Das Wasser war dunkel. Die Schwärze, die Minke umfing, war so unglaublich, so atemberaubend. Sie fühlte die Kälte, die ihr in die Knochen kroch. Ihr Körper sank immer tiefer. Als sie beinahe den Grund erreicht hatte, begann sie, um sich zu schlagen, versuchte, zurück an die Oberfläche zu gelangen. Aber das Wasser war stärker, es hielt sie fest, zog sie immer weiter nach unten. Plötzlich – was war das? Möwen kreischten. Das konnte nicht stimmen. Unter Wasser gab es keine Möwen. Sie waren laut, ganz nah an ihrem Kopf. Minke wedelte mit den Armen, um sie zu vertreiben. Sie traf nur die weiche Bettdecke, und die Möwen kreischten weiter.
Langsam fand sie in die Realität zurück. Schon wieder der Traum, dachte sie. Die Möwen kreischten künstlich aus ihrem Handy. Ihr neuer Klingelton, gestern auf ihrer Einstandsfeier von diesem hübschen Kerl eingestellt, mit dem sie den halben Abend getanzt und geredet hatte. »Wer an die nordfriesische Küste zurückkommt, zu dem passt das«, hatte er gesagt und gegrinst. »Und als Nächstes schenke ich dir einen Leuchtturm als Schlüsselanhänger.«
Sie hatte gelacht. »Ich mag Leuchttürme.«
»Gut, meiner Familie gehört zufällig einer. Ich nehme dich gerne mal mit.«
»Angeber.«
Da waren sie schon draußen vor dem Gasthaus gewesen, verstohlen wie Fünfzehnjährige, damit Minkes übrige Gäste nichts davon mitbekamen, und nachdem sie genug über Leuchttürme geredet hatten, hatten sie sich geküsst. Minke stöhnte. Der Rest des Abends bestand in ihrem Kopf nur noch aus unzusammenhängenden Bildern. »Verdammter Grog«, murmelte sie. Seit vier Jahren hatte sie so einen Abend nicht mehr erlebt. Minkes Kopf brummte, das Möwengekreische zerrte an ihren Nerven. Endlich angelte sie nach ihrem Handy auf dem Nachttisch. Eine unbekannte Nummer wurde auf dem Display angezeigt. Sie nahm ab und hielt sich das Handy ans Ohr.
»Minke van Hoorn?« Sie war selbst überrascht, wie mitgenommen ihre Stimme klang.
»Minke? Du bist doch jetzt unsere Kommissarin, oder?«
»Ja«, murmelte sie, »seit heute.« Sie konnte die Stimme nicht zuordnen.
»Gut, gut … Hier ist Jörg«, der Mann klang aufgeregt, »Jörg Schmidt. Du weißt schon …«
»Der Postbote?«, fragte Minke verwirrt. Jörg Schmidt war, seit sie denken konnte, als Halligpostbote jeden Tag mit seinem kleinen Postboot zwischen Midsand und Nekpen unterwegs, brachte Briefe und Zeitungen und nahm wiederum mit, was die Halligbewohner nicht selbst zur Poststation aufs Jüsteringer Festland bringen wollten. »Was ist denn los?«, hakte Minke nach.
»Ich weiß nicht …«, begann Jörg umständlich. »Ich bin hier auf Nekpen, habe gerade den Johannsens die Post gebracht und wollte dann von dort hinüber zu den Holts gehen. Jedenfalls, während ich so gehe – gestern Nacht war ja ganz schön Wind und die Flut war hoch -«
»Mhm.« Minke ließ sich wieder in ihr Kissen zurückfallen.
»Jedenfalls hat die Flut hier wohl was freigespült.«
»Aha. Und was?« Eine Flaschenpost, eine Coladose, einen Badeschlappen?, dachte sie müde und sarkastisch. Auf Nekpen passierte nie etwas, es gab keinen verschlafeneren Ort an der ganzen nordfriesischen Küste.
»Einen Schädel. Von einem Menschen, falls ich das richtig beurteilen kann.«
Minke saß aufrecht in ihrem Bett.
Nachdem sie sich von Jörg verabschiedet hatte, wählte sie, immer noch im Bett, die Nummer ihres Bruders.
»Du bist schon wach?«, fragte Bo gut gelaunt als Begrüßung. »War gestern nicht dein großer Einstand?«
»Doch. Aber Jörg hat einen Schädel gefunden.«
»Jörg, der Postbote?«
»Ja.« Minke erklärte alles. »Kannst du kommen?«
Bos gute Laune schwand. »Deswegen den ganzen Weg von hier raus nach Nekpen? Kannst du nicht einen anderen anrufen? In der nordfriesischen Küstenprovinz habe ich auch Kollegen.«
»Aber ich frage doch nicht irgendwen, wenn mein Bruder Rechtsmediziner ist. Und du willst sicher nicht, dass irgendjemand etwas übersieht, so einer aus der nordfriesischen Küstenprovinz …« Minke grinste in sich hinein. Sie kannte den Stolz ihres Bruders und seine Abneigung gegen alles, was nicht städtisch war.
Kurz blieb es still.
»Na schön«, brummte Bo.
»Danke, bis später. Und bring Gummistiefel mit, heute Nacht war die Flut hoch und hat alles aufgeweicht.«
Bo hasste Watt und Schlick. Nicht umsonst hatte er sofort nach der Schule die nordfriesische Küste verlassen und hielt Minke für verrückt, weil sie nun freiwillig dorthin zurückgezogen war.
»Scheißnordsee«, sagte er jetzt nur und legte auf.
Minke stand unschlüssig vor ihrem Kleiderschrank mit den Blümchen darauf, den sie schon als Kind kitschig gefunden hatte. Einige davon hatte sie als Teenager mit Filzstift übermalt. Im Schrank stapelten sich ihre Sachen, davon überraschend viele mit Aufschriften wie »Forschungsprojekt Weißer Hai«, »Robbenschutz geht alle an« oder »Gemeinsam für Tiere«. Es wurde Zeit, dass sie sich neue Kleider anschaffte. Neues Leben – neue T-Shirts, dachte Minke. Aber für heute musste sie sich mit dem zufriedengeben, was sie hatte. Sie griff nach einer Jeans und einem neutralen Pullover.
Als sie auf einem Bein hüpfte, um mit dem anderen in die Jeans zu schlüpfen, trat sie auf etwas Gummiartiges. Sie hob es auf. Es war einer dieser Gummitrolle mit neonfarbenen Flammenhaaren, die vor fünfundzwanzig Jahren jedes Kind haben wollte. Minke warf ihn zwischen die Umzugskartons. Nein, sie brauchte nicht zuerst neue T-Shirts, sie brauchte zuerst eine neue Wohnung. Vor zwei Tagen war sie übergangsweise hier in ihr altes Kinderzimmer in ihrem Elternhaus auf Midsand eingezogen, und es ging ihr jetzt schon auf die Nerven. Überall im Zimmer stapelten sich ihre untergestellten Umzugskartons, an den Wänden hingen noch die Poster, die sie als Jugendliche aufgehängt hatte, und auf dem Schreibtisch klebte noch der Stundenplan aus ihrem Abschlussjahr. Neben der Doppelstunde Französisch stand »Igitt«. Hier hatte sich wirklich nichts verändert, seit sie nach dem Abitur ausgezogen war, um Meeresbiologin zu werden. Dazwischen lagen Jahre – in denen sie auf Forschungsschiffen quer über alle Meere unterwegs gewesen war, dann alles hingeschmissen hatte und Polizistin geworden war. Minke bahnte sich einen Weg zwischen den Kartons hindurch, bis sie den Futternapf und das Katzenfutter fand. Sie kippte eine großzügige Portion davon in den Napf. »Victor, wo bist du – es gibt Frühstück!« Ihr Kater lugte misstrauisch hinter einem Umzugskarton hervor, und es dauerte eine Weile, bis er sich traute, auf seinen drei Beinen durch die fremde Umgebung zu seinem Futter zu humpeln. Victor war Minke zu Beginn der Polizeischule zugelaufen und sie hatte ihn aufgepäppelt. Jetzt streichelte sie ihn. »Versprochen – ich suche uns bald etwas Eigenes«, sagte sie.
Im Badezimmer starrte ihr beim Zähneputzen eine Frau aus dem Spiegel entgegen, der man die Feier von gestern Nacht ansah. Minkes von Natur aus hellblonde Haare waren zerzaust, unter ihren Augen lagen tiefe Ringe, die Wimperntusche von gestern war über ihr Gesicht verschmiert. Sie sah genauso aus, wie sie sich fühlte. Widerstrebend klatschte sie sich ein paar Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht und rubbelte mit dem Handtuch nach, bis die Haut rosig wurde. Dann band sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Das musste reichen.
Unten in der Küche saß ihre Mutter am Frühstückstisch und las Zeitung.
»Moin«, murmelte Minke.
