverschämt fest an ihn, und er küsste sie links und rechts auf die Wange. Dann löste er sich sachte aus ihrer Umklammerung. Sein Gesicht war ganz gerötet. Er warf mir einen hastigen Seitenblick zu. Ich schluckte leer.

Angel strahlte ihn fasziniert an und redete auf ihn ein wie ein Wasserfall, so als würde ich überhaupt nicht existieren. Ich hegte keine sonderlich warmen Gefühle für sie, während ich sie betrachtete. Sie hatte sich ziemlich verändert. Der Pagenschnitt war rausgewachsen, und fast wie zufällig löste sie in dem Moment den Haargummi aus ihrer Frisur, so dass die prachtvolle Mähne lang über ihre Schultern wallte. Sie trug auch keinen Pony mehr, was ihr ein reiferes und fraulicheres Aussehen gab und ihr Engelsgesicht noch besser zur Geltung brachte. Sie hatte richtige Puppenaugen, ein süßes Näschen und volle Lippen. Dass sie ein klein wenig mollig war, störte ihre Erscheinung gar nicht mal.

Domenico lächelte sie an, und es gefiel mir ganz und gar nicht, dass dabei auf seinen Wangen die Grübchen erschienen. Sein Gesicht bekam einen mitfühlenden Ausdruck, während er zuhörte, als sie ihm erzählte. Und sie schüttete ihm offenbar gerade ihr ganzes Herz aus. Nicki schien mich total vergessen zu haben. Er hatte nur noch Augen für sie.

In meiner Brust wurde es immer enger, und mir war, als würde ich kaum noch Luft bekommen, während ich ihnen zuschaute. Ich schalt mich selber dafür, dass ich nur blöd danebenstand und glotzte, anstatt irgendwas zu unternehmen, aber ich konnte mich einfach nicht rühren. Doch dann, als Nicki zärtlich und tröstend über Angels Arm strich, wandte ich mich flugs um und stürmte einfach davon. Ich wusste gar nicht, warum ich das tat. Ich hörte, wie Vincenzo in der Küche rumbrüllte, und hoffte, er würde Angel so richtig zusammenstauchen und sie von Nicki trennen. Aber Nicki sollte mich erst mal suchen, jawohl!

Das nahm ich mir vor, während ich die Treppe zur Toilette runterrannte. Dort schloss ich mich erst mal in einer Kabine ein und nahm mir so richtig viel Zeit. Dann ging ich wieder nach oben, und als ich Nicki und Angel immer noch in der Nische tuscheln hörte, setzte ich mich schließlich draußen an einen Tisch und wartete. Sollte er sich ruhig ein bisschen Sorgen machen, wo ich abgeblieben war!

Nach einer geraumen Weile erschien er endlich auf der Bildfläche.

«Ah, endlich find ich dich», meinte er atemlos. «Hab dich überall gesucht.»

«Schön, dass du dich auch noch an mich erinnerst», meinte ich bitter.

Er drückte mir eine angefangene Cola-Dose in die Hand und setzte sich zu mir. «Tut mir leid. Sie hat mir ihr ganzes Herz ausgeschüttet. Ich wollte schon längst nach dir sehen, aber ich konnte sie kaum unterbrechen.»

«Ach ja?» Ich trank einen Schluck aus der Dose. Die Cola war immerhin erfrischend kühl. Das tat jetzt gerade gut.

«Komm, sag mir, was du alles brauchst. Sie holt ein paar Sachen für dich», meinte er. «Kosmetikzeug und so.»

Na gut … dann konnte Angel wenigstens dafür nützlich sein … wenn wir nur bald wieder von ihr wegkamen!

Ich zählte ihm ein paar Sachen auf. «Zahnbürste, Zahnpasta, Deodorant, Hautcreme, Shampoo … und na ja, vielleicht ein paar Schminksachen.»

«Okay. Bin gleich zurück. Dauert nicht lange. Versprochen!» Ehe ich noch etwas erwidern konnte, verschwand er wieder. Ich folgte ihm. Na, das wollten wir doch erst mal sehen …

Angel wartete bereits mit einer Wolldecke, einem Bettlaken und einem Kissen auf Domenico. Er zählte ihr die paar Sachen auf, die ich ihm genannt hatte, und sie nickte und verschwand wieder.

«Du kriegst alles, Süße», sagte er. «Siehst du, ich hab sogar Bettzeug für dich besorgt.»

Ich bemühte mich, etwas weniger mies drauf zu sein, aber irgendwie wollte es mir nicht so recht gelingen. Auch als Angel mit zwei wirklich gut gefüllten Tüten voller Kosmetika und Esswaren zurückkam, besserte sich meine Laune nur minimal.

«Hier.» Domenico drückte mir eine davon in die Hand. Es war die Tüte mit den Kosmetika. «Ist das okay für dich?»

Ich warf einen Blick hinein. Zwei T-Shirts waren darin, eine Zahnbürste, Shampoo, Duschmittel, Lotion, Schminksachen, sogar Haargummis und Toilettenpapier – mehr, als ich bestellt hatte. Auch ein paar Sachen für Nicki waren darin, unter anderem Rasierzeug und zwei Schachteln Zigaretten.

Domenico bedankte sich tausendmal bei Angel. Eigentlich war es ja wirklich nett von ihr, dass sie uns all das Zeug besorgt hatte, aber es fiel mir trotzdem schwer, mich allzu überschwänglich bei ihr zu bedanken.

Angel lächelte, dann zog sie noch etwas aus ihrer Hosentasche und drückte es Domenico in die Hand. Es war ein Handy – ein etwas älteres Modell, das ziemlich abgenützt aussah.

Domenico starrte es mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Gesicht sah aus, als würde er innerlich fast bersten. Eine Weile lang konnte er nicht sprechen, und als er Angel wieder anschaute, hatte er Tränen in den Augen.

Ich wusste nicht so recht, was da abging, und er war auch nicht ansprechbar, als wir uns auf den Rückweg machten. Ich trug die Tüte mit den Kosmetiksachen und unter dem Arm das Kissen, und Domenico schleppte die ziemlich schwere Lebensmitteltüte und das restliche Bettzeug.

