Wieder zurück auf der Piazza, setzte ich mich auf eine Bank und dachte darüber nach, was ich nun für weitere Möglichkeiten hatte.
Ich konnte vielleicht ein Hotel suchen, das um die Zeit noch offen hatte, und die Adresse meiner Eltern für die Rechnungsstellung angeben. Oder ich konnte allein zu Fuß in unsere Bruchbude gehen und trotz meiner Angst dort übernachten. Oder ich wartete einfach hier auf dieser Bank, bis es wieder hell wurde, und ging dann bei Tageslicht zurück, um noch eine Runde zu schlafen. Oder ich ging in den Bellini-Park und suchte mir irgendwo hinter einem Gebüsch eine verborgene Stelle im Gras, wo ich noch ein bisschen schlafen konnte.
Ich tendierte zu der zweitletzten Möglichkeit, nämlich hier die Nacht abzusitzen und zu warten, bis es wieder Tag wurde.
Was ich allerdings tun würde, wenn Domenico nicht bald wieder aus dem Knast rauskam, wusste ich echt auch nicht.
Um mich zu beruhigen, schlenderte ich ein wenig auf dem Platz herum. Immerhin hatte ich noch ein paar Lebensmittel in der Bude. Dann musste ich nicht gleich verhungern. Und ein paar Euro in der Tasche für Wasser. Ich musste bloß irgendwie Geld für den Bus nach Monreale zusammenkriegen. Oder vielleicht fand ich irgendwo eine Möglichkeit, meinen Akku aufzuladen und Domenico zu erreichen – in der Hoffnung, dass sie ihm sein Handy nicht abgenommen hatten.
Kaum hatte ich mich wieder auf eine Bank gesetzt, stellte sich wie aus heiterem Himmel ein Mädchen vor mich hin. Ich hob meinen Kopf und schaute sie an. Sie strich ihre pechschwarzen Haare aus dem Gesicht, und erst dann erkannte ich sie.
«Bianca?»
Einen Augenblick lang war ich verblüfft, als ich feststellte, dass Domenico wirklich Recht gehabt hatte. Maria und Bianca hatten uns tatsächlich verfolgt! Es war keines von Nickis Hirngespinsten gewesen, wie ich manchmal in meinem Unterbewusstsein immer noch angenommen hatte.
«Scht!» Sie legte ihren Finger auf den Mund.
Trotz der prekären Umstände war ich noch nie so erleichtert gewesen, Domenicos zickige Halbschwester zu sehen. Bevor ich mich darüber wunderte, was sie mitten in der Nacht hier zu suchen hatte und woher sie überhaupt gewusst hatte, dass sie mich hier finden würde, war ich erst mal einfach nur froh, nicht mehr mutterseelenallein hier zu sein.
Bianca packte meinen Arm. «Komm mit.»
Ich folgte ihr, und es war mir in dem Moment echt egal, was Nicki davon halten würde. Was blieb mir anderes übrig? Er hatte mich ja letztendlich in dieses Abenteuer hineingeritten. Ich hatte die ganze Zeit nach seiner Pfeife getanzt, mit dem Resultat, dass ich nun ohne Geld und Obdach auf der Straße saß.
Bianca zog mich schweigend und zielstrebig durch die Gegend, und ich hatte keinen Schimmer, wohin sie mit mir wollte. Ich ging davon aus, dass sie mich zu ihrer Mutter bringen würde. Allerdings fand ich es ziemlich erniedrigend, mich von einem sieben Jahre jüngeren Mädchen herumkommandieren zu lassen, und beschloss, mich zu wehren. Ich riss mich von ihr los. An der Hand brauchte sie mich ja nun echt nicht zu nehmen!
Sie schaute mich kühl an. «Wehe, du haust ab.»
«Hab ich nicht vor», sagte ich. «Wohin bringst du mich?»
«Stell einfach keine Fragen.»
Das war wohl die erste Unterhaltung, die ich bis jetzt je mit Bianca hatte. Bisher hatte ich dieses Mädchen ja kaum sprechen hören.
«Ich komm nur mit, wenn du mir sagst, wohin du mich bringst.» Diese Kleine sollte nur Respekt vor mir haben! Alles ließ ich mir nun wirklich nicht gefallen!
Da funkelte sie mich drohend an und stemmte ihre Hände auf die Hüften.
«Willst du, dass ich dich verprügle?», fragte sie herausfordernd.
Wie bitte? Die Kleine wollte mich verprügeln? Aber ich ahnte, dass sie mehr Kraft hatte, als man dachte. Obwohl sie erst elf und auch nicht übermäßig groß war, sah sie viel älter und reifer aus und hatte auch schon einen richtigen Busen, was sie noch erwachsener wirken ließ. Seit sie im Heim lebte und nicht mehr unterernährt war, war sie auch viel stämmiger geworden. Manchmal fragte ich mich, ob sie wirklich erst elf war. Sie wäre locker für vierzehn durchgegangen.
«Das wird Domenico nicht zulassen», sagte ich.
Sie verdrehte die Augen. «Du hast keine Ahnung von Domenico. Du weißt gar nichts.»
«Zufällig sind wir bald verlobt.»
Gleich darauf hätte ich mir die Zunge abbeißen können. Das hätte ich vielleicht besser nicht sagen sollen!
Bianca lachte verächtlich. «Verlobt? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sich Domenico verloben wird! Domenico macht ganz andere Sachen.» Ihre Stimme klang so abgeklärt, dass ich immer noch kaum glauben konnte, dass ich mit einer Elfjährigen sprach. Es hatte wohl keinen Zweck, noch weiter mit ihr zu streiten.