»Moin!« Imma sah erstaunt vom »Jüsteringer Küstenboten« auf. Sie war in einen wild gemusterten indischen Kaftan gehüllt und trug ihre typische Frisur – eine Art unordentlicher, grau gewordener Turm. »Schon wach?«
»Ich muss arbeiten.« Minke nahm sich eine Tasse aus dem Regal, dann setzte sie sich zu ihrer Mutter an den Küchentisch. »Auf Nekpen.«
Imma sah sie forschend an. Ihr Therapeutinnengesicht, würde Bo jetzt sagen, die freundlich fragende Miene, die sie für ihre Patienten perfektioniert hatte, die sie im Anbau des Hauses seit Jahren mit Gesprächstherapie, Töpfern, Malen und Klangschalen therapierte. Minke war gegen das Therapeutinnengesicht immun. Sie goss sich wortlos Kaffee ein und löffelte Zucker nach, in der Hoffnung, dass die Mischung aus Koffein und Energie schnell wirken würde.
Schließlich gab Imma vorerst auf. Sie griff nach der Blaubeermarmelade und kleckste sich eine ordentliche Portion auf ihr Brötchen. »Ich gehe später übrigens zu Papas Grab. Ich dachte, du willst vielleicht mitkommen – jetzt, wo du da bist?«
Minke wusste, dass Immas beiläufiger Tonfall gespielt war. Michael van Hoorn war vor vier Jahren bei einem Segelausflug mit Freunden verunglückt. Seitdem war Minke noch nie zu seinem Grab auf den kleinen Midsander Halligfriedhof gegangen; nicht einmal bei seiner Beerdigung war sie gewesen – sehr zum Leidwesen von Imma, die das nicht für gesund hielt.
»Nein, will ich nicht.«
»Minke, ich glaube, es wäre wirklich gut für dich … ein Schritt in die richtige Richtung, Trauerarbeit ist ein Prozess …«, begann Imma die Diskussion, die sie schon oft geführt hatten. »Das Grab zu sehen, vielleicht ein bisschen mit ihm zu reden, das sind alles gesunde Dinge.«
»Mama, ich bin nicht eine deiner Patientinnen.« Minke stand auf und trank ihren Kaffee im Stehen aus. »Ich bin so nicht. Und ich rede auch garantiert nicht mit einem Grabstein.« Sie beugte sich vor und küsste ihre Mutter flüchtig auf die Wange. »Tschüss, ich muss los.«
Im Flur schlüpfte Minke in Gummistiefel und Regenjacke und öffnete dann die Haustür, wobei unvermeidlich eines der vielen Windspiele klimperte, die ihre Mutter im ganzen Haus und im halben Garten aufgehängt hatte. Draußen wehte ein leichter Wind, die salzige Nordseeluft war kühl und klar und der Himmel wolkenlos und hellblau. Ein perfekter Halligmorgen. Minke atmete tief durch. Hallig Midsand, wo sie aufgewachsen war, lag still und friedlich vor ihr. Minke sah von einer Warft zur anderen. Midsand bestand aus insgesamt fünf Warften, große, aufgeschüttete Erdhügel, auf denen die Häuser der Bewohner gebaut worden waren, um sie vor Überflutung zu schützen. Die Warften bildeten einen großzügigen Ring um eine ausgedehnte Wiesenfläche, die viel niedriger lag als die Warften und bei Landunter immer sofort überflutet wurde. Minke fand, dass die Markuswarft, auf der ihr Elternhaus stand, die schönste der Midsander Warften war. Hier gab es sieben Wohnhäuser, den kleinen Halligladen und den »Halligprinzen«, das einzige Gasthaus der Hallig. Dort hatte sie in der Nacht noch gefeiert. Außerdem lag auf der Markuswarft der Fething, der frühere Süßwasserspeicher aus den Zeiten, in denen es noch keine Wasserleitungen auf der Hallig gegeben hatte. Im Fething war damals das Regenwasser für ganz Midsand gesammelt worden, heute paddelten darauf ein paar Schwäne und Enten, und am Ufer standen zwei Sitzbänke, stolz aufgestellt, als Midsand vor ein paar Jahren den Wettbewerb »Schönste Hallig Nordfrieslands« gewonnen hatte.
Neben der Markuswarft lag die Stinewarft mit fünf Wohnhäusern, dann kam die Südwarft mit der Jugendherberge von Midsand, die im Sommer immer voll belegt war. Auf der Ostseite der Hallig, in Richtung Küste, lag die kleine Kirchenwarft mit der schiefen alten Halligkirche, dem kleinen Friedhof und dem Pfarrhaus. Noch kleiner war bloß die Frankwarft im Norden von Midsand. Auf ihr lebte nur eine Familie, die Franks, die den einzigen Bauernhof auf Midsand betrieben. Die dazugehörigen Schafe und zotteligen Gallowayrinder bevölkerten im Frühjahr und Sommer die Halligwiese.
Midsand lag still da, es war noch früh. Eine einsame Möwe kreischte über Minke am Morgenhimmel, eine Ente schnatterte auf dem Fething, mehr Bewegung gab es noch nicht. Alle saßen noch an den Frühstückstischen. Minke ging die Warft hinunter zum Wasser; dort wartete das Polizeiboot, ihr neues Dienstfahrzeug, das sie gestern Abend dort angelegt hatte. Die Nordsee war von der stürmischen Nacht aufgewühlt, das Wasser sandig braun. Die Ebbe hatte eingesetzt, in ein paar Stunden würde hier nichts als Watt sein, so weit das Auge reichte, sodass man zu Fuß zwischen den Halligen und Jüstering unterwegs sein konnte. Minke sah hinüber zur Küste. Jüstering lag in der Morgensonne, der flache Sandstrand, der im Sommer voller Badegäste war, war jetzt leer. Im Süden zog sich der Strand breit die Küste entlang, im Norden wurde er schmaler. Majestätisch erhoben sich die Steilklippen in der Sonne. Ganz am Ende der Klippen im Norden ging der Strand schließlich in Felsen über. Dort stand auf einer kleinen Felseninsel das Wahrzeichen der Stadt: ein kleiner, uralter Leuchtturm, nicht weiß-rot, sondern noch in Backstein gemauert, mit einer weißen Laterne auf der Spitze. Dieser Blick: der Leuchtturm, die Klippen, der Strand, die Nordsee … und das alte Küstenstädtchen war ein beliebtes Fotomotiv. In den Jüsteringer Postkartenständern wurde es in unendlich vielen Varianten angeboten. »Nordfriesische Grüße aus Jüstering und von den Halligen«.
Minke wandte sich von dem malerischen Anblick ab und steuerte in Richtung Nekpen. Die kleine Schwester von Midsand lag ein wenig weiter draußen in der Nordsee. Früher einmal hatten die beiden Halligen zusammengehört, später hatte eine schwere Sturmflut ein Stückchen von Midsand abgetrennt und Hallig Nekpen geformt. So hatte Minke es jedenfalls im Erdkundeunterricht gelernt; als Kind hatte sie sich viel lieber vorgestellt, dass der berühmte nordfriesische Wassermann Ekke Nekkepenn ein Stück von Midsand abgebissen hätte. Weil es ihm nicht schmeckte, hatte er es in Minkes Fantasie gleich wieder ausgespuckt und die Midsander hatten es nach ihm benannt.
Minke hielt ihr Gesicht in den Fahrtwind. Die Gischt legte winzige Tröpfchen Meerwasser auf ihr Gesicht und vertrieb ihren Katerkopfschmerz. Für ihren Geschmack war die Fahrt beinahe zu kurz; bald schon lenkte sie das Boot an die betonierte Halligkante von Nekpen heran. Der Beton war nötig, um Nekpen davor zu bewahren, durch die Gezeiten immer weiter zu schrumpfen. Als Minke den Fuß auf den aufgeweichten Halligboden jenseits des Betons setzte, schien er nachzugeben, jeder Schritt hinterließ nasse Fußspuren im Gras. Sie stapfte an der Johannsenwarft vorbei zur flachen Halligwiese von Nekpen. Schon von Weitem winkte der Postbote ihr zu. »Moin Minke«, rief er erleichtert, »gut, dass du da bist! Lange hätte ich hier neben dem Burschen nicht mehr allein herumstehen wollen.« Er wandte den Kopf und zeigte auf eine Stelle in der Halligwiese. »Dort drüben ist er. Es ist schon ein bisschen unheimlich.«
Minke ging auf das Etwas zu, das dort halb in der Marsch steckte. Sie bückte sich hinunter, um es besser sehen zu können. Tatsächlich – es war ein Schädel. Die Augenhöhlen waren halb mit dem dunkelbraunen Marschboden gefüllt, sodass es wirkte, als würde er sie ansehen. Der Kiefer steckte noch halb im Boden, nur die obere Zahnreihe war zu sehen. Sehr schöne Zähne, dachte Minke. Und eindeutig menschlich.
Jörg, der nun, wo er nicht mehr alleine war, offensichtlich mutiger wurde, trat hinter sie. »Und?«, fragte er.