Der Rückweg kam mir doppelt so lang vor. Ich hätte so gern mit Domenico über Angel geredet, aber es hatte eh keinen Sinn, jetzt in ihn eindringen zu wollen. Ich musste mich mal wieder gedulden.

Als wir endlich am Ziel waren, wollte ich mich schon unter den Balkon stellen, doch er streckte mir seine Hand entgegen.

«Gib mir mal deine Tüte», forderte er. Ich überließ sie ihm. Er holte ein kleines Brecheisen heraus, das uns Angel auch mitgegeben hatte. Damit schwang er sich auf den Balkon, verschwand im Inneren, und etwas später hörte ich ihn von drinnen am Türschloss herumhantieren. Nach einer Weile sprang die Tür tatsächlich auf!

«Na, wer sagt's denn.» Auf Nickis Gesicht erschien der Anflug eines Lächelns. «Jetzt müssen wir nicht mehr über den Balkon kraxeln.»

In der Küche packten wir schweigend die Tüten aus. Angel hatte uns wirklich eine Menge eingepackt: Spaghetti, Tomatenkonserven, Antipasti, Fisch- und Fleischkonserven, Kaffee, Reis, Gurken, Tomaten, Orangen, Oliven, Basilikum, Pinienkerne, Süßigkeiten und ein paar Getränkedosen. Sogar an einen Büchsenöffner hatte sie gedacht. Trotz allem sträubte ich mich immer noch dagegen, sie allzu nett zu finden. Sie wollte sich bestimmt nur bei Nicki einschleimen mit all den Sachen, das war doch sonnenklar!

Domenico holte das Handy wieder hervor und betrachtete es. Sehr zaghaft tippte er darauf herum, und sein Gesicht zuckte. Und da dämmerte mir endlich, was mit diesem Handy los war!

«Das war Mingos Handy, nicht wahr?», fragte ich leise.

Er sah mich an und nickte traurig.

Ich ließ es gut sein. Die genaue Geschichte dahinter kannte ich nicht, aber ich wusste, dass Mingo sein Handy hier auf Sizilien offensichtlich vergessen oder verloren hatte. Domenico hatte ein paar Mal von Deutschland aus auf diese Nummer angerufen, nur um Mingos Stimme auf der Combox zu hören. Deswegen war er sogar einmal in der Klinik gelandet. Seine Psyche hatte es einfach noch nicht verkraftet, die Stimme seines toten Zwillingsbruders weiterhin zu vernehmen. Mittlerweile konnte er wohl besser damit umgehen.

Seine Augen waren ganz trüb, als er das Gerät in seine Hosentasche steckte. Ich wusste, dass er es fortan wie seinen Augapfel hüten würde. Dieses Handy war nun so etwas wie das letzte Lebenszeichen seines Bruders, das noch existierte.

«Möchtest du erst was essen, oder soll ich dir erst Wasser zum Duschen holen?», fragte er hinterher, als wäre überhaupt nichts gewesen.

Ich war für Essen, weil ich wollte, dass er endlich auch mal was Vernünftiges zu sich nahm. Allerdings fragte ich mich, was wir mit den Spaghetti und dem Reis anfangen sollten. Wir hatten doch gar keine Möglichkeit zum Kochen …

Aber Domenico ging zum Sicherungskasten, warf einen Blick hinein und förderte dann aus einer der Kisten eine kleine Elektroplatte zutage. Er ging damit zum Kühlschrank, schob das Kabel in ein Loch in der Wand und befestigte es irgendwo. Anschließend ging er wieder zum Sicherungskasten, drehte darin herum und kam wieder zurück. Zu meiner Verblüffung ließ sich das Gerät jetzt einschalten.

«Mingo hat damals ganze Arbeit geleistet», sagte er leise. «Er konnte fast überall Strom anzapfen. Funktioniert tatsächlich immer noch.»

Weiter kramte er einen Kochtopf und eine Bratpfanne aus der Kiste. Dann düste er schnell runter zum Motorrad, um die beiden restlichen Trinkflaschen zu holen, die wir noch übrig hatten. Er benutzte die eine davon zum Reinigen des staubigen Geschirrs und fertigte dazu in dem kleinen Eimer eine Waschlauge an. Die liebe Angel hatte uns ja sogar Spülmittel mitgegeben.

«Das schmutzige Wasser schütten wir dann nachher in den Spülkasten», erklärte er. «So haben wir das immer gemacht. Dann kannst du nämlich hier auch aufs Klo gehen.»

Das war richtig klug. Wenn man auf der Straße überleben muss, lernt man offenbar so einiges.

Domenico kochte erst einen Topf Spaghetti al dente und bereitete hinterher in der Bratpfanne eine Fleischtomatensauce mit Oliven zu. Weil er nur eine Herdplatte zur Verfügung hatte, wärmte er die inzwischen abgekühlten Spaghetti hinterher in der heißen Sauce wieder auf. Das Wasser, in dem er die Nudeln gekocht hatte, stellte er ebenfalls für den Spülkasten beiseite.

«Hab außer Salz und Basilikum leider keine Gewürze», meinte er bedauernd. «Kann dir also nicht versprechen, dass es wirklich schmeckt.»

Weil wir weder Teller noch Besteck hatten, blieb uns nichts anderes übrig, als mit den Händen aus der Pfanne zu essen. Das Essen schmeckte trotz der fehlenden Gewürze ganz gut. Nicki hatte genau die richtige Menge Salz erwischt. Unsere Finger waren ganz rot von der Tomatensauce. An Besteck hatte die liebe Angel natürlich nicht gedacht … Ja, ich wusste, ich musste ihr eigentlich dankbar sein für all die Sachen, aber in meinem Herzen funktionierte das irgendwie nicht richtig …

«Sag mal …», begann ich. Ich konnte es nun einfach nicht mehr runterschlucken. «Du und Angel … euch verbindet ja schon eine ziemlich tiefe Freundschaft, nicht wahr?»

Er sah mich an. «Ja, klar. Warum? Darf es das nicht?»