«Domenico spielt nur mit dir», bemerkte sie. «Falls du es noch nicht gemerkt hast.»
«So, tut er das?», fragte ich wütend. Ich hätte dieses arrogante Mädchen echt am liebsten gepackt und so richtig durchgeschüttelt.
«Er hat es mir gesagt», sagte sie kühl. «Er hat mir gesagt, dass er dich nur ausnutzt.»
«Du lügst», erwiderte ich, aber ich konnte nicht verhindern, dass ihre Worte mich an meiner allerwundesten Stelle trafen.
«Er nutzt dich aus», wiederholte sie. «Er hat noch zwei andere Freundinnen. Glaub's mir.» Sie drehte sich wieder von mir weg und warf ihr schönes schwarzes Haar in den Nacken, als wolle sie mir damit eindeutig zeigen, dass sie die Hübschere von uns beiden war. Ich wusste, dass sie mich hasste, weil sie offensichtlich immer noch der Meinung war, ich hätte ihr die Liebe ihres Bruders weggenommen.
Und ich meinerseits hegte auch nicht besonders warme Gefühle für sie.
Mein Herz hämmerte. Wieso quälte immer noch dieser fiese Stachel meine Seele, dieses «Was wäre, wenn nun doch»? Was, wenn er tatsächlich ein falsches Spiel mit mir trieb? Oft genug war mir gesagt worden, dass er innerlich nicht stabil war, dass er manisch-depressiv war, ja sogar psychisch krank und schwer angeknackst … und ich hatte dennoch an ihn geglaubt, immer und immer wieder. Aber die ganze Sache mit Angel hatte mich seelisch wieder aufgewühlt …
Ich war total in Gedanken versunken und achtete kaum darauf, wohin Bianca mich führte. Auf einmal standen wir vor einem Hotel. Bianca nickte mir zu und schob eine Karte in den Schlitz. Die Tür ging auf, und wir traten in die spärlich beleuchtete Lobby. Bianca schritt mit erhobenem Haupt voraus zum Lift. Der Hang zum Rumkommandieren lag wohl eindeutig bei denen in der Familie. Vermutlich hatte Bianca das sogar von Domenico gelernt.
Wir fuhren mit dem Lift in die dritte Etage. Bianca klopfte an eine Tür. Schritte kamen näher, und die Tür wurde geöffnet.
Maria stand vor uns, nur in einem Spitzenhemd und Höschen und ihren vielen Silberketten, die ihr in den tiefen Ausschnitt fielen. Ihre Füße steckten in einfachen Plastikschlappen mit Absätzen. Ihre dichte Mähne fiel ihr offen über die Schultern. Sie sah wild und gleichzeitig schön aus.
«Finalmente.» Sie packte mich am Arm. «Tràsi, komm rein. Domenico ist in questura, eh … wieder Polizei, nicht wahr? Arme Mädchen … Du schlafe da, ja? Mischina …»
«Ja», sagte ich. Woher wusste sie, dass Domenico wieder im Knast war?
«Tranquilla, ich helfen», sagte sie. «Keine Angst. Tràsi, komm rein. Vuoi mangiare qualcosa? Essen?»
Ich schaute Maria an und versuchte herauszufinden, was sie beabsichtigte. Ihre schönen Augen waren dick mit schwarzem Kajal bemalt. Sie strich sich das Haar zurück und schaute mich aufmerksam an. Wieder einmal staunte ich, wie ähnlich sie und Domenico sich waren. Sogar der Ausdruck in ihren Augen war derselbe: verwegen und unergründlich.
Vorsichtig folgte ich ihr und Bianca ins Zimmer. Der Raum war recht groß und gut ausgestattet, es duftete stark nach Parfum.
Maria holte ein Stück Pizza, das in Folie eingewickelt war.
«Ecco. Du habe Hunger, ja?»
Das stimmte allerdings. Ich merkte erst jetzt, dass mir vor Hunger beinahe übel war. Dennoch zögerte ich zuerst, als ich die Pizza nahm. Eigentlich war mir klar, dass Maria mich in erster Linie als Köder benutzen wollte, um an Domenico heranzukommen. Aber ehrlich gesagt fand ich diese Idee gar nicht mal so übel. Dieses ewige Hin und Her zwischen Nicki und seiner Mutter konnte ja so nicht weitergehen. Er würde zwar mit ziemlicher Sicherheit toben vor Wut, aber vielleicht konnten wir damit diesem Katz-und-Maus-Spiel endlich ein Ende bereiten.
Außerdem war die Sehnsucht nach einem vernünftigen Bett einfach zu groß.
Ich biss in das Stück Pizza und bedankte mich. Maria lächelte mir zu und deutete auf ein paar Trinkflaschen. Es gab allerdings nur Fanta und Cola, kein Wasser. Ich entschied mich für eine Fanta.
Maria forderte Bianca inzwischen auf Sizilianisch auf, ihr Bett freizumachen. Bianca nahm schweigend ihre Sachen runter und warf sie mit genervter Miene hinüber zu Marias Bett. Auf Marias Nachttisch standen ein halbvolles Glas Rotwein und eine Schachtel Rohypnol.
«Ecco. Du schlafe da», sagte Maria zu mir.
Ich bedankte mich.
