Auf dem Weg nach Acireale fuhren wir durch die wunderschöne Strandpromenade von Acicastello.
«Hier war ich auch oft», sagte Nicki, als wir kurz anhielten, um ein paar Meter zu Fuß zu gehen. Er hielt meine Hand fest umschlungen. «Das war auch einer meiner Lieblingsorte.»
War er jeweils allein hier gewesen? Oder mit Angel? Mingo hatte mir nämlich erzählt, dass Nicki ihn nie mit nach Acireale genommen hatte … Ach, diese Angel geisterte wirklich wie ein Ungeheuer in meinem Kopf herum … und eigentlich wollte ich sie da endlich wieder rauskriegen. Aber es gelang mir einfach nicht.
Dann hatten wir nochmals ein Stück weit zu fahren bis Acireale. Ich war gespannt, wie diese legendäre Diskothek aussehen würde, wo Domenico damals jedes Wochenende verbracht hatte. Als wir vor einer Menschenansammlung hielten, kapierte ich erst nicht, dass wir am Ziel waren.
«Alles aussteigen!», sagte er.
Von außen sah es aus wie ein normaler Pub. Nichts Besonderes. Nur dass vor dem Eingang eine Menge Leute rumhingen, plauderten, etwas tranken, rauchten und knutschten.
«Bleib einfach in meiner Nähe, ja?», wies er mich an, während er meine Frisur noch mal nachbearbeitete, weil sie unter dem Helm ein wenig gelitten hatte. «Ich will nicht, dass Fabio oder sonst einer dieser Idioten dich blöd anmacht. Jede Wette, die treiben sich heute auch hier rum.»
Ich folgte ihm, während er sich unter den Leuten umschaute und offenbar ein paar bekannte Gesichter suchte. Er wirkte mal wieder richtig selbstbewusst, als wäre er hier der King of Swing.
«Glaubst du echt, wir kommen da gratis rein?», fragte ich.
«Ja, klar, ich hab doch mal als Barkeeper ausgeholfen. Ich kenn die meisten Leute hier», sagte er, während er sich eine Zigarette anzündete.
Der Türsteher, ein großer, kräftiger Typ, der mir irgendwie bekannt vorkam, scannte uns von oben bis unten.
«Amunì, Nonno, ni fa' tràsere?», lächelte Domenico.
Nonno? Ich hätte ihn kaum wiedererkannt. Ich hatte kaum mit ihm gesprochen vor drei Jahren, aber ich hatte die Namen von Domenicos Mitbewohnern nie vergessen. Nonno – seinen richtigen Namen wusste ich nicht – war richtig kräftig und bullig geworden. Der ideale Türsteher für eine Disco. Sein raspelkurzer Haarschnitt passte ebenfalls dazu.
«'Unn ci pozzo credere! La tigre!» Nonno schlug sich an die Stirn, als er Domenico wiedererkannte. Die Jungs klopften sich kameradschaftlich auf die Schulter und umarmten sich. Nonno sagte bedauernd etwas, was ich nicht verstand, und durchsuchte Domenico offenbar nach Drogen. Er musste ja seine Pflicht tun.
«Nente aju, scia', 'unn ti proccupari», lächelte Domenico.
Nonno wies Nicki an, seine Zigarette auszumachen, dann durften wir rein. Tatsächlich hatte er uns gratis durchgeschleust.
Der Club sah um einiges besser und gepflegter aus als das Xenon. Immerhin war es kein heruntergekommener Schuppen. Ich blieb dicht hinter Domenico, der mich selbstsicher durch die vielen Gruppen der Clubgäste geleitete. Schon bald bemerkte ich die ersten schmachtenden Mädchenblicke, die sich an ihm festsaugten. Wie es eben zu erwarten gewesen war.
Wir sahen uns um. Freie Sitzplätze waren hier rar, doch gerade stand ein Pärchen auf. Domenico führte mich zu dem frei gewordenen Platz und zog mich auf seinen Schoß.
«Möchtest du was trinken?», fragte er.
Durst hatte ich, aber womit sollten wir das Getränk bezahlen? Ich sagte das Domenico.
Er grinste nur.
«Augenblick.» Er sah sich um und winkte dann einen jungen Clubbesucher herbei.
Der Typ strahlte, als er Domenico erkannte. Offenbar war er auch einer von Nickis alten Kumpeln. Sie redeten miteinander, lachten, diskutierten und gestikulierten, und schließlich nickte der Typ und ging zur Theke. Bald kam er mit zwei Gläsern Eistee zurück.