«Na ja, schon, aber … ich finde, du warst ziemlich zärtlich zu ihr. Für meinen Geschmack ein wenig zu sehr … also, wie du sie am Arm gestreichelt und angelächelt hast …» Ich hatte es eigentlich etwas weniger direkt ansprechen wollen, aber mein Inneres hatte sich nun fast selbständig den Weg nach draußen gebahnt.

Nicki schaute mich an, als müsse er erst mal kapieren, was ich meinte. Dann verdrehte er die Augen.

«Oh Mann, Süße, ey … das glaub ich ja nicht. Jetzt hör doch mal auf mit deiner blöden Eifersucht. Darf ich denn mit überhaupt keinem Mädchen mehr reden? Ey, ich hab sie nur getröstet. Sie hat mir halt ihr Herz ausgeschüttet. Ich mein, sie hat es so mies mit ihrem Alten. Was soll ich denn machen, hmm? Ich kann sie doch nicht mit 'nem bierernsten Gesicht angucken.»

Das klang leider einleuchtend. Ich redete ja auch mit Leon. Das war im Grunde genommen nichts anderes.

Trotzdem … irgendwie wollte ich mich einfach nicht beruhigen. Außerdem – wenn Leon mir nur ein klein wenig zu tief in die Augen blickte, wurde Nicki sofort rasend vor Eifersucht. Aber das schien ihm nicht bewusst zu sein. Typisch Macho-Italiener, dachte ich grimmig.

«Sieh mal, Maya, Angel wird von ihrem Alten manchmal windelweich geschlagen. Er macht sie völlig fertig. Ich wollte sie einfach trösten, das ist alles. Darf ich denn überhaupt gar nix mehr, oder wie?»

Ich gab es auf. Ich hatte jetzt keine Lust auf Streit. Und vielleicht hatte er ja wirklich Recht. Ich konnte ihm ja nicht den Umgang mit anderen Frauen verbieten. Vielleicht war es wirklich blöd von mir gewesen, so zu reagieren. Ich musste halt irgendwie damit zurechtkommen …

Wir aßen fertig, genehmigten uns zum Nachtisch noch ein wenig von den Süßigkeiten (Nicki verdrückte davon allerdings doppelt so viel wie ich) und spülten nachher das Geschirr in dem bereits benutzten Wasser im Eimer. Danach goss Domenico all das verbrauchte Wasser in den Spülkasten.

Hinterher spazierten wir mit dem Zehnliter-Kanister zum Brunnen, der glücklicherweise ganz bei uns in der Nähe war. Wir nahmen auch die leeren Wasserflaschen mit und füllten sie mit dem Brunnenwasser.

«Kann man das Wasser hier überhaupt trinken?», fragte ich.

«Es geht schon, wenn wir es vorher kochen», sagte er. «Aber wir kaufen nachher noch 'n paar Trinkflaschen.»

«Wir haben nur noch drei Euro …»

«Easy», meinte er nur.

Wir brachten den Kanister gleich in den Keller runter.

«Möchtest du duschen?», fragte Domenico. «Na ja, ich meine, möchtest du dich waschen?»

Ja, das wollte ich dringend. Ich war total verschwitzt und fühlte mich schmutzig. Domenico holte den Eimer aus der Küche, spülte ihn ein wenig aus und machte mir mit dem Duschmittel ein kleines Schaumbad. Angel hatte uns sogar Waschlappen und Handtücher eingepackt. Sie und Nicki hatten echt an fast alles gedacht.

Es war nicht gerade die Dusche, nach der ich mich gesehnt hatte, doch immerhin fühlte ich mich nun wieder einigermaßen erfrischt, als ich mich mit dem Handtuch abtrocknete. Ich benutzte meinen Bikini, den ich ja glücklicherweise mitgenommen hatte, als Unterwäsche und schlüpfte in eines von Angels T-Shirts. Danach wusch ich mit dem restlichen Wasser mein Haar.

Inzwischen hatte Domenico Küche und Schlafzimmer notdürftig «sauber» gemacht. Er hatte mit einem alten Besen den Staub beseitigt sowie den Ratten- und Taubenkot und auch die tote Eidechse entfernt. Er rannte noch einmal mit dem Kanister zum Brunnen, um neues Wasser zu holen und die Rückstände des Kots wegzuschrubben, und dann noch ein drittes Mal, um auch für sich selber eine Waschlauge zu fabrizieren. Aufs Haarewaschen verzichtete er, damit noch ein Rest für unsere Schmutzwäsche und fürs Händewaschen übrig blieb. Zum Glück hatte ich ihm ja vorsorglich ein zweites T-Shirt eingepackt.

Als wir mit allem fertig waren, war es bereits halb acht. Wir zogen nochmals los, um uns für die drei Euro sechs Flaschen Trinkwasser und Kaugummi zu kaufen. Domenico kannte einen Laden, wo es besonders günstig war.

Nachher richteten wir unser Lager ein, so gut es ging. Domenico bezog Mingos Matratze – auf der nun ich schlafen sollte – mit dem Laken und überließ mir das Kissen und die Decke.

Schließlich holte er die alte Stehlampe, die auch in der Küche rumstand, und versuchte, sie an die Stromleitung anzuschließen, nachdem er festgestellt hatte, dass die funzlige Glühbirne im Zimmer nur noch ein sterbendes Flackern von sich gab. Doch die Stehlampe funktionierte zu meiner Überraschung! Mingo hatte damals auch im Schlafzimmer Zugang zu einer Leitung hergestellt.

«Jetzt haben wir sogar Licht, Süße», sagte Domenico.

«Cool!» Er dachte wirklich an alles.

Den Rest des Abends verbrachten wir mit einem kleinen Spaziergang durch das Viertel. Ich merkte, dass Domenico am liebsten noch irgendwo auf Streifzug gegangen wäre, aber ich war müde, und für ihn kam es natürlich auf keinen Fall in Frage, mich allein zu lassen.

Ich rief noch kurz Mama an und teilte ihr mit, dass wir nun in Catania waren und eine zwar nicht gerade luxuriöse Unterkunft, aber immerhin ein Bett und ein Dach über dem Kopf hatten.