Maria zündete sich eine Zigarette an, steckte sie in den Mundwinkel und trat zum Fenster, um es zu öffnen. Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Nur mit ihrer Spitzenunterwäsche bekleidet, lehnte sie sich weit hinaus und zog genüsslich den Rauch ein. An jedem ihrer Finger glänzten silberne Ringe. Es schien sie überhaupt nicht zu stören, dass am Fenster gegenüber zwei Typen standen und sie beobachteten. Im Gegenteil, sie winkte ihnen sogar zu und hob selbstbewusst ihren Oberkörper an, als wolle sie den Typen noch absichtlich einen besseren Blick auf ihre imposante Oberweite ermöglichen. Bianca schaute ihr gelassen zu und verzog keine Miene.
Maria drehte ihren Kopf wieder zu mir.
«Ich dir helfen», sagte sie und nahm ihre Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, um das letzte bisschen Nikotin und Teer aus ihr rauszusaugen – exakt genau so, wie Domenico es immer machte, bevor er sie ausdrückte. War Nicki sich bewusst, was für eine frappierende Ähnlichkeit er mit seiner Mutter hatte?
«Morgen wir holen Domenico. Ich kenne sbirri gut, eh … la polizia. Ich weiß schon, was mache, tranquilla.» Sie lachte und warf ihr widerspenstiges Haar zurück. «Sì, aber jetzt schlafe. Du sage mir, was du brauche. Wenn brauche creme, docciaschiuma, egal, ich habe ganz viele.»
Sie schob den Aschenbecher zur Seite, ging ins Badezimmer und kam mit ihrer Kosmetiktasche zurück.
«Da. Was du brauche, nimm, nimm nur. Du bist Freundin von Domenico, du bist famiglia, vero? Ich helfe dir. Ich immer gedacht, du bist gute Mädchen, wenn ich sehe dich in tribunale. Du brauche Kleider zum Schlafen?»
«Ja, gern», sagte ich und fragte schließlich schüchtern, ob ich trotz der frühen Morgenstunde noch schnell duschen durfte. Denn ich fühlte mich dreckig, staubig, ungepflegt; ich war auch verschwitzt und hatte schon lange kein fließendes Wasser mehr gesehen. Bianca warf mir einen ziemlich hochmütigen Blick zu. In ihren braunen Rehaugen las ich immer noch Kälte und Feindseligkeit mir gegenüber.
Maria wühlte in ihren Sachen und gab mir Handtücher und ein Spitzenhemd von sich, das intensiv nach Rosen duftete. Zudem drückte sie mir eine ganze Garnitur von Duschmitteln, Cremes und Lotionen in die Hand – mehr, als ich eigentlich brauchte. Eine in Plastik eingepackte Zahnbürste, die zur Badezimmerausstattung gehörte, war sogar noch im Zahnputzglas vorhanden. Ich hatte längst festgestellt, dass Maria nicht gerade das billigste Hotel gewählt hatte.
Als ich mich auszog, stellte ich mit Entsetzen fest, dass ich meine Regel bekommen hatte. Auch das noch! Eigentlich hatte ich erst in zwei Tagen damit gerechnet, und sie hatte sich dieses Mal auch nicht mit Pauken und Trompeten angekündigt, wie es sonst ab und zu vorkam.
Ich streckte den Kopf aus der Badezimmertür und fragte Maria verlegen nach Tampons und Binden.
«Oh», sagte sie und wandte sich an ihre Tochter. «Ò Bia', dacci de' cose to'!»
Bianca verdrehte die Augen und kramte widerwillig eine Schachtel Tampons und Binden aus ihrer Tasche. Die Elfjährige hatte offenbar auch schon ihre Regel, frühreif, wie sie war.
Die langersehnte Dusche kam mir vor wie der Himmel auf Erden! Ich fühlte mich hinterher fast wie neu geboren. Marias Spitzenhemd war mir natürlich zu weit und zu kurz. Maria war ja um einiges kleiner als ich, aber umso kurviger.
Als ich wieder aus dem Bad kam, stand Maria wieder am Fenster und rauchte eine weitere Zigarette – dieses Mal ganz oben ohne! Ein paar Sekunden lang war ich richtig schockiert. Wollte Maria so nebenbei ein paar potenzielle «Kunden» anlocken? Oder war es für sie einfach ganz normal, dass die ganze Welt sie nackt sah? Bianca jedenfalls schien sich nicht groß etwas daraus zu machen, im Gegensatz zu Nicki …
Tja, langsam wunderte es mich echt nicht mehr, warum er so einen Knacks hatte, was Mädchen und Sexualität betraf …
Maria wandte sich wieder zu mir um. Ich wollte sie eigentlich gar nicht anstarren, aber als mein Blick auf die kleine Tätowierung auf ihrer nackten Brust fiel, konnte ich fast nicht anders.
Es war ein Tiger. Lady Cat …
Maria merkte offensichtlich, dass ich sie anschaute, ließ sich jedoch nichts anmerken.
«Ich weiß, Mädchen, du denke, ich schlechte Frau. Aber ich will helfen Domenico. Er hat viele incubi, die böse Traum, ich weiß. Wegen mir. Ich komme hier, weil ich wolle zeige alles von früher, wenn Jungs kleine, verstehst du? Ich helfe ihm jetzt.»
Es war so schwierig, darauf eine Antwort zu finden. Irgendwie stand ich nun zwischen Maria und Domenico, und jeder erzählte mir die Sache aus seiner Sicht. Wem sollte ich glauben, wem Recht geben?
Ich beschloss, vorerst mal zu schweigen. Schweigen war immer gut und verlieh einem eine gewisse Überlegenheit. Das hatte ich von Domenico gelernt.
Bianca sprach ebenfalls kein Wort mehr. Sie würdigte mich keines Blickes und kuschelte sich in das Bett ihrer Mutter, so dass nur noch ihr schwarzer Haarschopf unter der Decke hervorlugte.