Domenico bedankte sich und reichte mir ein Glas.
«Hast du den jetzt einfach gefragt, ob er uns was spendiert?», wollte ich wissen.
«Das macht der gern, keine Sorge», meinte er schmunzelnd und strich mir zärtlich übers Haar. «Außerdem war er mir 'nen Gefallen schuldig.»
«Wie viele Leute sind dir eigentlich was schuldig?»
«Das ist hier halt so», meinte er. «Wenn ich jemandem helfe, hilft er mir. Und umgekehrt. Ich kann's einfach nicht mit ansehen, wenn Schwächere fertiggemacht werden. Guck mal, dort drüben sind zum Beispiel ein paar von den Idioten, die Jenny immer gefoppt haben. Sind auch aus Catania. Denen hab ich mal ziemlich was aufs Maul gegeben.»
«Was im Klartext bedeutet, dass du auch hier recht bekannt bist», stellte ich sachlich fest.
«Ich kenn nicht mehr alle hier. Viele sind weg oder gehen woanders hin. Aber einige sind noch da.» Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und begann dann, zärtlich meinen Nacken und meine Wangen zu küssen. Seine Hände lagen auf meinem Bauch, und ich holte tief Luft, weil sich das alles so schön anfühlte.
Und auf einmal stand Angel vor uns.
«Hi», flötete sie mit ihrer zarten Stimme und schenkte Domenico einen meiner Meinung nach verführerischen Augenaufschlag. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Top, und für mich war der Fall sofort klar: Sie hatte ganz genau gewusst, dass Domenico an diesem Abend hier sein würde.
Domenico hörte auf, mich zu küssen, und blickte zu ihr empor.
«Hi», sagte er heiser.
Angel beugte sich etwas näher zu ihm und sagte ihm etwas ins Ohr. Na toll! Ich warf ihr einen wütenden Blick zu. Hatte die keine Manieren? Mir einfach vor meinen Augen den Freund ausspannen zu wollen?
Domenico runzelte die Stirn, während er ihr zuhörte, und es entstand eine kleine Diskussion zwischen ihnen. Irgendetwas stimmte nicht …
Domenico lockerte seinen Griff um meinen Bauch.
«Maya, ich geh schnell mit Angel raus», sagte er. «Sie muss mir was sagen. Es scheint ziemlich dringend zu sein.»
«Dringend?» Ich schaute ihn empört an. Das war nicht sein Ernst, oder?
«Keine Angst», flüsterte er mir ins Ohr. «Es dauert nicht lange.»
«Und wieso kann sie dir das nicht hier sagen?»
«Weil es hier zu laut ist und weil wir eine rauchen wollen», sagte er.
«Gut, aber dann komme ich mit», bestimmte ich.
«Okay», meinte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber ich spürte, dass es ihm irgendwie nicht passte. Und es war sehr ungewöhnlich, dass er mich einfach hier allein lassen wollte, wo er mich doch sonst bewachte wie seinen Augapfel.
Draußen zündete Nicki zwei Zigaretten an und reichte Angel eine.
Ich versuchte etwas zu verstehen von dem, worüber sie sich unterhielten, aber Angel sprach viel zu leise, so dass Nicki sich nahe zu ihr hinbeugen musste. Ich war mir fast sicher, dass sie genau das beabsichtigte. Sie warf mir hin und wieder schwer zu deutende Blicke aus den Augenwinkeln zu, als wolle sie prüfen, wie ich mich verhielt. So eine Hexe! Dabei sah sie so zart und unschuldig aus!
Auf einmal stand ein hagerer Typ vor mir und grinste mich an. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Ich ihm offenbar auch. Das schüttere Haar und die Pickel im Gesicht brachten mir schnell wieder ins Gedächtnis, dass es sich hier ebenfalls um einen von Domenicos Ex-Mitbewohnern handelte. Speedy, wie er sich nannte, sagte etwas zu mir und hielt mir seine Hand hin. Ich wusste nicht genau, was er wollte. Im selben Moment drehte sich Domenico zu mir um und funkelte Speedy zornig an. Und dann, nur eine Sekunde später, wurde Nicki von uns weggerissen und an die Hausmauer gedrückt. Angel schrie ängstlich auf.