«Wehe, Nicki passt nicht gut auf dich auf», sagte sie. Ich wusste, dass sie sehr wohl spürte, dass bei uns nicht gerade alles ganz glattlief. «Ich ziehe ihm die Ohren lang, wenn ihr wieder in irgendwelche Schwierigkeiten kommt. Richte ihm das bitte aus, ja?»

Ich sagte ihm das zwar nicht wortwörtlich so, aber ich sah schon, wie ein Schatten über seine Augen zog, während ich mit Mama telefonierte.

Vor dem Schlafengehen aßen wir noch eine Kleinigkeit und teilten uns danach zum Zähneputzen die einzige Zahnbürste, die wir hatten.

«Ich denke, wir bleiben noch 'ne Nacht hier und fahren dann übermorgen nach Monreale zurück», meinte Domenico, während er die Wolldecke über mir ausbreitete. Ich war froh um die frische Bettwäsche. Domenico selbst schlief natürlich auf der blanken, staubigen Matratze.

«Möchtest du nicht wenigstens auch unter die Decke?», fragte ich.

Er zögerte. «Ich … weiß nicht.»

«Aber … dir ist doch sonst bestimmt kalt.»

Er zuckte mit den Schultern. «Lieber nicht, Maya …» Er krallte sich seine Zigarettenschachtel und das Feuerzeug und verschwand in der Küche, bevor ich noch mehr zu dem Thema fragen konnte.

Ja, es war wohl vernünftiger, musste ich mir eingestehen. Das Thema, wann wir zum ersten Mal miteinander schlafen würden, hing immer noch in der Luft, und keiner von uns wagte es auszusprechen. Solange die Fragen bezüglich seiner undurchsichtigen Vergangenheit nicht geklärt waren und er auch den Aids-Test nicht gemacht hatte, kam es sowieso nicht in Frage … Außerdem dachte ich auch an das, was ich in Gottesdiensten schon gehört hatte, und an Mamas Empfehlung, die sie mir vor einiger Zeit gegeben hatte, nämlich diesen Teil für die Ehe aufzusparen. Ich war ja selber noch so unsicher in diesen Dingen …

Nicki kam etwas später wieder zurück und legte sich neben mich – in seiner Lederjacke, damit er nicht fror. Er benützte meine Jeansjacke als Kopfkissen. Seine Beine deckte er mit dem Vorhang zu, der immer noch am Boden rumgelegen hatte. Er rutschte wieder nahe zu mir und zog mich fest an seine Brust.

Ich musste widerwillig feststellen, dass das Kopfkissen nach Angel duftete. Wahrscheinlich war das sogar ihr eigenes, das sie Domenico in der Hoffnung mitgegeben hatte, dass er darauf schlafen würde. Nun schlief ich jedoch darauf, und Angels Parfum-Duft kitzelte in meiner Nase.

Ob Nicki es auch roch? Er war ganz still. Ob er wegen meiner Eifersuchtsszene immer noch sauer auf mich war?

Ich zuckte zusammen, als es auf einmal in einer Ecke raschelte.

«Sind nur Mäuse», murmelte Domenico. «Hast du Angst?»

Ich gab es nicht gern zu, aber ja, ich hatte Angst …

«Sie tun dir nix», sagte er sanft und streichelte über mein Haar. Ich dachte in diesem Moment daran, dass ich mich nie im Leben trauen würde, hier allein zu übernachten!

«Ich bin ein blöder Angsthase, was?», flüsterte ich.

«Das macht doch nix», flüsterte er zärtlich zurück.

Ach, er konnte so lieb sein … und es müsste alles nicht so kompliziert sein, wenn er nicht so kompliziert wäre! Oder lag's vielleicht auch ein wenig an mir? …

Ich war froh, als uns die Sonne am nächsten Morgen weckte. Bei Tageslicht wirkte die Bude viel weniger unheimlich. Bis Domenico allerdings wach war, musste ich mich ziemlich lange gedulden, aber als er endlich in die Gänge kam, kochte er uns erst mal Kaffee. Allerdings plagte ihn wieder der hartnäckige Raucherhusten, der in der Regel am Morgen am schlimmsten war.

Wir hatten nur eine Tasse und keine Milch zur Verfügung, also blieb mir nichts anderes übrig, als den Kaffee schwarz zu trinken. Ich schaffte nur ein paar kleine Schlückchen und überließ den Rest Nicki.

«Konntest du schlafen?», fragte ich.

«Mhmm …», murmelte er vage und wandte sich Richtung Balkon, um sich eine Zigarette zu genehmigen. Herrschaft noch mal, wieso machte er wieder dauernd einen auf mysteriös? Vor wenigen Wochen waren wir uns innerlich so nah gewesen, und immerhin würden wir uns bald verloben. Er konnte einem manchmal wirklich den letzten Nerv rauben!

Zum Frühstück aßen wir von dem Brot, das wir von der Reise noch übrig hatten. Allerdings war es nicht mehr so frisch, deshalb belegten wir es dicht mit Gurken und Tomaten. Tja, langsam wurde mir bewusst, wie dankbar man sein kann, wenn man überhaupt was zu beißen hat.

Später holten wir noch einmal Wasser für unsere morgendliche «Dusche». Die gewaschenen Klamotten waren noch nicht ganz trocken. Ich zog das zweite T-Shirt an, das Angel mir geliehen hatte, und spülte das alte in der restlichen Waschlauge aus. Meine Jeans würde ich wohl erst in Monreale wieder waschen können …

Am frühen Nachmittag machten wir uns so langsam auf in Richtung Zentrum. Domenico wollte nun unbedingt noch nach seinen Freunden sehen, bevor wir wieder nach Monreale zurückkehrten. Weil die meisten erst nach der Siesta auftauchen würden, hingen wir noch ein wenig im Bellini-Park rum, an den ich so viele Erinnerungen hatte. Gute und weniger gute …

Und zu den weniger guten gehörte eindeutig der große Brunnen mit den Fontänen, in den ich damals in meiner Wut Nickis rote Herzkette geschmissen hatte. Fast unwillkürlich legte ich meine Hand auf die Brust, um die silberne Herzkette zu spüren, die er mir dann später anstelle der roten geschenkt hatte. Ich hoffte, dass ich wenigstens diese für immer tragen würde …

Um fünf Uhr schlenderten wir langsam zur Piazza Stesicoro zurück. Tatsächlich kamen die Leute nun allmählich wieder aus ihren «Löchern». Ich hoffte inbrünstig, dass Angel arbeiten musste.