Maria schmiss eine ihrer Rohypnol-Tabletten ein und spülte sie mit einem Schluck Rotwein hinunter. Schon wieder war ich erschüttert, wie leichtfertig sie das tat – und das sogar vor ihrer Tochter. Ich schüttelte leise für mich den Kopf. Es war echt schwierig, Maria zu durchschauen.
Froh, endlich mal wieder in einem richtigen Bett zu liegen, vergrub ich mich genau wie Bianca tief unter der Decke. Auch das Bett roch nach Parfum und Rosen. Doch irgendwie vermisste ich Nickis Zigarettenmief – das Zeichen seiner Nähe. Ich vermisste seine Arme, die mich umschlangen und an seine Brust drückten, und ich hoffte inständig, dass es ihm einigermaßen gut ging, wo immer er sich nun befand. Polizeiwache, Ausnüchterungszelle oder was auch immer. Und dass er keine Schmerzen hatte und auch keine Alpträume …
Ich war tatsächlich ziemlich schnell eingeschlummert und hätte wohl bis in die Puppen geschlafen, wenn mich nicht das Geräusch eines Wasserkochers aufgeweckt hätte.
Maria stand mit einer Zigarette im Mundwinkel unter dem offenen Fenster und machte Kaffee. Die aufgehende Sonne fiel direkt in ihr Gesicht und offenbarte mit erschreckender Deutlichkeit die Spuren ihrer bewegten Vergangenheit: zu viel Alkohol, durchzechte Nächte und eine «Arbeit», die nicht nur den Körper, sondern auch die Seele zerstörte. So ganz ohne Schminke sah ihre Haut richtig fahl und käsig aus. Überhaupt nicht Lady-Cat-like, sondern eher ziemlich fertig. So, wie ich Maria damals am Gerichtstag von Domenico zum ersten Mal gesehen hatte.
Maria schwieg und schien völlig in Gedanken versunken zu sein, als sie ein bisschen später zum Spiegel ging, um sich zu stylen. Und schon verwandelte sie sich mit wenigen Handgriffen wieder in Lady Cat. Unglaublich, wie viel Make-up, Wangenrouge und Lippenstift ausmachen können. Als sie sich wieder zu mir umdrehte, waren die Schatten unter ihren Augen verschwunden, und ihre Haut wirkte ebenmäßig und frisch, ihre Lippen glänzten.
Sie schlüpfte in ein T-Shirt, das verboten viel Einblick auf ihre Oberweite gestattete, und zog ihre Jeans und ihre Schuhe an. Zum Schluss legte sie ihre vielen Silberketten an, die beim Gehen immer so klimperten.
Inzwischen war auch Bianca aufgestanden und im Bad verschwunden. Als sie wieder herauskam, war sie ziemlich aufgedonnert, trug ebenso viele Ketten wie Maria und hatte sich die Lippen knallrot geschminkt. Mir blieb nichts anderes übrig, als meine verschwitzten Sachen vom Vortag anzuziehen. Verstohlen beobachtete ich, wie Maria einen kleinen Flachmann aus ihrer Handtasche hervorholte und einen Schluck nahm.
«Du nichts sagen Domenico, Mädchen, ja?», bat sie, als sie bemerkte, dass ich ihr zugeschaut hatte. «Du weißt, ich … Probleme mit Trinken. Nicht mehr viel, ja? Nur noch wenig. Nicht mehr wie früher. Aber ein bisschen ich brauche. Aber nicht sagen Domenico, ja?»
Ich nickte. Ich wusste ja noch gar nicht, was mich in Bezug auf Nicki erwartete. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde er sauer sein, dass ich mich auf seine Mutter eingelassen hatte. Vermutlich würde er sich mal wieder für eine Weile zurückziehen und nicht mehr mit mir reden …
Ich lieh mir Marias Bürste und kämmte mein Haar, das ziemlich schlaff und zerdrückt aussah an diesem Morgen. Leider stand ich Bianca gerade im Weg, und sie stieß mich einfach grob zur Seite und warf dabei demonstrativ ihr eigenes, prächtiges Haar zurück.
«Das ist nur Zeitverschwendung», meinte sie frech. «Sieh dich doch an. Ich weiß echt nicht, was mein Bruder an dir findet.»
Ich war drauf und dran, ihr irgendetwas Unfreundliches zu erwidern, hielt mich jedoch zurück. Dafür war Maria umso schneller zur Stelle.
«Vidi comu parli, Bia'! È a picciotta di to' frate, arrangiati! Ormai ci tene e iu ci tenju a me' figghiu», wies sie ihre Tochter scharf zurecht.
Bianca rollte nur mit den Augen. Der gleiche trotzige Ausdruck, den Domenico auch manchmal hatte, erschien auf ihrem Gesicht.
Maria musste mich echt verteidigt haben, denn es schien Bianca gar nicht zu passen, was ihre Mutter da sagte. Sie sah aus, als wollte sie vor Wut losheulen.
Ich setzte mich aufs Bett und wartete, bis Maria und Bianca ihre Sachen zusammengepackt hatten. Offenbar hatten sie schon wieder vor, auszuchecken und weiterzuziehen. Waren sie nur für diese eine Nacht hier gewesen?
«Apposto, jetzt wir hole Domenico aus questura», sagte Maria.