»Du hast recht, das ist ein Schädel. Es war richtig, dass du mich angerufen hast.«
Jörg starrte auf das, was dort in der Erde steckte. Er schüttelte sich. »Es sieht grausig aus«, sagte er. »Was glaubst du, wer ihn dort vergraben hat?«
Minke wusste noch nicht, ob der Schädel überhaupt etwas zu bedeuten hatte. Vielleicht war er viel eher etwas für das Museum als für die Polizei – ein Matrose, jemand, der vor hundert Jahren hier gelebt hatte … Sie sah sich um. Der alte rote Backsteinbau auf der Johannsenwarft lag friedlich im Morgenlicht. Im Norden stand das stolze weiße Friesenhaus der Holts, der alten Deichgrafenfamilie. Der Fundort des Schädels befand sich ungefähr in der Mitte zwischen den beiden Häusern. Jörg sah sie mit gespannt aufgerissenen Augen an. Sie beschloss, ihm etwas zu bieten. »Na ja«, sagte sie mit Grabesstimme, »viel Auswahl gibt es hier ja nicht.«
Jörg schnappte entsetzt nach Luft.
Bo schlängelte sich schlecht gelaunt durch den morgendlichen Verkehr aus dem Stadtgebiet hinaus in Richtung Autobahnkreuz. Der Weg, der vor ihm lag, war umständlich: zuerst an die Küste nach Jüstering und von dort aus mit dem Boot nach Nekpen. Oder – wenn er Pech hatte – zu Fuß über das Watt. Nur im Sommer fuhr bei Ebbe ab und zu für die Touristen ein Pferdefuhrwerk durchs Watt, oder es gab Ponyreiten über den graubraunen Schlick. Aber es war nicht mehr Sommer. Bo war es schon als Kind auf die Nerven gegangen, ständig davon abhängig zu sein, ob die Nordsee gerade mit Wasser gefüllt war oder nicht. Jetzt rechnete er nach. Wenn dort draußen wirklich ein ganzes Skelett lag, dann würde er – auch mit Unterstützung der Spurensicherung, die er vorsichtshalber verständigt hatte – viele Stunden brauchen, um jeden Knochen zu bergen. Anschließend dann mit der Leiche zurück an Land und von dort aus ins Rechtsmedizinische Institut … Er überschlug die Fahrtdauer, und ihm wurde klar, dass er seine Theaterkarten für heute Abend vergessen konnte. Und alles nur, weil meine Schwester nicht einfach Robbenstreichlerin und Haizählerin bleiben konnte, dachte er säuerlich. Minke war begeisterte Meeresbiologin gewesen; schon als Kind hatte sie sich lieber mit Tieren als mit anderen Kindern abgegeben und niemals Angst vor dem Wasser gehabt, egal wie hoch die Wellen waren. Darum hatte es alle so überrascht, als sie ihren Beruf nach Michaels Tod hingeschmissen hatte. Normale Leute trauerten, indem sie schwarze Kleider anzogen, weinten und Blumen am Grab niederlegten. Minke tat nichts von alledem, dafür hatte sie sich in den Kopf gesetzt, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Michael van Hoorn war fünfundzwanzig Jahre lang der Kommissar von Jüstering gewesen – und ein sehr erfolgreicher noch dazu.
Bo hatte das Autobahnkreuz erreicht und fuhr in Richtung Küste. Er schaltete das Radio ein. »Moin, wunderschönes Friesland«, jubilierte der Sprecher. Bo verdrehte die Augen. Auch diesen Friesenpatriotismus hatte er noch nie verstanden. Seine Eltern hatten ihren Kindern ja unbedingt traditionelle nordfriesische Namen geben müssen. Er war Eibo getauft worden, nach einem seiner Urgroßväter. Als Kind hatte er seine Freunde beneidet, wenn sie im Kunstunterricht »Florian«, »Sebastian« oder »Marc« unter ihre Kartoffeldrucke kritzeln konnten – und früh dafür gesorgt, dass ihn jeder Bo nannte.
Im Radio kam nun die Wettervorhersage. »Es sieht nicht gut aus, liebe Nordfriesen«, sagte die Sprecherin. »Vor Island hat sich eine Sturmfront gebildet, die Kurs auf unsere Küste nimmt. Die Meteorologen erwarten ihre Ankunft in den nächsten Tagen; Orkanstärke ist wahrscheinlich. Die Sturmsaison beginnt in diesem Jahr also ungewöhnlich früh. Decken Sie sich mit allem Nötigen ein, und rechnen Sie auf den Halligen mit Landunter.«
Ein unpassend sorgloser Jingle wurde eingespielt, dann sagte eine Stimme: »Und nun ein bisschen Morgenmusik.« Bo schaltete das Radio aus, als die ersten Klänge von »Cheri Cheri Lady« einsetzten.
Esther Johannsen wachte an diesem Morgen auf und fühlte sich wie gerädert. Die ganze Nacht hatte der Wind ums Haus auf der Johannsenwarft gepfiffen, und sie war deswegen ständig aufgewacht. Irgendwann war sie in die Küche gegangen und hatte sich eine heiße Milch mit Honig gemacht, aber auch das hatte nichts genützt. Erst als es draußen schon dämmerte, war sie endlich eingenickt. Ein Blick auf den Wecker sagte ihr, dass sie nur zwei Stunden geschlafen hatte. Im Haus war es vollkommen still. Linda, die mit ihrer Familie seit ein paar Jahren im oberen Stockwerk wohnte, war mit ihrem Mann und ihrer Tochter übers Wochenende zu den Schwiegereltern an die Ostsee gefahren.
Esther stand auf und ging ins Badezimmer. Dort ließ sie heißes Wasser in die Badewanne einlaufen und gab das Badesalz mit Lavendelduft dazu, das Linda ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Als die Wanne voll mit warmem Wasser und duftendem Schaum war, schlüpfte sie aus ihrem Nachthemd. Bevor sie in die Wanne stieg, fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild, nackt, wie sie war. Sie sah sich selten so an, und niemand sonst sah sie so – sie hatte seit Langem keinen Mann mehr. Ihre Figur war immer noch gut; die meisten Frauen in ihrem Alter hatten keine Taille mehr, waren mollig und schlaff geworden, aber sie nicht. Wenig essen, wenig Fett, wenig Zucker, diese Regeln waren ihr in den vielen Jahrzehnten in Fleisch und Blut übergegangen, sie beachtete sie streng, ließ sich nie gehen. Im Herbst und Winter fuhr sie einmal in der Woche hinüber nach Jüstering in das kleine Hallenbad und schwamm dort eine Stunde; im Sommer ging sie in der Nordsee schwimmen. Ihre Haare färbte sie braun und achtete darauf, dass nie ein Ansatz zu sehen war. Nur die Falten um ihre Augen und den Mund verrieten, wie alt sie wirklich war.
Esther tauchte einen Fuß ins Badewasser. Die Wärme entspannte sie sofort. Bald lag sie zufrieden in der Wanne und dachte über den Tag nach, der vor ihr lag. Es war ein Montag. Montags saugte sie gewöhnlich Staub, bezahlte anfallende Rechnungen, und abends leitete sie die Kirchenchorprobe drüben in der kleinen Midsander Halligkirche.
Esther schloss die Augen und sank etwas tiefer in das warme Wasser. Noch einmal ging sie alle Schritte des vor ihr liegenden Tages durch. Ja, es würde ein ganz normaler Montag werden.
»Also, was denkst du?« Minke sah ihren Bruder an, der mit für Anlass und Umgebung völlig unpassenden kalbsledernen Herrenschuhen und in einem safranfarbenen Kaschmirmantel neben ihr auf der Halligwiese vor dem Schädel stand und sich fortwährend Schlick von den Schuhen putzte.
Um sie herum liefen einige Leute der Spurensicherung in weißen Schutzanzügen über die Wiese und bereiteten sich darauf vor, die Knochen zu bergen, die da noch unter Gras und Erde stecken mochten.
»Na ja – ein Mensch«, Bo wischte sich schon wieder mit einem frischen Taschentuch über die Schuhspitze. »Tot. Mehr weiß ich nicht.«
»Was ist mit diesem Loch im Schädel?« Minke deutete auf die tiefe Einkerbung am Oberkopf. »Ist das die Todesursache, oder könnte das auch irgendwann im Nachhinein geschehen sein?«
»Du meinst, als ihm eine Möwe posthum den Schädel aufhackte – wie das ja ständig vorkommt?«
Minke verdrehte nur die Augen.
Bo grinste und besah sich nun das Schädeldach genauer. »Spontan würde ich sagen: Das ist die Todesursache. Aber ich muss das alles erst genauer untersuchen.«
Gerade begann die Spurensicherung damit, das Gelände um den Schädel herum abzusperren. Das gelbe Absperrband flatterte hörbar im Wind.
»Du hast ›er‹ gesagt. Glaubst du, es war ein Mann?«, fragte Minke.