Und da stand Fabio, drohend und riesig wie Herkules. Er lachte schmierig und presste Domenico weiterhin fest an die Hauswand. Und mir war schnell klar, dass Domenico diesmal gegen die enorme Muskelkraft seines Kontrahenten keine Chance hatte – etwas, das selten vorkam. Ich hielt die Luft an, als ich zusah, wie Nicki sich aus diesen riesigen Pranken, die ihn festhielten, zu befreien versuchte.
Fabio grölte siegesbewusst, während Nickis Gesicht sich vor Schmerz verzog. Fabio tat ihm weh! Der blonde Riese drückte seine Hand so fest auf Domenicos Brust, dass dessen ohnehin schon malträtierte Lungen schmerzten. So ein Dreckskerl! Er schien genau zu wissen, dass Nicki unter Lungenproblemen litt und dass das zweifelsohne sein körperlicher Schwachpunkt war.
Ich hätte Nicki am liebsten seinen Klauen entrissen, hätte wild mit den Fäusten auf diesen blöden Kerl eingeschlagen, aber das konnte ich ja nicht tun.
Domenico würgte irgendwas hervor, was Fabios Augen triumphierend aufleuchten ließ.
«Una gara?», johlte er begeistert, und seine Crew, die ihren Führer treu umkreist hatte, stimmte in den Jubel ein.
Was um alles in der Welt hatten sie vor?
Offenbar hatte Nicki irgendeinen Vorschlag gemacht, wie man den Kampf austragen konnte. Es hatte sich bereits eine schaulustige Menge gebildet. Ich wurde von ein paar Jungs zurückgedrängt, als Fabio Domenico langsam wieder losließ.
Nicki legte kurz die Hand auf seine Brust und schloss die Augen, dann holte er tief Luft.
Oh nein! Bitte nicht wieder eine Prügelei!
Zu meiner Überraschung trat Fabio zur Seite, um ihn durchzulassen. Domenico kam zu mir und sah mich an.
«Was passiert jetzt?», fragte ich.
«Stell dich zu den andern», sagte er. «Halt einfach Abstand, okay?»
Einer von Fabios Kumpanen winkte Domenico zu sich und deutete auf ein fettes rotes Motorrad. Domenico nickte und schwang sich drauf. Mit dem alten Vehikel von Alfredo, Salvatores Vater, hätte er ja keine ebenbürtige Chance gehabt.
«Warte!» Ich rannte zu ihm.
«Maya, ich hab gesagt …»
«Nicki, du wirst doch nicht etwa ein Rennen fahren wollen?», fragte ich entsetzt.
«Süße … nur ein Mal. Keine Angst.»
«Muss das wirklich sein?»
«Hab keine andere Wahl. Fabio will seine Revanche. Und er ist mir körperlich überlegen.»
«Ich möchte nicht, dass du das tust!» Ich klammerte mich an seinem Arm fest. Sanft löste er meine Finger wieder und schob meine Hand weg.
«Ein Rennen ist meine einzige Chance, da rauszukommen», erklärte er. «Meine einzige Chance zu gewinnen. Und ich beherrsch das Fahren! Weißt du doch! Ich fahr besser als alle anderen!»
«Muss es denn immer ums Gewinnen gehen, Nicki, mal ganz ehrlich? Kannst du deine Probleme nicht mal anders lösen? Hey, weißt du, was Hendrik zu dem sagen würde?»
«Ich weiß», sagte er, während er den Helm aufsetzte und den Motor anließ. «Es geht nicht anders. Tut mir leid. Komplizierte Geschichte. Ich muss es jetzt einfach machen. Geh zu den andern zurück. Bitte. Damit du in Sicherheit bist!»
«Also, ich finde …»
«Hey!» Er streichelte mir über den Kopf. «Alles wird gut.»
Ich hatte mal wieder keine andere Wahl. Ich hoffte einfach, dass dieser ganze Blödsinn dann in Berlin wirklich ein Ende haben würde, wenn er nicht mehr ständig mit seinen Feinden konfrontiert war und sich und mich nicht mehr verteidigen musste.
Ich konnte ihn nicht mehr aufhalten. Schon gar nicht, weil die ganze Meute sich auf das bevorstehende Rennen freute. Da düste er auch schon los und stellte sich neben Fabio, der bereits ungeduldig den Motor aufheulen ließ, in Startposition.
Fabio rief den Mädchen etwas zu. Eine ziemlich aufgetakelte Tussi rannte zu ihm hin, schnappte sich den Helm, den man ihr hinhielt, und schwang sich hinter ihm auf den Sozius.