Etwas später machten wir uns – ohne Frühstück – auf direktem Weg zur Polizeiwache auf. Ich sah, dass es erst kurz vor neun war. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass wir so früh aufgestanden waren. Maria steckte sich unterwegs wieder eine Zigarette in den Mundwinkel, während sie ihren Rollkoffer zog. Ich war immer wieder verblüfft über die ziemlich identischen Gesten, die sie und Domenico an den Tag legten. Der Verdacht, dass ihn doch mehr mit seiner Mutter verband, als er zugeben wollte, verstärkte sich wieder einmal mehr …
Obwohl ich mir eingestehen musste, dass ich Maria gar nicht so übel fand, war es mir schon ziemlich peinlich, mit ihr durch die Straßen zu laufen. Zumal ich merkte, wie die Männer ganz unverhohlen auf ihre Figur starrten und dazu ihre anerkennenden Kommentare abgaben. Und so war ich froh, als wir endlich bei der Wache waren.
Scuderi saß immer noch am Empfang und schien äußerst mürrisch zu sein. Vermutlich, weil er immer noch nicht abgelöst worden war. Er sah ziemlich übernächtigt aus. Der Aschenbecher überquoll inzwischen nach allen Seiten. Maria räkelte sich in verführerischer Pose vor Scuderi und achtete ganz eindeutig darauf, dass der Beamte ja genug Überblick auf ihre Oberweite bekam. Nach einer langen Diskussion mit ihm erhielt sie eine Antwort, die sie offenbar zufrieden stellte, während der geplagte Scuderi fast hilflos auf ihren Busen schielte. In Marias Augen blitzte es listig auf. Es sah ganz danach aus, als hätte sie bekommen, was sie wollte.
«Ihr beide warte hier, ich hole meine Junge», wies sie Bianca und mich an. Dabei warf sie ihren Kopf zurück, lachte selbstbewusst und folgte Scuderi mit schwingendem Hintern.
Ich blieb mit Bianca zurück. Die Kleine setzte sich auf ihren Koffer und zückte ihr Handy. Ich war froh, dass sie sich mit sich selbst beschäftigte, und überlegte mir, wo ich meinen Akku wieder aufladen konnte. Ich musste nämlich dringend mal wieder meine Eltern anrufen …
Während ich in Gedanken versunken war, bemerkte ich, wie Bianca ihre stechenden Augen auf mich gerichtet hielt. Es wirkte, als wollte sie mir etwas sagen. Ich hob meinen Kopf, um ihren Blick zu erwidern.
«Ich sage dir nur eins: Tu Domenico nicht weh!», sagte sie.
Ich schaute sie perplex an. Wie bitte?
«Pass einfach auf!», drohte sie.
Ich wollte etwas Passendes erwidern, doch ich wusste, dass es keinen Zweck hatte. Dieses Mädchen war so abgebrüht und eiskalt, und vermutlich hatte sie ihre überlegene Art sogar bei Domenico abgeschaut. Doch auf einmal geschah etwas Merkwürdiges mit mir. Obwohl Bianca mich mit diesen eiskalten Augen anschaute, empfand ich auf einmal tiefes Mitleid mit ihr, fast so, als würde irgendjemand mein Herz anrühren.
Obwohl ich dieses Mädchen manchmal vor Wut am liebsten durchgeschüttelt hätte, sah ich in dem einen Moment all das, was dieses Kind laut Nickis und Frau Galianis Schilderungen durchgemacht hatte. Die Schläge, das Eingesperrtsein im dunklen Keller und die Folgen des vermuteten sexuellen Missbrauchs durch den Stiefvater. Und dazu kam ja noch die Mutter, die auch nicht wirklich für sie hatte da sein können. Und nun lebte sie im Heim und wurde auch dort nur herumgeschoben, weil keiner sie wirklich haben wollte. Sie musste sich vermutlich den ganzen Tag lang anhören, dass sie böse und asozial und eine Plage für die anderen Kinder war. Die einzige wirkliche Zuwendung, die sie wohl je erfahren hatte, war die von ihren Brüdern Nicki und Mingo gewesen …
Irgendwas in meinem Blick musste sie getroffen haben, denn sie senkte auf einmal ihre Augen und spielte wieder mit ihrem Handy. Ein klein wenig wurde wieder von dem Kind sichtbar, das sie eigentlich immer noch war. Für den Rest der Zeit, die wir mit Warten zubrachten, ließ sie mich in Ruhe.
Es dauerte ziemlich lange, bis Maria wieder erschien. Sie lächelte siegesbewusst und zündete sich eine Zigarette an.
Endlich wurde Domenico von Carlo Bonti rausgebracht. Bontis sonst so gutmütiges Gesicht wirkte etwas nervös.
«E vatinne, vá», sagte Bonti und versetzte Domenico einen leichten Stoß in den Rücken. Bonti wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Hemd war nicht richtig zugeknöpft, es sah aus, als hätte er es eben erst angezogen.
«Amunì, Domé», sagte Maria und packte ihren Sohn am Arm. Domenico schüttelte ihre Hand von sich ab. Sein Blick fiel auf mich.
Ich trat zaghaft zu ihm.
«Tut mir leid, Nicki», flüsterte ich vorsichtig. «Ich … stand ganz allein in Catania. Bianca hat mich gefunden. Ich hätte nicht gewusst, was ich sonst tun sollte.»
«Ich weiß», sagte er heiser und suchte in seiner Hosentasche. Er stöhnte, als er nichts fand. Maria reichte ihm wortlos ihre angefangene Zigarette, und er nahm sie, zog ein paarmal daran und gab sie ihr dann wieder zurück. Er sah ziemlich fertig aus, total erschöpft und übernächtigt. Wahrscheinlich hatte er überhaupt nicht geschlafen.