Je näher wir dem Zentrum kamen, desto mehr ließ Domenico wieder den Coolen raushängen. Der Tiger begann in ihm zu erwachen …

«Wart ihr eigentlich auch so was wie eine Gang hier?», wollte ich deshalb wissen.

«Nicht so extrem. Ich hatte ein paar Leute um mich, ja. Halt wegen Fabio und den beknackten Typen …», antwortete er und hielt suchend nach seinen Freunden Ausschau.

Es war ja klar: Domenico sorgte immer für Aufruhr in der Szene, egal, wohin er kam.

«Und haben sie dich hier auch Tiger-X genannt?»

«Nein.» Er lachte. «Hier war ich höchstens ab und zu la tigre

«Sag mal, wie kommst du eigentlich ausgerechnet auf den Tiger? Hast du dir selbst den Namen gegeben?» Ich fand, dass das jetzt gerade eine gute Gelegenheit war, diese Frage zu stellen, die mich nämlich auch schon lange beschäftigte. Denn mir war damals aufgefallen, dass auch an Marias Tür im Bordell das Bild einer Tigerkatze gehangen hatte. Vermutlich hatte das mit ihrem Pseudonym Lady Cat zu tun, aber warum hatte Nicki auch einen Tiger als sein Markenzeichen gewählt?

«Ist halt so», meinte er nur und schaute sich um. Einige Jungs mit Motorrädern fuhren ein. Domenicos Blick hellte sich auf, und er winkte ihnen zu.

Die Jungs machten große Augen, als sie ihn sahen.

«Nico! Nico!», riefen sie. «Talé cu c'è! Incredibile, picciotti!»

«Ma com'è? Da Germania veni? Tornaste ccà?»

«Ehi, comu t'a passaste?»

Große Wiedersehensfreude also. Handschläge wurden ausgeteilt, einer nach dem anderen stieg vom Motorrad, umarmte Nicki und küsste ihn zweimal auf die Wangen. Auch die Mädchen. Er war mittendrin, als wäre er nie weggewesen. Einer bot ihm gleich eine Zigarette an, die Nicki natürlich nicht ablehnte. Und an den Blicken der Mädchen konnte ich exakt ablesen, dass Domenico hier genau denselben Status genossen hatte wie zu Hause in Deutschland … Ebenfalls spürte ich, dass die Jungs hier genau wie die zu Hause Respekt vor ihm hatten.

Er stellte mich vor, und auch ich wurde mit Umarmungen und Küsschen begrüßt. Ich hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern und fragte mich, was wohl aus seinen ehemaligen Mitbewohnern geworden war. Aus Chicco, Nonno und Speedy, wie sie sich genannt hatten.

Wieder stellte ich dasselbe fest wie in Monreale: Er war um einiges gelöster und offener als daheim in Deutschland. Nachdem er sich eine Weile lang ziemlich ausgiebig mit seinen Freunden unterhalten hatte, wandte er sich wieder an mich: «In Acireale ist heute Abend 'ne Party», erklärte er. «Wir sind da immer hingegangen. Ich würd gern mit dabeisein. Freunde treffen und so. Magst du?»

Ob ich mochte? Nicht wirklich …

«Kommt Angel auch mit?», fragte ich.

Er sah mich an und kniff die Augen zusammen. «Jetzt hör schon auf mit deiner Eifersucht. Selbst wenn, wir sehen sie doch nachher nie wieder.»

Eigentlich hatte ich mir in Deutschland ja immer gewünscht, dass er mal richtig mit mir ausgehen würde, aber er hatte es nie getan, aus lauter Angst vor den anderen Gangs. Doch ehrlich gesagt hatte ich hier überhaupt keine Lust dazu. Weil ich ja wahrscheinlich doch nur die meiste Zeit rumstehen und kaum was von der sizilianischen Unterhaltung verstehen würde …

«Aber wir haben ja gar kein Geld», fiel mir der rettende Gedanke ein.

«Wir kommen da gratis rein. Lass mich nur machen.»

«Aber … was ist mit dem Benzin? Wir brauchen noch was für den Rückweg. Wir können nicht tanken ohne Geld.»

«Bedda mi', ich schlauch vierzig, fünfzig Euro zusammen. Wirst schon sehen. Ich bin gut darin, hab ja meistens die Kohle für Mingos Stoff besorgt. Ich würd so gern hingehen. Hab die Leute ewig nicht mehr gesehen …» Er sah mich bittend an.

Ich zögerte und wollte gerade erwidern, dass er auch nie Dinge tun wollte, wenn ich es wollte, und dass ich mich ohnehin immer nach ihm richten musste, als wir unverschämt laut knatternde Motorräder und grölendes Gelächter hörten.

«O nico, nico c'è!», höhnte der Größte unter ihnen und bremste mit seiner wuchtigen blauen Maschine haarscharf vor uns. Ich erkannte den Kerl auf Anhieb wieder. Das war ja nicht schwer. Es gab wahrscheinlich in ganz Sizilien keinen zweiten solchen Hünen mehr wie Fabio. Mit seinen langen blonden Locken wäre er eher als Wikinger statt als Sizilianer durchgegangen. Seine durchtrainierten Oberarme glänzten goldbraun in der Sonne und strotzten vor Kraft. Seine Kumpels lagerten sich mit ihren Motorrädern um ihn herum und grinsten Domenico ebenfalls frech an.

«Levati do menzo, 'unn aju tempo ppi babbiare cu ttia, scia'», sagte Domenico barsch.