Bo legte den Kopf schief und starrte den Schädel an, der seinerseits zurückzustarren schien. »Ich muss warten, ob wir einen Beckenknochen finden, aber er hat ausgeprägte Augenwülste, das spricht für einen Mann.«
Minke musterte ihren Zwillingsbruder. »Seltsam, dass wir jetzt Kollegen sind, findest du nicht?«
»Furchtbar seltsam. Könntest du nicht doch wieder Sender auf Fische kleben? Dann wäre meine Welt wieder in Ordnung.«
Minke knuffte ihn in die Seite.
In diesem Moment nahm sie eine Bewegung auf der Johannsenwarft wahr. Sie sah hinüber. Dort stand eine Frau im Bademantel. Zuerst regungslos, dann setzte sie sich in Bewegung und kam auf sie zu.
»Ich glaube, ich rede besser mal mit ihr«, sagte Minke. Bo nickte und begann dann damit, den Schädel freizulegen.
Esther Johannsen trug Gummistiefel, die einen deutlichen Kontrast zu ihrem fliederfarbenen Bademantel bildeten. Ihre Haare wurden von einer großen Klammer am Hinterkopf zusammengehalten. Selbst so sah sie noch wie aus dem Ei gepellt aus.
»Was ist denn passiert?«, rief sie, als sie in Hörweite von Minke angekommen war. Sie kannten sich, so wie sich alle Bewohner der beiden Halligen irgendwie kannten.
»Minke«, Esther hatte sie inzwischen erreicht und stand vor ihr. Minke nahm einen dezenten Duft von Lavendel wahr. »Was ist denn da drüben los?« Esther wirkte verschreckt.
»Ich weiß noch nichts Genaues«, beschwichtigte Minke. »Der Postbote hat einen Schädel gefunden.«
Esther sah sie einen Moment ungläubig an, dann schlug sie die Hand vor den Mund. »Oh Gott, wie grauenvoll.« Sie sah hinüber zu den Leuten von der Spurensicherung, die gerade damit beschäftigt waren, ihre Werkzeuge auszupacken. »Linda wird auch erschrecken, wenn sie nach Hause kommt und das sieht.«
Minke beschloss, das nicht zu kommentieren. Linda, Esthers Tochter, hatte ihr vor vielen Jahren einmal Nachhilfe gegeben. Sie war eine robuste Frau, die nicht den Eindruck machte, leicht zu erschrecken zu sein.
»Und Emily erst …«, murmelte Esther.
Minke erinnerte sich vage an Lindas Tochter. Sie kannte sie nur als kleines Mädchen, inzwischen musste sie ein Teenager sein. »Linda und Felix waren mit Emily übers Wochenende auf Sylt, weißt du«, schob Esther nach. Immer noch war ihr Blick wie gebannt auf die Stelle auf der Halligwiese gerichtet. Dann straffte sie sich. »Minke, darf ich wieder reingehen? Mir ist kalt und ich habe zu tun.«
»Natürlich«, Minke lächelte ihr aufmunternd zu. »Und mach dir keine Sorgen, bestimmt ist es ein Fall fürs Museum.«
Esther lächelte erleichtert zurück. »Richtig, das kann natürlich sein.« Sie drehte sich um und ging zu ihrem Haus zurück. Ihre Schritte erzeugten in der nassen Wiese ein schmatzendes Geräusch.
Geert Lütz öffnete die winzige Bankfiliale von Midsand an diesem Morgen ein wenig später als sonst. Er hatte die Zeit zuvor damit vertrödelt, zu frühstücken, die Ergebnisse von ein paar Pferdewetten zu googeln und mit seiner Frau darüber zu diskutieren, wohin sie im nächsten Sommer in den Urlaub fahren könnten.
»Wenn schon England, dann zum Pferderennen, damit ich auch was davon habe«, hatte er gesagt.
»Du immer mit deinen Pferderennen«, hatte Ruth geantwortet. »Ich will eine hübsche kleine Pension, Tea Time, Spaziergänge, kleine Dörfchen …«
Geert hatte geseufzt. Seine Frau war eine glühende Verehrerin von Rosamunde Pilcher und ähnlichen Liebesromanen, und ihre Reisevorstellungen entsprachen diesen kitschigen Welten, in denen sie so gerne versank.
»Nein, Ruth, nicht schon wieder«, hatte er darum am Frühstückstisch dagegengehalten. »Dann lieber richtig in den Süden. Mallorca – zwei Wochen all inclusive, Pool, kühles Bier und in Badeschlappen zum Abendessen.« Schon als er es ausgesprochen hatte, wusste er, dass Ruth dagegen sein würde. Sie hatte ihn entsetzt angesehen: »Es fehlt gerade noch, dass du einen Eimer Sangria und einen langen Strohhalm willst, Geert.«
Schließlich waren sie ohne Einigung auseinandergegangen, und so kam es, dass Geert nun eine Viertelstunde zu spät die winzige Bankfiliale aufschloss, die er nun schon seit beinahe vierzig Jahren als einziger Mitarbeiter auf Midsand betreute.
Die Halligbank bestand nur aus einem einzigen Raum, einem Safe, einem Tisch und einem etwas altersschwachen Computer. Geerts Arbeit dort war eher beschaulich, auf einer Hallig gab es wenige Kunden, aber Geert machte das nichts aus. Schon als junger Mann hatte er etwas gefunden, womit er seinen Alltag trotzdem aufregend gestalten konnte: Pferderennen. Er kannte sich aus, wettete auf alles und verlor meistens – wobei er stets alles daransetzte, dass Ruth nie etwas von diesen Verlusten erfuhr. Sie hielten ihn außerdem nicht davon ab, immer weiterzuwetten.
Geert schloss die Tür mit der Aufschrift »Jüsteringer Bank-Dependance Midsand« auf und knipste die hässliche Neonlampe an der Decke des Büros an. Das Zimmer hatte einen ganz eigenen Geruch, den er in all den Jahren nicht wirklich zu benennen geschafft hatte. Es roch nach dem alten braunen Teppichboden, ein bisschen staubig, ein bisschen nach Heizungsluft und ein bisschen nach der Erde der Topfpflanzen, die auf Ruths Betreiben hin in dem Büro verteilt waren.
Ein Kalender mit rotem Schiebefenster hing an der Wand hinter Geerts Schreibtisch. Es stand noch auf dem letzten Monat; er hatte bisher vergessen, es zu ändern. Das Foto des Monats zeigte eine Landschaft in Griechenland. Griechenland, dachte Geert plötzlich, dahin könnte man auch fahren. Klingt vielleicht romantischer als Mallorca. Romantik war seiner Frau doch so wichtig, wichtiger als alles andere. Er nahm sich vor, es ihr am Abend vorzuschlagen.
Aber zuerst lag ein weiterer Tag an seinem Schreibtisch vor ihm. Er setzte sich und nahm die Brotbüchse, die Ruth ihm jeden Morgen liebevoll füllte, heraus. Er hatte zwar gerade erst gefrühstückt, aber das war ihm egal. Während er in ein Käsebrot biss, sah er durch die Fensterscheiben hinaus auf die Hallig. Die Morgensonne schien, der Morgen war ruhig, die Wege, die sich über Midsand zogen, menschenleer und das Meer dahinter glatt. Arne stapfte gerade über die Halligwiese, um nach seinen Kühen zu sehen, sonst war niemand unterwegs. Geert wusste, dass er nicht allzu bald mit Kundschaft rechnen musste, er hatte Zeit. Also kramte er Wetttabellen hervor. Schnell war er in Träumen darüber versunken, welche großen Summen er bald gewinnen würde.
Im Gegensatz zu seiner Nachbarin Esther Johannsen machte Jasper Holt keine Anstalten, auf Minke zuzugehen, um zu erfahren, was auf der Halligwiese vor sich ging. Er wartete, bis Minke zu ihm kam. Jasper stammte aus der alten, wichtigen Familie der Holts, über Jahrhunderte hatten seine Ahnen als Deichgrafen maßgeblich die Geschicke der beiden Halligen und Jüsterings gelenkt, er selbst war der letzte Deichgraf von Jüstering gewesen – er hatte seinen Stolz. So saß er ruhig an die Hauswand gelehnt auf der schmalen Holzbank in der Herbstsonne, über ihm der hohe Giebel seines Hauses mit dem kreisrunden Bullaugenfenster darin und dem überstehenden Reetdach, das das Haus ein wenig an einen Zyklopen mit Ponyfrisur erinnern ließ, und wartete. Über der alten, blau lackierten Haustür mit dem mächtigen metallenen Türklopfer hing das Wappen der Deichgrafen Holt: ein goldener Fisch auf blauem Grund, darum Schnörkel und die gemeißelte Jahreszahl 1703. Während Minke auf ihn zuging, dachte sie, dass es schwer zu entscheiden war, wer mehr Selbstbewusstsein ausstrahlte: der große weiße Friesenhof mit dem prächtigen alten Wappen oder der alte Deichgraf selbst in Wachsjacke und mit Hut, der ihr mit unbewegter Miene entgegensah. Ein alter knorriger Birnbaum stand vor dem Deichgrafenhaus und wirkte wie ein Wächter der Warft.