Maria tippte Bonti auf den Arm und deutete unauffällig auf seinen Hemdknopf, der immer noch offen stand. Bonti wurde hochrot und knöpfte sein Hemd zu.
Da dämmerte mir etwas. Bontis aufgeknöpftes Hemd … hatte Maria am Ende etwa ihre «guten Dienste» angeboten, um Bonti und Scuderi zu bestechen? Um Domenico auf diese Art und Weise «freizukaufen»?
Ich war echt schockiert, aber das war nun mal Domenicos Realität, mit der er aufgewachsen war.
Und trotzdem – irgendwas rührte mich an der ganzen Sache. Maria bezahlte auf ihre Art, um Nicki aus dem Knast zu holen. Steckte hinter dem nicht trotz allem ein wenig Liebe für ihren Sohn?
Mehr denn je brannte ich darauf, herauszufinden, was bei der Geburt wirklich passiert war. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass zwischen Maria und Domenico eine Art Versöhnung oder zumindest eine Aussprache zustande kommen würde. Stärker als je zuvor war ich davon überzeugt, dass es eine Menge heilen würde.
Domenico sah mich an und wollte noch etwas sagen, doch im selben Moment schmiegte sich Bianca von der anderen Seite an ihn. Sie klammerte sich richtig an ihm fest. Er drehte sich zu ihr und legte schweigend den Arm um sie. Jetzt trat Maria frontal auf ihn zu und legte ihre Finger um die Tigerzahnkette, die er um seinen Hals trug.
«Domenico», sagte sie leise. «Sta vota, ti vogghiu ajutari veru.» Sie strich zärtlich über den Zahn, und Nicki wehrte sich seltsamerweise nicht mal dagegen. Und er schien auch nicht weglaufen zu wollen. Er stand mit geschlossenen Augen da, ließ sich von seiner Mutter berühren und schob sie dann ganz sachte, aber bestimmt weg.
Ich hätte so viel darum gegeben, ein paar Minütchen mit ihm allein sein zu können. Ich hätte gerne gewusst, wie es ihm ging, wie er sich fühlte und ob er Schmerzen verspürte, ob Fabio ihn verletzt hatte und wie er die Nacht verbracht hatte. Und ob er wütend auf mich war …
Doch es war nicht möglich, ihn all das zu fragen, da Bianca sich wie eine Klette an ihn gehängt hatte.
Maria nahm ihr Gepäck und nickte uns zu. «Viniti.»
«Was machen wir jetzt?», erkundigte ich mich bei ihr.
«Amunì, tu», sagte sie, «alles ist gut bald. Ihr habt … 'e robbe vostre … in Monreale, die Sachen?»
Ich nickte. «Wir haben nur ein paar wenige Klamotten hier.»
«Poi, poi, ihr hole später. Wir habe Bus, halb Elf, amunì!»
«Wohin?»
«Licata.»
Licata? War das nicht der Ort, den Domenico erwähnt hatte? Wollte Maria mit uns zu ihren Verwandten fahren? Aber das lag doch in einer ganz anderen Ecke von Sizilien …
«Wir haben überhaupt kein Geld und auch keine Klamotten zum Wechseln dabei», warf ich ein. Die paar wenigen Sachen, die ich aus Monreale mitgenommen und die Angel mir gegeben hatte, hingen immer noch zum Trocknen in unserer Bude im Keller.
«No, du brauche keine Geld. Ich und Bianca gebe dir alles», sagte sie. «Essen, T-Shirt, Hose, tutt'e cose. Du Mädchen von Domenico, du jetzt auch meine famiglia. Ich habe viel. Komm, schnell mache!»
Ich suchte Domenicos Zustimmung, doch er sah mich nicht mehr an. Er war zu sehr mit seiner kleinen Schwester beschäftigt.
«Veni ccà, Domé», sagte Maria zu ihm, und ihr Tonfall war nun richtig bittend. «Ti fazzu a vvidere tutt'e cose. Ora si sistema tuttu, figghiu mia.» Sie band ihre wilde Mähne mit einem Haarband zusammen und räkelte sich, so dass die Tigerkatze in ihrem Ausschnitt sichtbar wurde. «Viniti!» Sie deutete uns mit einer Handgeste an, ihr zu folgen.
Zögernd gehorchte ich der Aufforderung, mich erneut nach Domenico umdrehend. Er wehrte sich immer noch nicht und ließ mit keiner Miene erkennen, was er dachte. Er ging wie in Trance. Wahrscheinlich kam er im Moment überhaupt nicht klar mit dem, was gerade abging. Das kannte ich ja schon …
Maria ging uns voraus und steuerte einen kleinen Lebensmittelladen an, wo sie ohne lange zu fackeln für uns alle ein paar Sachen einkaufte. Sie drückte Domenico zwei Schachteln Zigaretten in die Hände und steckte den Rest in ihre Tasche. Mir übergab sie eine Tüte voller Lebensmittel.
Dann winkte sie ein Taxi heran.
«Presto!», rief sie uns zu, während wir einstiegen. Ich schaute auf die Uhr: Es war bereits zwanzig nach zehn. Das würde verflixt knapp werden!
Domenico, Bianca und ich kletterten auf den Rücksitz, Domenico in die Mitte. Ich lehnte mich an ihn. Er legte links und rechts seine Arme um mich und Bianca, doch er sagte kein Wort zu uns.
Wir schafften es tatsächlich noch auf den allerletzten Drücker zur Busstation. Maria brüllte den Fahrer an, auf uns zu warten, und hechtete zum Schalter, um Tickets für uns alle zu lösen, während Domenico sich schnell noch eine Kippe reinzog.