Fabio lachte und ließ den Motor seiner Maschine aufröhren, so dass sich das Vorderrad aufbäumte. Der Kerl hatte offenbar wirklich keine netten Seiten. Er verzog seine Mundwinkel zu einem extrabreiten Grinsen, zeigte seine Muskelpakete und warf mir eine Kusshand zu. Sofort konnte ich förmlich spüren, wie sich Domenicos Nackenhaare aufstellten.

«Vidi ca è a me' zita!», blaffte er Fabio zornig an.

Zita … er nannte mich schon seine Verlobte. Mir wurde richtig warm ums Herz. Fabio ließ sich davon nicht beeindrucken. Johlend machte er eine Kehrtwendung, fuhr einmal haarnadelscharf um uns herum und winkte dann seinen Kumpanen zu, ihm zu folgen.

Fürs Erste waren sie weg, aber es hatte nicht so ausgesehen, als wenn sie mit Domenico schon fertig gewesen wären …

«Dieser Dreckskerl wird bestimmt heute Abend auch in Acireale auftauchen», knurrte er. «Darauf wett ich alles. Und eines ist sicher: Wenn er dich auch nur ein wenig betatscht, ist er Geschichte.»

Tja, wie war das nochmals gewesen mit der Eifersucht? Es war ja rührend, dass er mich so vor Fabio beschützte, aber ich hätte mir echt mehr Verständnis für meine Bedenken gewünscht, die Angel betrafen.

Später, als die Jungs alle weitergezogen waren, meinte Domenico: «Pass auf, ich schlauch uns jetzt 'n bisschen Taschengeld zusammen.»

«Ist das überhaupt legal?» Ich hatte immer noch Mamas Bitte im Herzen, keine dummen Sachen zu machen.

«Na klar, wieso denn nicht?», sagte er. «Ich mein, ich zwing ja niemanden, mir was zu geben. Und ich sag immer die Wahrheit. Ich sag den Leuten gleich, was Sache ist. Außerdem kaufen wir uns ja keine Drogen mit dem Geld.»

Die Via Etnea war nun sehr bevölkert, so dass wir hier den idealen Standort hatten. Ich schaute zu, wie er es machte. Ich hatte ihm noch nie dabei zugesehen. Er peilte vor allem jüngere und natürlich weibliche Personen an. Und tatsächlich kam er gut an. Viele gaben ihm etwas. Er brauchte auch nicht zu lügen. Er sagte ganz einfach, dass wir unser Geld vergessen hätten und nun ganz dringend etwas Kleingeld benötigten. Er brauchte viele Mädchen nur anzusehen, und schon zückten sie ihre Geldbeutel. Aber ich bemerkte auch die Macht, die er über die Mädchen hatte … und ich hatte den Eindruck, dass er ganz genau wusste, wie man mit ihren Gefühlen spielte.

Nach einer Stunde hatte er tatsächlich dreiundfünfzig Euro zusammen.

«So, jetzt können wir uns sogar 'ne Tankfüllung leisten», meinte er. «Und morgen krieg ich bestimmt nochmals so viel zusammen.»

«Ich weiß nicht. Mir gefällt das nicht, Nicki.»

«Ja, was willst du denn?», konterte er genervt. «Soll ich doch lieber klauen gehen? Mann, Maya, jetzt hör mal auf, immer so ängstlich zu sein. Ich tu doch echt alles für dich, und ich mach das wahnsinnig gern. Aber irgendwann ist es einfach echt frustrierend, wenn du mir nie vertraust und nie was gut findest, ey!»

«Nein, ich meine nicht das … mir gefällt die Macht nicht, die du über die Mädchen hast. Du nützt sie einfach aus … schon allein, wie du sie ansiehst …»

«Wie schau ich sie denn an?»

«Als ob du sie gleich vernaschen willst.»

Seine Augen verengten sich zu gefährlichen Schlitzen. «Ey, ehrlich, du machst mich langsam fertig, weißt du das?»

«Entschuldigung, das war nicht meine Absicht, aber nach der Sache mit Angel ...»

Trotz der drohenden Anzeichen eines Wutausbruches hätte ich doch nicht damit gerechnet, dass er so schnell explodieren würde. Ich stand da wie ein begossener Pudel, als er mich mitten auf der Straße anbrüllte, und zwar so laut, dass sämtliche Leute ihre Köpfe nach uns umdrehten.

«Ey, ich hab's für dich getan! Checkst du das nicht? Damit wir all die Sachen kriegen. Damit es dir gut geht! Ey, ich brauch ja kaum was für mich selber, siehst du das denn nicht?»

Einen Moment war ich so über seinen Tonfall erschrocken, dass ich kaum Worte fand. Ich sah den abgrundtiefen Schmerz in seinen Augen, und es schnürte mir fast das Herz zu. Ich fühlte mich deswegen verpflichtet, ihm genauer zu erklären, was ich meinte, aber ich hätte es wohl besser gelassen.

«Ich weiß, Nicki, und das finde ich unheimlich süß von dir, aber mir gefällt nicht, wie du das tust. Du manipulierst Mädchen regelrecht. Ich … ich weiß, dass du früher …»

«Ey, du weißt gar nix!», schnitt er mir scharf das Wort ab. «Du hast null Ahnung!»

«Ich weiß mehr, als du denkst!» Auch mein Tonfall wurde heftiger, und ich verspürte nun gute Lust, ihn einfach anzuschreien. Es konnte doch nicht so weitergehen!

«Was willst du damit sagen?», zischte er.

Ich hielt die Luft an. Sollte ich einfach gnadenlos alles auf den Tisch knallen? All das, was Janet mir erzählt hatte?

«Was willst du sagen?», wiederholte er und packte mich grob am Arm.

«Ich …»

«Hör gefälligst auf, mit mir zu spielen», drohte er wütend. «Hör einfach auf, okay?»

«Du spielst mit mir!» Ich versuchte mich loszureißen, doch er klammerte sich richtiggehend an mir fest.

«Bleib hier», befahl er.

«Lass mich los, Nicki!»

«Tu mir nicht weh!» Er keuchte richtig, als würde ihm jemand die Luft abdrücken. «Tu mir einfach nicht weh!»