»Moin, Herr Holt.«
»Moin, Lütte«, antwortete Jasper mit knarrender Altmännerstimme. »Du bist doch die Kleine von Imma und Michael, stimmt‘s? An dich kann ich mich noch erinnern, als du so klein warst.« Er zeigte mit der Hand etwa Zwergengröße. »Hast dich ganz schön verändert.«
Von Jasper konnte man das nicht behaupten, dachte Minke. Er war in ihren Augen schon immer alt gewesen; hochgewachsen mit schneeweißen Haaren und meerblauen Augen, die ziemlich viel Intelligenz ausstrahlten. Ein Deichgraf, wie man ihn sich vorstellte, auch wenn Jüstering das altehrwürdige Amt als letzte der nordfriesischen Provinzen irgendwann Anfang der Neunziger auch endlich abgeschafft hatte – belächelt vom Rest Schleswig-Holsteins, der fand, dass es schon längst wie aus der Zeit gefallen war.
»Ich bin jetzt Kommissarin«, antwortete Minke. »Ganz neu – das ist mein erster Tag.«
»Aha.«
Minke wandte sich hinüber zur Halligwiese, wo die Leute von der Spurensicherung inzwischen wie kleine weiße Gespenster über das Grün wanderten; Bos gelber Mantel leuchtete in der Sonne.
»Der Postbote hat ein Skelett dort gefunden, das wir jetzt bergen«, erklärte sie. »Ich wollte Sie nur darüber informieren.«
»Ein Skelett?« Die wasserblauen Augen blickten milde interessiert. »Ein alter Wikinger vielleicht?«
»Vielleicht. Ich weiß noch nichts Genaueres.«
»Papa, wo soll ich mit den Fischen hin?«, fragte in diesem Moment eine Stimme, die Minke bekannt vorkam. Sie und Jasper drehten sich gleichzeitig um. Im Türrahmen eines der alten Wirtschaftsgebäude stand ein groß gewachsener Mann, dunkelblond mit attraktivem Gesicht und breiten Schultern. Er trug einen Norwegerpullover und darüber eine Anglerhose. Selbst in diesem Aufzug sah er gut aus. Als er Minke erkannte, lächelte er. »Oh, hallo«, sagte er, »wir haben uns ja erst gestern Nacht gesehen.«
Minke schwieg. Er war es gewesen, den sie hinter dem »Halligprinzen« geküsst hatte; David Holt, der Sohn des Deichgrafen. Er war ihr gestern gleich aufgefallen. Seit vier Jahren interessierte sie sich kaum für etwas – das hatte Männer mit eingeschlossen. Seltsam, dass es bei David plötzlich anders war.
»Guck, Lütte, wir waren schon heute früh morgens Kabeljau angeln«, sagte Jasper in diesem Moment gut gelaunt und beendete damit das gespannte Schweigen. »Kabeljau beißt am besten, wenn es kalt und dunkel ist, wusstest du das?« Tatsächlich lagen in einem Eimer neben ihm drei sehr schöne Fische.
Der alte Deichgraf sah seinen Sohn an. »Nimmst du sie für mich aus, bevor du fährst?«
»Okay.« David nickte. Er sah wieder zu Minke hinüber. »Ist es bloß ein verrückter Zufall, dass du hier bist? Zuerst sehen wir uns ewig nicht und jetzt zweimal hintereinander.«
»Auf der Halligwiese wurde ein Schädel gefunden.«
»Oh. Deshalb der Menschenauflauf – für Nekpener Verhältnisse«, David sah hinüber zu der Fundstelle.
»Vielleicht ein Wikinger«, sagte Jasper noch einmal. »Aber das wissen wir noch nicht.«
»Na dann …«, David lächelte Minke noch einmal an, drehte sich dann um und verschwand im Schuppen. Sie sah ihm nach.
»Wie steht‘s, Lütte?«, riss der Deichgraf sie aus ihren Gedanken. »Willst du vielleicht eine Birne für auf den Weg? Die sind gerade reif und wirklich gut.« Er zeigte auf den Baum. Dort hingen zwischen den zart herbstlich verfärbten Blättern gelbe Birnen.
»Nein, danke.«
»Schade. Ich hätte dir eine gegeben.« Er lächelte. »Herr Ribbeck auf Ribbeck im Havelland …«
» … ein Birnbaum in seinem Garten stand«, ergänzte Minke das einzige Gedicht, das sie noch aus der Schule kannte.
Er zwinkerte ihr zu. »Genau.«
Bo verpackte einen weiteren Knochen in einer Plastiktüte, auf der »Spurensicherung« stand. Jeder einzelne dieser Knochen musste nummeriert und sortiert werden, damit er später in der Rechtsmedizin nicht zu lange würde puzzeln müssen.
Minke sah ihm dabei zu. Die Knochen waren nicht weiß, sondern von der langen Zeit in der Erde bräunlich verfärbt. An manchen hing noch ein bisschen Gras, das Bo mit spitzen behandschuhten Fingern entfernte.
»Der Deichgraf meint, es ist ein Wikinger«, sagte sie schließlich.
»Wikinger gibt es nicht mehr, genauso wenig wie Deichgrafen«, brummte Bo. »Das hat der alte Mann da drüben irgendwie nie begriffen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass er mir mal auf dem Krabbenfest in Jüstering gegenübersaß und mir stundenlang von seinen Vorfahren erzählt hat.« Bo ließ den nächsten Knochen in eine Plastiktüte gleiten und schrieb mit Filzstift eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen darauf.
»Und, könnte es sein?«
»Was meinst du?«
»Könnte es sein, dass es ein alter Wikinger ist? Irgendetwas Archäologisches, nichts für die Polizei?«
Bo zuckte die Achseln. »Das weiß ich noch nicht – Altersbestimmungen dauern ein paar Tage und sind kompliziert. Möglich wäre es. Aber hast du die Bilderbuchzähne gesehen? In historischen Filmen haben sie doch nur noch Stummel im Mund.«
»Okay – sag Bescheid, wenn du ein bisschen handfestere Informationen als Filmklischees hast.« Minke grinste, dann machte sie sich auf den Weg zum Polizeiboot.
Während Esther ihren morgendlichen Kaffee trank – mit fettarmer Milch und Süßstoff -, sah sie immer wieder aus dem Küchenfenster hinüber zur Halligwiese und zu den Leuten von der Spurensicherung, die dort arbeiteten. Sie beobachtete Bo van Hoorn, wie er sich nach etwas bückte und dann einen halbrunden, weißlich-braunen Gegenstand hochhielt. Es dauerte einen Moment, bis sie verstand, dass es der Schädel war. Esther schauderte. Sie sah sich im Fernsehen nicht einmal Krimis an, weil sie ihr zu düster waren, und nun hielt vor ihrem Fenster jemand einen Totenschädel in die Sonne.
Schnell wandte sie sich ab und sah stattdessen zum Kruzifix an der Küchenwand. Es war alt; früher hatte es ihrer Großmutter gehört. Esther sah auf das filigrane Metallkreuz. Als Kind war sie schon mit ihrer Schwester Ruth zusammen in den Kindergottesdienst gegangen und hatte dort Fleißbildchen gesammelt für auswendig gelernte Bibelverse. Kein Kind hatte so viele Fleißbildchen bekommen wie sie. Später, während ihrer Ehe, war sie nur selten in die Kirche gegangen, weil Hinnerk nichts dafür übriggehabt hatte. Esther sprach ein kurzes Gebet; danach fühlte sie sich wie immer ruhiger. Sie wusch die Kaffeetasse ab, wobei sie peinlich genau darauf achtete, nicht noch einmal aus dem Fenster zu sehen. Stattdessen richtete sie ihren Blick auf ihren Garten. Sie liebte ihn; die Herbstastern, die Ranunkeln, die Dahlien, die Rosen – weiter hinten die drei kleinen Apfelbäume, das Gemüsebeet, das jetzt im Herbst beinahe abgeerntet war, und die Kräutertöpfe auf der Terrasse. Esther entschied sich, heute Nachmittag im Garten zu arbeiten. Nachdem sie die Tasse abgespült, abgetrocknet und fein säuberlich ins Regal an ihren Platz zurückgestellt hatte, ging sie hinüber ins Schlafzimmer und zog sich an. Dann ging sie zur Putzkammer im Flur und holte den Staubsauger hervor – egal, was dort draußen auf der Halligwiese vor sich ging, es war immer noch Montag.
Die kleine Küstenstadt Jüstering war im Sommer ein beliebter Urlaubsort. Nicht nur, weil Jüstering am Meer lag und einen weißen, feinen Strandstrand mit Dünen, langem Strandgras und bunt gestreiften Strandkörben besaß, sondern auch, weil die Stadt genau so aussah, wie man es von Nordfriesland erwartete. Es gab einen kleinen Hafen, an dem Krabbenkutter anlegten und jeden Sommer das Jüsteringer Krabbenfest stattfand. Überhaupt gab es viele Feste: das Biikebrennen im Februar, das Deichfest mit dem jährlichen Deichlauf und immer im September die Freilichtaufführung der berühmten nordfriesischen Geschichte vom Schimmelreiter.