«Amunì, piccio'», rief Domenico den Mädchen zu. «Cu vene cu' mmia?»
Gleich darauf rannte Angel los und setzte sich bei Domenico hintendrauf, nachdem auch sie einen Helm bekommen hatte.
Ich war maßlos empört. Was fiel der denn ein?
Und doch war ich irgendwie auch erleichtert. Wenn die Mädchen hintendrauf saßen, dann konnten die beiden Kampfhähne ja nicht so wild drauflos rasen. Und ich wusste ja, dass Nicki mich niemals als Beifahrerin zu so einem Rennen mitgenommen hätte.
Nur – musste es ausgerechnet Angel sein?
Einer von Fabios Gefolgsleuten gab das Startzeichen, und fast gleichzeitig ließen die beiden Gegner ihre Motoren aufheulen, so dass sich die Maschinen vorne aufbäumten.
Angel klammerte sich an Domenico fest, doch sie sah nicht unbedingt erschrocken aus. Es wirkte vielmehr so, als sei sie mit Wettrennen dieser Art vertraut.
Ich hingegen hatte echt riesige Angst und war gleichzeitig stinksauer auf Nicki! Wieso konnte er diesen Blödsinn nicht einfach mal lassen? In Berlin musste sich das schleunigst ändern. Ich musste dringend Morten und Hendrik bitten, wieder mal ein ernstes Wort mit Nicki zu reden. Ein wenig norwegische Kühle und Gelassenheit würde dem heißblütigen sizilianischen Hitzkopf sicher guttun!
Sie fuhren donnernd los und brausten nebeneinander die Straße runter. Fabio und Domenico lagen ziemlich exakt auf gleicher Höhe. Doch bald schon waren sie um die Kurve verschwunden, und man konnte nicht mehr sehen, wer in Führung war.
Die Menge wurde ruhig, und ich schaute mich um. Nonno hatte sich bei mir in der Nähe platziert und grinste übers ganze Gesicht. Speedy stand hager und lang an die Wand gelehnt da und starrte finster vor sich hin. Dann, nach einer Weile, wurde das Dröhnen der Motoren wieder hörbar, und schon kamen die beiden Motorräder wieder um die Ecke geschossen. Domenico und Angel lagen ein ganz klein wenig in Führung.
Sie zischten an uns vorbei und verschwanden wieder um die nächste Kurve. Erneut mussten wir warten, bis sie auf der anderen Seite wieder auftauchten. Und dieses Mal war das blaue Motorrad von Fabio eine Nasenlänge voraus. Ich krallte meine Hände ineinander. Was würde es bedeuten, wenn Nicki verlieren würde? Und umgekehrt? Vielleicht wäre es schlauer, Fabio einfach gewinnen zu lassen. Dann gab er vielleicht endlich Ruhe. Aber so, wie ich Domenico kannte, würde er eine Niederlage nicht auf sich sitzen lassen …
Wieder tauchten sie auf und verschwanden wieder. Und noch einmal. Und noch einmal …
Wie viele Runden wollten sie eigentlich noch drehen?
Und dann kamen die Polizeiautos. Von allen Seiten erschienen sie und schnitten den Motorrädern den Weg ab. Domenico und Fabio blieb nichts anderes übrig, als voll in die Eisen zu steigen und anzuhalten. Die beiden Mädchen klammerten sich ängstlich an ihren Fahrern fest. Angels Puppenaugen waren weit aufgerissen.
Eine gewisse Erleichterung machte sich in mir breit. Wenigstens war damit dieses dämliche Rennen beendet, und ich brauchte mir keine Sorgen mehr zu machen, dass Domenico letzten Endes noch einen Unfall bauen würde.
Doch die Erleichterung verschwand genauso schnell wieder, wie sie gekommen war, als ich sah, wie die Polizisten sowohl Fabio als auch Domenico diskussionslos in Handschellen legten und aufforderten, in den Wagen zu steigen. Die beiden Motorräder wurden kurzerhand beschlagnahmt. Um die beiden Mädchen, die mitgefahren waren, kümmerte sich keiner. Einer der Polizisten stand direkt vor mir und führte Protokoll.