«Ich tu dir nicht weh, Nicki … aber es geht darum, dass …»

Doch mit dem letzten bisschen Beherrschung war es nun vorbei. Ich spürte, wie er am ganzen Körper anfing zu zittern und wie seine Finger, die sich um meinen Arm gekrallt hatten, vor innerer Erregung fast steif wurden. Seine Lippen bebten, während sich in seinen Augen der tiefe, verlorene Abgrund auftat, der mir jeweils fast das Herz zerfetzte und den ich schon lange nicht mehr in diesem Ausmaß gesehen hatte.

«Mensch, du machst mich krank, Maya», brüllte er, und seine Stimme überschlug sich dabei. «Du machst mich so was von krank, weißt du das?»

Eiskalte Panik überkam mich, als mir bewusst wurde, dass er ja seine Medikamente nicht dabeihatte. Mist, wahrscheinlich war er jetzt sogar durch die Entzugserscheinungen noch aggressiver und unberechenbarer als sonst. Und vermutlich konnte er nicht mal etwas dagegen machen. Jegliches gute Zureden würde wohl vergeblich sein.

Ich sah nur einen Ausweg. Mit aller Kraft riss ich meinen Arm von ihm los, und erstaunlicherweise gelang es mir. Einen Moment noch starrten wir uns in die Augen, und ich erschrak, als ich sah, wie tot und leer die seinen waren. Was war nur mit uns los? Warum ging das nun schon wieder so? Vielleicht war es ein allerletztes Aufbäumen dieser zermürbenden Kräfte, die immer noch an ihm zerrten, die sein Herz immer noch im Griff hatten, bevor endlich alles für immer ins rechte Lot gerückt werden würde?

Warum ich diesen Gedanken hatte, wusste ich nicht, aber als ich die gefährlichen Funken in seinen Augen toben sah, setzte ich meinen Entschluss in die Tat um: Ich machte eine Kehrtwendung und lief davon.

Ich hörte ihn rufen, hörte, wie er verzweifelt «Maya! Ey, komm sofort zurück!» schrie, aber ich lief einfach weiter. Meine Gefühle waren richtig taub. Vielleicht, weil ich das einfach schon zu oft erlebt hatte. Weil ich so oft in der letzten Zeit emotional durchgeschüttelt worden war. Weil ich Nickis Launen und Wutausbrüche zur Genüge kannte und eigentlich gar nicht überrascht war …

Trotzdem tat es einfach nur fürchterlich weh!

Irgendwie schaffte ich es, in der Menschenmenge unterzutauchen und in ein Kaufhaus zu flüchten. Ich musste einfach mal allein sein. Außerdem wollte ich ihm wirklich zu spüren geben, dass es so nicht ging. Er konnte mich nicht einfach auf offener Straße anbrüllen, Medikamentenentzug hin oder her!

Ich irrte durch das Kaufhaus, durch die Menschen und durch die Regale und hatte im Grunde genommen keine Ahnung, wohin ich ging. Ich hätte gerne geweint, aber die Tränen steckten in ihren Drüsen fest. Ich wusste selber nicht, ob ich einfach nur wütend oder traurig oder verletzt war. Wahrscheinlich alles zusammen. Nicki konnte so unendlich lieb sein und im nächsten Augenblick wieder so unausstehlich. Das war ja ein altbekanntes Phänomen, und auch Mingo hatte mir gesagt, dass sein Bruder oft nicht zum Aushalten sei … Und Suleika, eine seiner früheren Freundinnen, hatte sich auch dauernd mit ihm gestritten …

Ja, es war wohl so, wie Mama gesagt hatte: Da war dieses Loch in seiner Seele … die Sache bei der Geburt, die seine Psyche vermutlich so schwer geschädigt hatte, dass er gar nicht viel dafür konnte, dass er immer wieder in diesen Abgrund fiel. Umso mehr drängte sich der Wunsch in mir auf, die Wahrheit herauszufinden … herauszufinden, was damals wirklich passiert war. Was Maria wirklich getan hatte – und was nicht. Ich konnte und wollte nicht ständig mit Nickis Abstürzen leben, und die einzige Lösung, etwas Wirksames dagegen zu unternehmen, schien mir die Aufklärung von Marias Geschichte.

Denn trotz allem fühlte ich mich ja so sehr zu ihm hingezogen … das war ja das Dumme! Und ich wollte mich sogar mit ihm verloben …

Ungeachtet der gegenwärtigen Auseinandersetzungen wusste ich, dass ich höchstwahrscheinlich nie mehr zu einem Menschen eine so tiefe Verbindung würde aufbauen können wie zu Nicki.

Und als mir das bewusst wurde, kamen die Tränen endlich. Nicht, weil er mich so angebrüllt hatte. Nicht, weil er sich in den letzten Tagen wieder so oberkompliziert benommen hatte. Und nicht einmal, weil er mit Angel geflirtet hatte.

Nein, ganz einfach, weil ich diesen verrückten Jungen immer noch so sehr liebte und weil ich wusste, dass er im Grunde genommen ein extrem sensibles Herz hatte …

Ich streckte meine Hand aus und berührte die Nähmaschine, die vor mir im Regal stand … ja, was machte ich eigentlich bei den Nähmaschinen? Was machte ich überhaupt hier drin? Eigentlich war es dumm gewesen, vor Nicki wegzulaufen … ich war ja so ziemlich auf ihn angewiesen. So eine Idiotie, hoffentlich hatten wir uns jetzt nicht völlig aus den Augen verloren! Wie ich hatte auch er sein Handy ausgeschaltet, um den Akku nicht unnötig zu leeren. Ob ich den Weg in unsere Bruchbude notfalls allein finden würde?

Ich beschloss, erst mal aus dem Kaufhaus rauszugehen. Vielleicht würde ich ihn ja draußen irgendwo entdecken. Ich drängte mich zwischen den Leuten die Rolltreppen hinunter und konnte gar nicht schnell genug zum Ausgang kommen.

Und kaum stand ich auf der Straße, lief ich Nicki geradewegs in die Arme! Ehe ich etwas sagen konnte, packte er mich und drückte mich fest an seine Brust.