Die Altstadt schmückten viele alte Backsteinhäuser mit schönen Giebeln und weiß lackierten Sprossenfenstern, es gab Teestuben und kleine Läden, in deren Schaufenstern alte Steuerräder und Fischernetze als Dekoration dienten, und es gab das Jüsteringer Heimatmuseum, das über die Zeiten informierte, in denen die Stadt noch vom Walfang und vom Handel mit weit entfernten Ländern gelebt hatte.
Minke konnte dem Charme von Jüstering allerdings in diesem Moment nicht viel abgewinnen. Nachdem sie mit dem Polizeiboot von Nekpen aus hinüber zum Festland gefahren war, ratterte sie nun auf dem alten Fahrrad ihrer Mutter über die Kopfsteinpflastergassen in Richtung Polizeistation. Die Polizeiwache Jüstering lag in einer schmalen Straße mit dem klingenden Namen Heringsgasse und war in einem alten Haus untergebracht, das, dem Straßennamen entsprechend, in früheren Zeiten einmal eine Fischhandlung gewesen war.
Minke stieg vom Rad und nahm die paar Stufen zur Eingangstür. Sie zog gerade ihren nagelneuen Türschlüssel, den sie vor zwei Tagen in der Polizeizentrale bekommen hatte, aus ihrer Tasche, als sie stutzte. Die Tür war nur angelehnt. Minke öffnete sie. Schon im Flur war die Schlagermusik, die durch die Wache hallte, ohrenbetäubend. Sie kam aus dem kleineren der beiden Büros, die neben einer kleinen Teeküche und einer winzigen, moosgrün gefliesten Toilette die einzigen Räume der Jüsteringer Polizei bildeten. Minke riss die Tür des Büros auf. Dahinter saß ein dicker Mann mit dunklem Schnauzbart und Halbglatze am Schreibtisch. Er las Zeitung, vor ihm auf dem Tisch stand eine knallrote Kaffeetasse mit dem Aufdruck »Klootschießmeisterschaft 2014, erster Platz«. Während er umblätterte, sang er selbstvergessen mit: » … doch keiner kennt mein Girl in Mendocinooooo«.
»Klaus!«, schrie Minke, um die Musik zu übertönen. Er reagierte nicht, sie schrie noch einmal seinen Namen.
»Oh, hallo Mäuschen«, sagte er. »Stehst du schon lange da?«
Minke ging die paar Schritte zur Musikanlage und schaltete sie aus. »Wir haben Arbeit«, sagte sie. »Auf Nekpen gibt es ein Skelett.«
»Oh nein«, Klaus schlüpfte aus seinen Büropantoffeln und legte demonstrativ die Füße auf den Schreibtisch. »Ich bin ja eigentlich gar nicht mehr im Dienst. Meine Rente beginnt am Samstag, und eigentlich sollte dein neuer Assistent schon hier sein. Ich kann nichts dafür, wenn die Polizeizentrale schlampt.«
»Was soll das heißen? Dass du beabsichtigst, die ganze Woche über gar nichts zu tun?«
»Nein, überhaupt nicht«, Klaus grinste, »ich will meine Party zum Ausstand planen. Das ist eine ganze Menge Arbeit.«
Minke starrte ihn an. Klaus Wagenscheidt war schon der Assistent ihres Vaters gewesen und hatte Michael regelmäßig zur Weißglut getrieben. Er war faul, unzuverlässig, arbeitsscheu – außer wenn es um den Klootschieß-Verein Jüstering ging, dessen Präsident er war. Klootschießen, die uralte nordfriesische Sportart mit einer bleigefüllten Holzkugel, war Klaus‘ Lebensinhalt.
Jetzt tippte er auf einen Zeitungsartikel. »Hast du das gelesen, Mäuschen? Der Bürgermeister will, dass die nächsten Meisterschaften im Klootschießen nicht bei uns, sondern in Husum abgehalten werden. Das ist absurd – die sind die ganzen letzten Jahre bei uns gewesen.«
»Aha.«
»Mäuschen, ›Aha‹ ist da eine viel zu schwache Reaktion.«
»Heißt das also, du willst mir nicht bei den Ermittlungen helfen?«
»Bei deinem alten Schädel? Nein. Wie gesagt, ich muss die Party planen, und offiziell ist seit dieser Woche jemand anderes der Polizeiassistent.« Er lachte röhrend. »Auch wenn er bisher unsichtbar ist.«
Minke drehte sich um und verließ kommentarlos Klaus‘ Büro. »Ach Mäuschen …«, rief er ihr hinterher. »Nicht aufregen, das steht dir nicht.«
Minke warf die Tür ihres Büros hinter sich zu. Einen Augenblick später schallte wieder Schlagermusik durch die Wand. Jetzt war es »Hölle« von Wolfgang Petry.
Minke starrte das an, was eigentlich ihr Büro sein sollte. Es war das ehemalige Büro ihres Vaters, als Kind war sie hier öfter gewesen, um ihn zu besuchen. In den letzten vier Jahren nach seinem Tod war es aber offensichtlich von Klaus zu einer Rumpelkammer umfunktioniert worden. Vor Minke stapelten sich ausrangierte Büromöbel, ein kaputter brauner Plastikpapierkorb, Kisten voller Ordner, sogar ein vertrockneter Ficus stand in der Ecke vor dem Fenster. An den Schreibtisch kam sie so noch nicht einmal ran. Minke schnaubte. Dann krempelte sie die Ärmel hoch.
Nach einer Stunde verbissener Arbeit war das Gröbste geschafft. Minke setzte sich an den Schreibtisch. Sie hob prüfend den Telefonhörer, es war ein Freizeichen zu hören. Sofort wählte sie die Nummer der Polizeizentrale.
»Moin«, sagte eine schläfrige Stimme.
»Moin, Minke van Hoorn hier. Ich will mich erkundigen, wie es mit der Neubesetzung der Assistentenstelle bei mir aussieht. Eigentlich sollte schon jemand hier sein.«
»Hm, Moment.« Der schläfrige Mann schien nicht besonders interessiert. Es dauerte lange, bis er wieder den Hörer aufnahm. »Jüstering ist das, richtig?«
»Ja.«
»Tut mir leid – da gibt es mit der Besetzung Probleme. Wir melden uns bei Ihnen. Allerdings steht hier, dass ein Herr Wagenscheidt bei Notfällen noch einspringen könnte.«
»Der muss Zeitung lesen und Wolfgang Petry hören.«
»Wie bitte?«
»Vergessen Sie es.«
Minke sah sich um. Es war merkwürdig, am Schreibtisch ihres Vaters zu sitzen, ohne ihn. Sie zog die Schubladen auf. Darin befand sich nicht viel – nur ein paar Textmarker und ein ganzer Stapel Haftnotizen, dazu Reißnägel und Büroklammern. Minke nahm die Textmarker heraus, um zu prüfen, ob sie noch malten. Dabei entdeckte sie unter den Stiften einen Zeitungsausschnitt. Imma musste ihn übersehen haben, als sie Michaels persönliche Dinge nach seinem Tod hier abgeholt hatte. Minke zog ihn vorsichtig heraus. Ihr Vater war auf dem Zeitungsfoto zu sehen, am selben Schreibtisch. Minke strich darüber. Die Schlagzeile lautete: »Sherlock Holmes von Nordfriesland – Kommissar Michael van Hoorn hat die höchste Aufklärungsquote im Land.« Minke schluckte. Ihr Vater war tatsächlich sehr gut gewesen; einer, der mit Logik und damit, um die Ecke zu denken, Fälle gelöst hatte, die kein anderer lösen konnte. Die Fußstapfen, in die ich trete, sind ganz schön groß, dachte Minke. Spontan griff sie nach einem Reißnagel, stand auf und heftete den Zeitungsausschnitt an die kahle Wand hinter ihrem Schreibtisch. Dann setzte sie sich wieder und schaltete den Computer an. Er gab allerdings nur ein Piepsen von sich, dann wurde der Bildschirm wieder schwarz.
»Klaus!«, rief sie. »Was ist mit dem Computer los?«
»Ist kaputt«, brüllte Klaus zurück. »Schon ewig.«
Minke schnaubte. Sie rief den Computerservice an, der ihr keine Hoffnungen machte, noch diese Woche bei ihr vorbeizukommen: »Wir haben wirklich viel zu tun – und dann soll ja auch noch dieser Sturm aufziehen …«
Dann saß sie einfach nur so da. Ihr Gesicht spiegelte sich im schwarzen Bildschirm des Computers. »Was als Nächstes?«, murmelte sie. Sie wusste bis jetzt rein gar nichts über das Skelett. Sie wandte sich um und sah zum Foto ihres Vaters. Was hätte der nordfriesische Sherlock Holmes getan?