Instinktiv rannte ich los, warf den protokollierenden Beamten dabei fast über den Haufen und versuchte mir den Weg zum Polizeiwagen zu bahnen. Ich stammelte irgendwas, versuchte einem der Polizisten in meinem gebrochenen Italienisch zu erklären, dass sie Domenico freilassen sollten, aber natürlich schenkten sie mir kein Gehör. Sie machten hier offenbar kurzen Prozess. Ich kriegte nicht mal mehr die Erlaubnis, ein paar Worte mit Domenico zu wechseln.
Ich konnte nur noch bedröselt dastehen und den Autos hinterherstarren. Ich konnte erst gar nicht richtig nachvollziehen, was hier geschah. Und was das für mich bedeutete. Irgendwie lief hier der völlig falsche Film ab.
Aber dann wurde mir schnell bewusst, in was für einer misslichen Lage ich mich nun befand. Ich stand hier allein in Acireale, ohne Geld, ohne Kreditkarte und ohne Möglichkeit, wieder nach Catania zurückzukehren. Einen Moment lang war ich wie gelähmt von dem Schock der Erkenntnis.
Na super, was sollte ich jetzt tun?
Ich zwang mich, klar zu denken. Früher, das wusste ich, hätte mich so ein Erlebnis an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht. Aber mittlerweile war ich wirklich ziemlich abgehärtet und dazu älter und reifer geworden. Ich konnte mich also gerade noch beherrschen, nicht in Verzweiflung und Panik auszubrechen, um stattdessen zu überlegen, was als Nächstes zu tun war.
Ich schaltete mein Handy ein und versuchte, Domenico anzurufen, aber wie ich eigentlich schon geahnt hatte, konnte er sich ja nun kaum um sein eigenes Mobiltelefon kümmern, wo seine Hände doch in Handschellen lagen.
Wo brachten sie ihn überhaupt hin? Würden sie ihn eventuell sogar bald wieder freilassen? Konnte mir irgendjemand hier helfen?
Im selben Moment entdeckte ich Angel, wie sie mit Nonno sprach, dann zu unserem Motorrad ging, es betrachtete und dann kopfschüttelnd den Schlüssel abzog und einsteckte. Nicki hatte ihn offenbar dort vergessen.
Tja, wenn mir hier jemand helfen konnte, dann war es wohl nur sie, Angel.
Ich unterdrückte meine Abneigung gegen sie, riss mich zusammen und ging auf sie zu. Sie hob ihren Kopf und sah mich an, als hätte sie bereits auf mich gewartet.
«Hi», sagte ich und fragte sie auf Englisch, ob sie wisse, was mit Domenico geschehen würde. Vor lauter Aufregung fielen mir im Moment einfach die italienischen Worte nicht ein. Angel starrte mich verständnislos an. Offenbar konnte sie kein Englisch. Ich hielt einen Moment inne und versuchte es dann auf Italienisch.
«Catania», antwortete sie nur.
«Du meinst, sie bringen Domenico jetzt nach Catania?», fragte ich nach.
Sie nickte und kramte den Motorradschlüssel wieder hervor.
«Se vuoi, ti do un passaggio io», sagte sie.
Wie bitte? Sie meinte, dass ich mit ihr nach Catania fahren konnte?
Ich zögerte. Wieso bot mir ausgerechnet Angel eine Mitfahrgelegenheit an? Konnte sie überhaupt Motorrad fahren?
Sie ging zu Domenicos respektive unserem Motorrad und winkte mir zu. «Vieni», rief sie.
Achselzuckend folgte ich ihr. Offenbar konnte sie es wirklich, und auch wenn ich in ihr immer noch eine Kontrahentin sah, wusste ich, dass ich auf ihre Hilfe angewiesen war.
Ich stieg hinter ihr aufs Motorrad, und sie reichte mir den Helm. Doch als ich ihn aufsetzte, stutzte ich. Warum um alles in der Welt hilft Angel mir überhaupt?, tauchte die Frage in meinem Kopf auf. Was, wenn sie irgendwas Böses im Schilde führt? Wenn sie mich nun gar entführt?
Aber nein, eigentlich traute ich ihr so was nicht zu. Sie schmiss sich zwar eindeutig an Nicki ran, aber sie schien eher von sensibler Natur zu sein. So wie ich.