Als wir einstiegen, wusste ich bereits, dass ich mit Bianca um den Platz neben Domenico buhlen musste. Doch in solchen Dingen war ich einfach viel zu nett und rücksichtsvoll, und so war es Bianca, die diesen Platz eroberte. Domenico sagte gar nichts dazu. Sie schmiegte sich fest an seine Brust, wie ein kleines Kind, das Schutz bei seinem Vater suchte. Nicki streichelte ihr Haar. Und ich konnte ihr auf einmal gar nicht mehr böse sein, obwohl ich liebend gerne an ihrer Stelle gewesen wäre … Aber sie hatte ja sonst tatsächlich kaum einen anderen Ort, an dem sie Liebe bekam. Und sie sah so glücklich aus in dem Moment … glücklich, dass sie ihren Bruder wiederhatte.
Also setzte ich mich in die Bank hinter Maria auf der anderen Seite des Busses. Sie hatte sich einen schwarzen Spitzenfoulard über die Schultern gelegt, so dass ihre aufreizende Oberweite nicht mehr gleich auf Anhieb sichtbar war.
Der Bus fuhr los. Ich starrte aus dem Fenster, während ich immer noch zu analysieren versuchte, ob Nicki nun sauer auf mich war oder nicht. So ganz genau hatte ich das nämlich noch nicht herausgefunden …
Licata. Domenico hatte gesagt, dass es in der Nähe von Agrigento lag. Wo Agrigento war, wusste ich ganz genau, ich hatte ja die sizilianische Karte in- und auswendig studiert. Aber Licata war mir noch nie aufgefallen.
Also hatte Maria wohl vor, uns zu ihrer Familie zu bringen. Ich würde also vermutlich Domenicos Großeltern und vielleicht auch seine Onkel und Tanten kennenlernen. Und um ehrlich zu sein, fand ich das richtig gut. Mir wäre nur lieber gewesen, wir hätten unsere Sachen dabeigehabt. Und Nicki würde mit mir reden …
Ich schielte während der Fahrt immer zu ihm hin. Bianca kroch fast in ihren großen Bruder hinein, und er liebkoste sie die ganze Zeit. Zwischendurch hob er leicht seinen Kopf und blickte zu mir hinüber. Er wusste ebenso gut wie ich, dass wir keine Chance hatten, miteinander zu reden, solange Bianca an ihm klebte.
Maria saß direkt vor mir, und ihr Parfum kitzelte mich in der Nase. Wenn ich gedanklich nicht mit Domenico oder der Landschaft draußen beschäftigt war, verbrachte ich meine Zeit damit, all die Details an Domenicos Mutter in aller Ruhe zu studieren. Zum Beispiel ihre Hand, die auf der Armlehne lag, mit den sauber gefeilten Fingernägeln und den vielen Silberringen an jedem Finger. Die kräftigen Unterarme und die kleinen, schwarzen Härchen, mit denen sie versehen waren. Die lange, feine Narbe, die sich vom Ellbogen bis hin zum Handgelenk erstreckte. Ich sah diese Hand an und versuchte mir vorzustellen, wie sie damit einst ihre Zwillinge zu erwürgen versucht hatte … Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Es fiel mir so schwer, mir das vor meinen inneren Augen auszumalen … Irgendwie konnte und wollte ich es einfach nicht glauben.
An einer Raststätte auf halber Strecke legte der Busfahrer eine ungefähr zehnminütige Pause ein. Wir stiegen aus, um auf die Toilette zu gehen und uns etwas zu trinken zu kaufen.
Als ich von der Toilette zurückkam, lungerten Maria und Bianca draußen vor der Raststätte herum und streckten ihre Glieder in der frischen Luft, Domenico sah ich nirgends. Maria rauchte eine Zigarette und winkte mich sofort heran, als sie mich erblickte.
«Unn'è Domenico? Hast du gesehen meine Sohn?», stellte sie mir die Frage, die ich mir selber eben gestellt hatte.
Ich schüttelte den Kopf. Es war absolut nichts Neues, dass er sich manchmal klammheimlich verdrückte. Die Frage, die mich beängstigte, war nur, ob er auch wieder auftauchen würde. Vielleicht hatte er genau das geplant: nämlich jetzt klammheimlich zu verschwinden. Das sähe ihm so ähnlich. Ich durfte gar nicht dran denken ...
Wir sahen, wie der Fahrer langsam wieder zum Bus zurückschlenderte. Ich schaute auf die Uhr. Zeit, weiterzufahren ... Allmählich musste Domenico nun wirklich wieder auftauchen. Auch Maria wurde sichtlich nervöser.
Der Fahrer stieg in den Bus, ließ den Motor an und hupte zweimal. Bald schon strömten von überall her die Fahrgäste in Richtung Bus. Nur von Domenico war noch immer keine Spur zu sehen ...
Maria packte mich am Arm.
«Domenico unn'è?», fragte sie abermals.
Als ob ich das gewusst hätte! …
«Madonna!», stöhnte sie. Sie rief dem Fahrer etwas zu und hastete zurück in die Raststätte. Nach ein paar Minuten kam sie wieder zurück. Der Fahrer hupte ungeduldig.
«'Unn'u potti trovari», seufzte sie verzweifelt und brüllte dem Fahrer erneut zu, bitte noch eine kleine Weile zu warten.