Kurz darauf stand Minke im alten großen Gewölbekeller unter der Polizeistation. Er war damals, als sich im Haus noch eine Fischhandlung befunden hatte, voller Heringsfässer gewesen, und Minke hatte den Eindruck, die Wände hätten den Geruch gespeichert. Eine der Neonröhren an der Decke flackerte. Die Regalreihen auf beiden Seiten des Kellers waren lang und vollgestopft mit der ganzen Jüsteringer Polizeigeschichte: Kartons voller Akten, Dinge, die irgendwann einmal konfisziert worden waren, vergessene Gegenstände und Sandsäcke für den Fall, dass der Winterdeich eines Tages vielleicht doch einmal brechen und Jüstering wieder ein Hochwasser haben würde.
Minke ging an den Regalreihen entlang und las die Aufschriften auf den Kartons; viele trugen die Handschrift ihres Vaters. Sie waren nach Themen geordnet und mit Jahreszahlen versehen. Dies war tiefste nordfriesische Provinz, Mord und andere schwere Verbrechen geschahen eher selten, das konnte man an der Anzahl der betreffenden Kartons ablesen. Viel öfter ging es um Küstenschutz, Schmuggel über die Nordsee oder um Unfälle mit Schiffen. Es gab einige Kartons voller Akten über Diebstahl, ein paar zu Körperverletzungen und Schlägereien, eine lange Reihe von Ordnern, auf denen jeweils nur »Nachbarschaftsstreitigkeiten« und Jahreszahlen standen.
Erst nach einer Weile fand Minke, was sie gesucht hatte: einen Karton mit der Aufschrift »Vermisstenfälle«. »Nur für den Fall, dass der Tote auf der Hallig kein Wikinger ist«, murmelte sie. Minke zog den Karton aus dem Regal und nahm den Deckel ab. Es waren vielleicht vierzig Akten darin, von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis jetzt. Minke setzte den Deckel wieder auf den Karton und hob ihn an. Er war schwer, aber sie hatte auch keine Lust, nach Klaus zu rufen – abgesehen davon war sie sich sicher, dass er sich sowieso totstellen würde. Also schleppte sie den Karton selbst zum Kellerausgang, knipste das flackernde Neonlicht aus und hievte ihren Fund die steile Kellertreppe hinauf ins Büro.
Zwei Stunden später fragte sie sich, ob sie mit den Aktenstapeln nicht ihre Zeit vergeudete. Die meisten Fälle konnte sie weder ausschließen noch für wahrscheinlich halten, solange sie nicht mehr über das Skelett wusste. So las sie sich ziellos durch die Vermisstenfälle der letzten Jahrzehnte in Jüstering und auf den Halligen.
Als sie die nächste Akte zuklappte und auf ihren wachsenden »Vielleicht«-Stapel legte, streckte Klaus ohne anzuklopfen den Kopf in ihr Büro. Draußen hatte sich die Musik auf Roy Black eingependelt.
»Ich hab mir zu viel Kaffee gemacht und dachte …«, er stellte eine Kaffeetasse mit Sahnehaube auf Minkes Schreibtisch, »Mäuschen nimmt auch einen.«
»Danke. Nenn mich nicht Mäuschen.«
Klaus überhörte das geflissentlich. »Was machst du mit den modrigen Akten?«
»Nachsehen, ob ich auf einen Fall stoße, der vielleicht hinter dem Skelett stecken könnte.«
»Oh Gott, übertreib mal nicht. Das wird irgendein alter Soldat sein, und du machst hier so einen Wind.« Er lachte spöttisch.
Minke griff nach der Kaffeetasse und trank einen Schluck. Sie hätte ihn fast wieder ausgespuckt.
»Klaus! Was ist das?«
»Kaffee.«
»Und was noch?«
»Sahne.«
»Das meine ich nicht.«
»Ach so – Rum.« Er zwinkerte. »Ein klassischer friesischer Pharisäer.«
»Ich bin im Dienst. Und du auch.«
»Mach mal halblang. Du blätterst alte Geschichten durch, und ich lese Zeitung.« Er sah sich um. »Gut, dass du das Büro aufgeräumt hast. Hier drin könnte ich bei meiner Party das Büfett aufstellen. Oder wir machen die Tanzfläche draus, was meinst du?«
»Raus.«
Er ging lachend und zwirbelte seinen Schnurrbart.
Minke kehrte zu den Akten zurück und stieß als Nächstes auf den Fall einer vermissten Frau, die bei einer Wattwanderung verschwunden war. Immer wieder gab es an der Nordsee solche Fälle: Feriengäste, die die Kraft der zurückkommenden Flut unterschätzten, die zu weit ins Watt hinausgingen und dort in die Unterströmungen gerieten. Minke überflog die Unterlagen; davon abgesehen, dass Bo schließlich schon vage auf einen Mann getippt hatte, verrieten ihr die in der Akte notierten Zeiten von Ebbe und Flut am Tag, an dem die Frau verschwunden war, dass sie ziemlich sicher Opfer der Flut geworden und nicht auf Nekpen begraben worden war. Sie klappte die Akte zu und legte sie erleichtert auf den noch sehr überschaubaren »Nein«-Stapel.
Der nächste Fall war der eines Fischers, der nicht mehr von einer Fahrt auf der Nordsee zurückgekommen war. Weder das Boot noch er wurden gefunden. Es war in den Sechzigerjahren passiert; einer von Minkes Vorgängern hatte in steiler Handschrift an den Rand der Vermisstenanzeige »Kommunist? In die DDR abgesetzt?« gekritzelt.
Minke klappte auch diese Akte zu. Sie kam auf den »Vielleicht«-Stapel, auf dem fast alle Fälle bisher gelandet waren.
Irgendwann unterbrach die schrille Klingel der Polizeiwache Minkes Blättern. Draußen stand Bo mit einem großen Karton unter dem Arm. Er grinste. »Schwesterherz! – Der Knochenmann und ich dachten, wir schauen mal in deinem neuen Wirkungskreis vorbei.«
»Ihr seid schon fertig? Da drin ist das ganze Skelett?«
»Jap«, Bo stellte den Karton ab. Die in Plastik verpackten Knochen darin machten scharrende Geräusche. »Die Spurensicherungsleute waren wirklich schnell. Ich bringe ihn jetzt in die Rechtsmedizin und schaue, was ich noch aus ihm rauskriegen kann.«
Er machte eine Pause und seine Miene verriet Minke, dass das noch nicht alles war. Es musste einen triftigeren Grund geben, warum er gekommen war.
»Und was noch?«, fragte sie gedehnt.
Bo hatte offensichtlich nur darauf gewartet. »Drei Kleinigkeiten, die dir helfen könnten«, sagte er betont lässig. »Also erstens – ich habe den Beckenknochen noch nicht vermessen, aber es ist tatsächlich ziemlich sicher ein Mann. Zweitens: Er hatte einen hervorragenden Geschmack, was Schuhe angeht«, Bo zückte sein Handy und zeigte Minke darauf das Foto von einer Art brauner Masse. Als sie ihn fragend ansah, erklärte er: »Seine Schuhe. Handgenähtes Leder, England, wenn mich nicht alles täuscht. Ganz ähnlich wie meine. Er und ich hätten uns viel zu sagen.«
»Aha. Und drittens.«
»Tja, drittens …«, Bo griff in seine Manteltasche und zog eine kleine Plastiktüte heraus. »Den hier hatte er am Ringfinger. Er ist graviert.«
Minke griff nach der Tüte. Darin lag ein goldener Ring. Sie hielt ihn so, dass sie im grellen Bürolicht die feine Gravur auf der Innenseite lesen konnte. »Hinnerk und Esther, 7. August 1972«, las sie laut vor. Sie starrte ihren Bruder an. »Hinnerk?«, flüsterte sie ungläubig.
Inzwischen war auch Klaus aus seinem Büro gekommen und beobachtete, mit seiner Tasse in der Hand und den Büropantoffeln an den Füßen, gleichmütig die Szene. Minke stürzte an ihm vorbei zu ihrem Schreibtisch und griff zielsicher nach einer der Akten, die sie bereits durchgesehen hatte. Damit kehrte sie zu Bo und Klaus zurück und hielt sie ihnen so entgegen, dass sie den Aktendeckel und seine Aufschrift lesen konnten.
»Doktor Hinnerk Johannsen«, stand darauf, »verschwunden 20. Januar 1989.« Quer über das Blatt war mit rotem Filzstift geschrieben: »Boot explodiert, verm. ertrunken.«
»Oh ja«, sagte Klaus leichthin. »Daran kann ich mich erinnern. Da war ich noch jung. Das Boot von diesem Arzt ist komplett verbrannt, bumm! Das muss richtig mit Schmackes gelodert haben.«
Minke ignorierte seinen Einwurf. »Hinnerk Johannsen«, sagte sie. »Der Tote ist Esther Johannsens Ehemann!« Sie hielt den Ring in die Höhe und dachte an die Frau im fliederfarbenen Bademantel, mit der sie heute Morgen noch geredet hatte. »Sie hat die ganzen Jahre fast neben der Leiche ihres Mannes gewohnt?!«
Kurz war alles still.