Angel ließ den Motor an und fuhr los – viel sanfter und langsamer als Domenico, aber auch zaghafter. Sie hatte gewiss längst nicht so viel Übung wie er. Ich legte etwas widerwillig die Hände um ihren Bauch. Wenigstens kam ich nun nach Catania zurück. Doch die Frage, wo ich übernachten sollte, stand immer noch in den Sternen. Auf keinen Fall traute ich mich, ohne Nicki in dieser unheimlichen Bruchbude zu schlafen. Und ein Hotel konnte ich ohne Geld und Kreditkarte glatt vergessen …
Ob Angel mir Asyl anbieten würde?, fragte ich mich, als wir durch die kühle Nacht zurück nach Catania fuhren. Ich durfte gar nicht daran denken, wie ich meinen Eltern das alles wieder beichten sollte.
Angel fuhr mich direkt zur Piazza Stesicoro. Dort ließ sie mich absteigen. Und ehe ich mich mit irgendeiner Frage an sie wenden oder mich für ihre Hilfe bedanken konnte, gab sie bereits wieder Gas und entschwand meinen Augen.
Na supertoll! Das war jetzt aber wirklich nett von ihr!
Jetzt stand ich hier ganz allein in Catania auf der Piazza Stesicoro, und das um zwei Uhr in der Früh und ohne Geld. Wunderbar. Diese Ferien entwickelten sich immer weiter weg von dem, was ich mir erträumt hatte. Ich durfte mir die Reaktion meiner Eltern gar nicht vorstellen! Und das alles nur, weil dieser doofe Fabio aufgetaucht war. Und weil Nicki einfach immer noch in seine desaströsen Geschichten aus der Vergangenheit verwickelt war.
Ja, eine baldige neue Umgebung würde wirklich die einzige Lösung darstellen …
Die Piazza war immer noch belebt. Die Nachtschwärmer waren voll in Aktion. Das gab mir immerhin das Gefühl, nicht ganz verloren und einsam zu sein.
Abermals schaltete ich mein Handy ein. Mein Akku war schon fast am Sterben. Ein letztes Mal probierte ich, Domenico zu erreichen, doch vergeblich …
Auf dem Display sah ich, dass ich SMS von Mama ( Alles klar bei euch?) und von Hendrik erhalten hatte. Hendrik musste jetzt warten, aber Mama schrieb ich zurück: Bin in Catania. Mein Herz ist bei Dir. Bei Euch. Umarme Dich. Maya.
Über mich selber erstaunt, dass ich immer noch nicht in Panik ausgebrochen war, wog ich ab, was ich als Nächstes unternehmen sollte. Die erste Möglichkeit, die mir einfiel, war, zur Polizeiwache zu gehen und nach Domenico zu fragen. Ich wusste ja, wo die Wache war, weil wir dort früher mal unfreiwillig zusammen gelandet waren. Sie befand sich ganz in der Nähe.
Etwas später trat ich zögernd durch die Glastür der Wache und schaute mich um. Es kostete mich ziemlich viel Mut, auf den Empfang zuzugehen und den Mann dort anzuquatschen. Als ich sah, dass Federico Scuderi die Nachtwache schob, rutschte mir beinahe das Herz in die Hose. Ausgerechnet dieses Krähengesicht! Der dicke, gemütliche Carlo Bonti wäre mir viel lieber gewesen. Ich konnte mich an die beiden Polizisten noch gut erinnern.
Scuderi hob gelangweilt seinen Kopf, als ich vor ihm stand. Die Furchen um seine Mundwinkel schienen irgendwie tiefer geworden zu sein. Der Mann sah alles andere als zufrieden aus. Auch Domenico hatte ihn nicht gemocht.
«Prego?», bellte er mich unfreundlich an.
Ich fragte nach Domenico di Loreno. Sofort leuchtete ein triumphierendes Funkeln in Scuderis Augen auf. Mit einem genüsslichen Blick lehnte er sich zurück und gab mir irgendeine Antwort, die ich kaum verstand.
«Can you say it in English, please?», bat ich schließlich. Doch Scuderi schüttelte nur fragend den Kopf.
Konnte denn hier überhaupt keiner Englisch? Lernten die das denn nicht in der Schule?
Irgendwie hegte ich den vagen Verdacht, dass Scuderi es ziemlich genoss, mich auf die Folter zu spannen. Neben ihm auf der Theke stand ein fast voller Aschenbecher, und das, obwohl gleich daneben ein Rauchverbotszeichen hing.
«Posso parlare con Domenico?», versuchte ich erneut mein Glück, doch Scuderi schüttelte nur unfreundlich den Kopf und gab mir mit einer unwirschen Handbewegung ein Zeichen, dass ich mich gefälligst fortscheren sollte.
Nun hatte ich wirklich ein ernsthaftes Problem.