«Endlich», flüsterte er ganz aufgeregt, und seine Tränen tropften auf meine Schulter. «Ich dachte, du würdest nie mehr rauskommen.»

«Ich …»

«Ey, du warst über 'ne Stunde da drin … Ich hab die ganze Zeit hier gewartet, dass ich dich ja nicht verpasse … Ey, mach das nie wieder, Maya. Bin fast gestorben vor Angst!»

Tiefe Schluchzer bahnten sich den Weg aus seinem Inneren. Und da stand ich, fest an seine Brust gedrückt, von seinen starken Armen umschlungen und den Kopf auf seine Schulter gelegt, während er mich wiegte wie ein kleines Kind. Ganz vorsichtig streichelte er meinen Hinterkopf und berührte mich so zaghaft, als hätte er Angst, mir erneut wehzutun.

Und ich konnte gar nichts mehr denken. Mein Herz glühte nur noch vor innigem Verlangen, ihm nahe zu sein und das Rätsel für ihn zu lösen, das seine Seele immer noch so im Dunkeln gefangen hielt. Außerdem war es einfach so berauschend, in seinen Armen zu liegen, seine Sanftheit zu spüren und die Wärme in seinem Körper zu fühlen.

Nach einer sehr langen Weile ließ er mich sanft los.

«Bist du okay?», fragte er leise.

Ich nickte. Was sollte ich sonst sagen? Unsere Leben waren nun mal so fest ineinander verschlungen, dass sie kaum mehr getrennt werden konnten.

«Tut mir so leid … ich hab die Medikamente nicht dabei, weißt du, und ich …», begann er.

«Ja, ich weiß», unterbrach ich ihn. «Das hab ich mir schon gedacht …»

«Nee, ich hab mich mal wieder wie 'n Vollkranker aufgeführt», murmelte er verlegen. Ich strich ihm die langen Haarsträhnen aus der Stirn und sah ihn an. Er sah ziemlich fertig aus. Meine Aktion musste ihn echt mitgenommen haben. Einerseits konnte ich einen kleinen Triumph nicht verhehlen, andererseits schmerzte es, ihn so leiden zu sehen.

War ich wirklich über eine Stunde lang in dem Kaufhaus gewesen? Ich hatte wohl jegliches Zeitgefühl verloren gehabt.

Ich tat das, was ihm erfahrungsgemäß am meisten half: Ich legte meine Hand auf seine Brust und massierte sie zärtlich. Und tatsächlich fühlte ich, wie der Aufruhr in ihm sich langsam wieder legte. Und schließlich war er es, der erneut die Führung übernahm. Und weil sein Vorschlag mir gefiel, lehnte ich ihn auch nicht ab. Es dämmerte mittlerweile, und mein Magen knurrte.

«Jetzt gehen wir nach Hause und essen was. Dann mach ich dir 'n Schaumbad und so. Ich kauf dir eines. Was du möchtest. Damit du dich besser fühlst. Ja?»

Ich nickte. «Okay.»

Wir gingen also wieder ins Kaufhaus rein, und ich durfte mir einen Badezusatz aussuchen. Natürlich machte es nicht wirklich Sinn, denn ich konnte ja in dem Eimer kein Bad nehmen. Zudem hatte Angel uns Duschgel eingepackt, und Seife war auch noch vorhanden. Aber mir gefiel es einfach, mich von Nicki verwöhnen zu lassen. Zusätzlich kaufte er mir auch noch einen Kamm, Haarklammern, Unterwäsche und ein schönes T-Shirt – also alles, was mir noch fehlte und was mir Angel nicht hatte geben können. Eine Tüte Plastikbesteck erstanden wir auch noch, und als wir schließlich vollbeladen heim in unsere Bude kamen, war es stockdunkel. Ich war richtig froh um die Stehlampe.

Trotz Dunkelheit ging Domenico mit dem Kanister nochmals zur Zisterne, danach machte er mir in dem Eimer ein duftendes Mini-Schaumbad mit gekochtem Wasser.

Ich nahm mir so richtig Zeit und seifte mich von oben bis unten ein, während Domenico wieder rauf in die Küche ging, um uns ein leckeres Abendessen zuzubereiten.

Inzwischen war auch meine Unterwäsche trocken, und ebenfalls freute ich mich darauf, in mein neues T-Shirt zu schlüpfen.

In der Zwischenzeit hatte Domenico ein richtiges Menu kreiert. Olivenbrot mit getrockneten Tomaten und Basilikum als Vorspeise, danach Nudeln mit Pinienkernen, Basilikum, Paprika und Tomaten. Zum Nachtisch gab es ein wenig Nussgebäck – auch von Angel.

Domenico war richtig lieb zu mir. Ich spürte, wie sehr er seinen Aussetzer wiedergutmachen wollte.

Als wir mit allem fertig waren, stylte er mich für den Abend in der Diskothek. Ich wusste, dass ihm das riesigen Spaß machte, und ich ließ ihn gern gewähren. Denn wenn er mich stylte, wusste ich, dass ich mich hinterher auch wirklich sehen lassen konnte. Er hatte ja schließlich das bessere Flair dafür, was auf Sizilien gerade in war.

Er machte mir eine coole Hochsteckfrisur und schminkte mich. Zufrieden mit dem Resultat, lächelte er mich glücklich an, so dass seine süßen Wangengrübchen erschienen.

Bei sich selbst unternahm er nicht viel, außer dass er sich rasierte. Sein Haar hing ihm sowieso immer wild ins Gesicht, aber genau das machte ihn ja so unwiderstehlich. Und mit seiner Tätowierung am Oberarm, seinen Lederbändchen um die Handgelenke und der Leder- und Holzperlenkette um den Hals sah er sowieso immer cool aus. Mir fiel es immer noch schwer zu glauben, dass dieser begehrte Junge wirklich ausgerechnet mich ausgewählt hatte …

Gegen zehn Uhr fuhren wir los und tankten unterwegs das Motorrad auf. Ich hatte Nicki das Versprechen abgerungen, keinen Alkohol zu trinken, da wir ja wieder zurückfahren mussten. Ich hoffte, dass zur Abwechslung mal alles glattlaufen würde …