Der Fahrer wetterte in allen Tonlagen und kletterte schließlich wieder aus dem Bus. Ich stürmte kurzerhand in die Raststätte zurück, direkt zur Herrentoilette. Wenn Domenico nicht abgehauen war, war dies die einzige Möglichkeit, wo er sich aufhalten konnte. Ich öffnete die Tür, doch der Raum war leer.
Nur eine einzige Kabine war verschlossen.
«Nicki? Bist du da drin?» Meine Stimme hallte von den Wänden wider.
Es blieb ruhig, aber ich fühlte, dass ich nicht allein war.
Ich ging zu der verschlossenen Kabine und hämmerte an die Tür.
«Nicki, komm sofort da raus! Wir fahren weiter!»
Keine Antwort.
«Bitte, Nicki! Sag doch was!» Ich legte mein Ohr an die Tür, doch es blieb still. Mittlerweile war ich felsenfest davon überzeugt, dass er hier drin war, doch was führte er bloß im Schilde?
«Willst du mich einfach alleinlassen?» Ich fürchtete, dass er sich tatsächlich entschieden hatte, da drin zu bleiben, bis der Bus abgefahren war. Und wenn dem so wäre, würde er mich erneut vor eine schwierige Entscheidung stellen ...
Und zwar vor die Entscheidung, ob ich bei ihm bleiben oder mit Maria und Bianca weiterfahren sollte. Ich war mir fast sicher, dass er einen psychotischen Anfall hatte. Ich wusste, dass er so etwas von einem Moment auf den anderen bekommen konnte. Das hatte mir auch der Arzt damals erklärt, als Nicki in der Klinik gewesen war. Und ich wusste, dass ich lernen musste, damit umzugehen. Die Medikamente sollten dies verhindern, aber er hatte sie ja nicht dabei. Und es war so naheliegend, dass die Begegnung mit seiner Mutter etwas in ihm ausgelöst hatte, das er nicht unter Kontrolle bringen konnte.
So ein Mist! Wenn dies wirklich so war, dann brauchte er dringend ärztliche Betreuung und Beruhigungsmittel, die ihn wieder stabilisierten. Und wenn er da nicht bald rauskam, würde der Bus abfahren, und ich stand allein mit meinem durchgeknallten Freund in der sizilianischen Pampa.
Die Tür ging auf, und ein Mann kam herein. Er sah mich befremdet an.
«Scusi …», stammelte ich.
Er betrat die Kabine neben Domenico.
Wieder ging die Tür auf, und dieses Mal war es Maria.
«Hast du gefunden Domenico?»
«Hier drin», sagte ich resigniert.
«C'è de' mòrere!» Maria hämmerte an die Tür. «Domé, amunì! L'autobus … amunì, ca parte!»
Er gab immer noch keine Antwort. Ich hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht. Psychotischer Absturz hin oder her, musste er uns alle wieder in so eine verworrene Situation bringen?
Maria rollte ungeduldig mit den Augen, dann zog sie mich kurzerhand am Arm mit sich. «Veni cu mmia, komm!»
«Aber wir können ihn nicht allein hierlassen!»
Sie schüttelte den Kopf und blinzelte daraufhin verschwörerisch. «E vveni!»
Ich gab jeglichen Widerstand auf und ließ mich von ihr aus der Raststätte und über den Parkplatz ziehen. Der Motor des Busses lief holprig und spuckte immer wieder Rußwolken aus. Der Fahrer schimpfte immer noch in allen Tonlagen und hämmerte auf die Hupe. Ich überlegte ein allerletztes Mal, ob ich nicht doch zu Nicki zurückkehren sollte. Maria hatte offenbar allen Ernstes vor, ihn einfach hier sitzenzulassen.
Doch in dem Moment kam er endlich über den Parkplatz geschlendert. Sein Blick war finster und gesenkt. Der Fahrer gab noch ein letztes Hupkonzert und stieß noch einmal eine Ladung sizilianischer Schimpfwörter aus. Mit regloser Miene stieg Domenico ein und kam zu mir. Er ließ sich neben mich auf den Sitz fallen und legte seinen Kopf an meine Schulter. Ich atmete erleichtert auf. Der Bus machte eine Kehrtwendung und fuhr wieder auf die Straße.
Domenico nahm sachte meine Hand und legte sie auf seine Brust. Zuerst dachte ich, er wolle einfach, dass ich ihn streichelte, doch bald wurde mir klar, dass er mir damit etwas zeigen wollte.
Das Stürmen und Toben seines Herzens kannte ich schon, wenn sein Adrenalinpegel besonders hoch war. Doch dieses Mal fühlte es sich etwas anders an. Es war nicht einfach nur die bloße Aufregung.
Nein, es war Angst. Pure Angst, fast schon Panik. Panik vor dem, was auf ihn zukommen würde. Was er finden würde, dort, wo seine Mutter uns hinführen wollte.
Ich massierte seine Brust, damit er sich ein wenig entspannen konnte, doch all das Erlebte hatte mich richtig müde gemacht. Bald schon schlummerten wir beide aneinandergelehnt ein, doch meine Gedanken arbeiteten die ganze Zeit weiter. Ich wusste, dass wir auf dem Weg zu den tiefsten und verborgensten Erinnerungen von Nickis Herzen waren. Und das, was wir antreffen würden, konnte alles entscheiden. Es konnte ihn heilen, es konnte ihm aber auch alles nehmen, was er sich innerlich aufgebaut hatte. Es konnte ihm sein wahres Gesicht zeigen – entweder, dass seine Traumbilder der Wahrheit entsprachen, oder dass er einfach nur komplett verrückt war.
Und nicht nur er hatte davor Angst ...