»Tja«, sagte Bo dann langsam, »eines ist sicher: Ertrunken ist er damals nicht.«
Ruth Lütz saß in ihrer Wohnung vor dem Fernseher. Sie hatte den Halligladen vor einer halben Stunde geschlossen und gab sich nun ihrem Feierabend so hin, wie sie es am liebsten tat. Wohlig saß sie auf dem Sofa in ihrer Wohnung über dem Laden, von der aus man einen schönen Blick über die Hallig und das Watt hatte, über dem sich der Himmel langsam zuzog. Wind war aufgekommen.
Ruth bemerkte beides nicht. Sie hatte eine geblümte Sofadecke um sich gewickelt und hielt eine Schachtel Pralinen auf den Knien. An einer dieser Pralinen knabberte sie, während sie völlig versunken verfolgte, was auf dem Bildschirm passierte.
Im Film ging eine junge Frau gerade in einem weißen Sommerkleid und mit langen, wehenden Haaren an einem englischen Sandstrand spazieren. Die Kameraeinstellung weitete sich, ein Mann kam ins Bild, der neben der Frau ging. Seine Haare fielen in weichen Wellen, und er hatte dieses Grübchen am Kinn, sodass ihn eine geübte Zuschauerin wie Ruth sofort als charmanten Herzensbrecher erkannte.
»Rebecca«, sagte er gerade mit einer tiefen, vollen Stimme, »ich weiß, dass es kein Zufall war, dass wir uns begegnet sind.« Die Frau lächelte nur geheimnisvoll und hielt ihr Gesicht in den Wind. Das Meer hinter ihr glitzerte in der strahlenden Sonne tiefblau.
»Nicht auszudenken, wenn ich an einer anderen kleinen Bäckerei hier in Cornwall angehalten hätte. Dann wären wir uns nie begegnet«, fuhr der Mann, jetzt eindringlicher, fort.
Nun wandte die Frau ihren schwanengleichen Hals endlich zu ihm hin. »Oh Lloyd«, hauchte sie, »es war Schicksal. Dass dein Wagen dann auch noch einen Platten hatte und wir so Zeit bekamen, uns kennenzulernen …«
Der Mann nahm ihre Hand. »Rebecca, du bist die Frau meines Lebens.« Er hauchte ihr einen keuschen Kuss auf die Wange.
»Aber wie sollen wir eine Zukunft haben? Ich habe hier meine Bäckerei, und du bist in London ein erfolgreicher Geschäftsmann«, erwiderte Rebecca leidend, aber dennoch tapfer.
»Liebling, mir ist doch alles Geld gleichgültig, wenn ich nur dich habe. Ich will mit dir zusammenleben, hier«, sein Blick ging schmachtend in die Landschaft, »hier am Meer.«
Er ging vor ihr auf die Knie. Sie wirkte nicht sehr überrascht – aber warum sollte sie auch, in solchen Filmen gab es meistens einen Heiratsantrag.
Die Frau legte ihre Hand anmutig auf ihre Brust. Ruth ahmte unbewusst die Geste nach, während sie sich mit der anderen Hand einen Buttertrüffel in den Mund steckte.
»Willst du mich heiraten?«
»Ja«, schluchzte Rebecca, »ja, das will ich.«
Beide fielen sich in die Arme und küssten sich in Großaufnahme. Ruth seufzte glücklich. In diesem Moment fiel krachend die Wohnungstür ins Schloss. Sie zuckte zusammen.
»Ruth?«, rief Geert.
»Hier – im Wohnzimmer.« Sie griff nach der Fernbedienung und hielt den Film an. Einen Moment später stand ihr Mann in seinem blassbeigen Bankanzug in der Tür. Er warf einen Blick auf den Fernseher mit dem Standbild des sich küssenden Paares. »Na, Schatz, schaust du wieder eine deiner Schnulzen?« Er beugte sich über sie, gab ihr einen Kuss. »Eines Tages überzuckerst du noch davon.« Er bediente sich an der Pralinenschachtel. Dann ließ er sich in den Sessel neben ihr fallen. Er stopfte sich die Praline mit Schwung in den Mund. Banause, dachte Ruth. Teure Pralinen waren an Geert nur verschwendet.
»Wie war dein Tag?«, fragte er und patschte mit seiner Hand auf ihr Knie.
»Es soll in den nächsten Tagen Sturm geben«, antwortete sie. »Ich habe deshalb Sandsäcke und Dosensuppen bestellt. Das kaufen die Leute immer, wenn Sturmwarnung ist.«
Sie nahm sich einen Champagnertrüffel, ihre Lieblingssorte. Dann sagte sie: »Meine Schwester hat vorhin angerufen.«
Geert zuckte die Schultern. »Ja und?«
»Auf Nekpen wurde heute Morgen ein Schädel freigespült.«
Geert erstarrte für einen Moment. »Ein Schädel?«
»Ja. Die Polizei hat das ganze Skelett ausgegraben und untersucht es jetzt.«
Geert entspannte sich wieder. »Ach, da werden sie nicht viel finden. Ich habe letztens was im Fernsehen gesehen. Man glaubt immer, dass man heutzutage alles rauskriegen und untersuchen kann, aber das stimmt nicht.«
Er streckte seine Hand wieder nach den Pralinen aus, Ruth gab ihm einen sanften Klaps. »Es gibt bald Abendessen. Außerdem sind das meine Pralinen.«
»Pilcher und Pralinen – die beiden Leidenschaften meiner Frau«, Geert sah demonstrativ zum Bücherregal über dem Fernseher. Dort standen aufgereiht sämtliche Rosamunde-Pilcher-Bücher, die es gab, außerdem noch viele andere Liebesromane. Ruth las nichts anderes. Neben den Büchern reihten sich ein paar kitschige Porzellanfigürchen – Ballerinas, rotwangige Blumenmädchen und Kinder, die mit Kätzchen spielten.
»Übrigens«, sagte Geert. »Ich habe noch mal über unseren Urlaub nachgedacht. Was hältst du von Griechenland? Stell es dir vor: Tempel, Tsatsiki und Sirtaki. Und das Meer.«
»Wir leben auf einer Hallig. Wir haben schon Meer.«
»Ja, aber in Griechenland haben sie eines, das nicht so kalt ist, dass man sich den Tod darin holt.«
Ruth sah aus dem Fenster. Das Watt breitete sich in alle Himmelsrichtungen aus, die Nordsee hatte sich weit zurückgezogen. »Man kann auch hier baden«, sagte sie. »Oder in E-«, Geert verschloss ihren Mund mit einem Kuss.
Später, als Geert im Badezimmer war und man die prasselnde Dusche durch die Wohnung hörte, sah Ruth ihren Film zu Ende. Sie hatte ihn heute besonders nötig gehabt. Auch wenn Geert sich immer ein bisschen darüber lustig machte – sie liebte diese Filme. Sie war regelrecht süchtig danach, nach idyllischer, romantisch heiler Welt, in die sie eintauchen konnte. Wie lange war das schon so? Sehr lange, dachte Ruth, mindestens zwanzig oder dreißig Jahre. Vielleicht waren es auch genau dreiunddreißig.
Als Minke zum zweiten Mal an diesem Tag auf Nekpen ankam – dieses Mal nicht per Boot, sondern über den Wattweg –, schien ihr die kleine Hallig lange nicht so friedlich wie am Morgen. Wolken hatten sich inzwischen vor die Sonne geschoben und verdüsterten den Himmel, ein kalter Wind wehte von Nordwesten, in ein paar Stunden würde es dunkel sein. Lag ihr Eindruck nur daran oder kam er eher daher, dass Minke nun wusste, dass auf der unschuldigen Halligwiese vor über dreißig Jahren ein Mann vergraben worden war? Ein Arzt, der hier gewohnt hatte. Jemand, von dem bisher alle dachten, dass er in der winterlichen Nordsee nach einem Bootsunfall ertrunken war. Als Hinnerk Johannsen starb, war Minke erst drei Jahre alt gewesen. Sie hatte keine Erinnerung an ihn, für sie war Esther schon immer allein gewesen. Erst langsam fielen ihr Gesprächsfetzen ein, die sie im Laufe ihres Lebens gehört hatte, in denen es darum ging, dass Esthers Mann vor langer Zeit verunglückt war. Niemand hatte daran gezweifelt.
Minke holte tief Luft, bevor sie auf die Johannsenwarft zuging. Es war ihr erstes Gespräch mit einem Angehörigen, und Minke machte sich keine Illusionen über ihr Einfühlungsvermögen. Sie war schon immer direkt gewesen und leicht angeeckt. Mit Tieren verstand sie sich deutlich besser als mit Menschen. Ich hätte meine Mutter mitnehmen sollen, dachte sie. Imma beherrschte als Therapeutin die Kunst, taktvolle Gespräche zu führen.
Der Hof der Johannsens war auffallend penibel gepflegt. Es gab einen schönen Garten mit akkurat geschnittenen Rasenkanten und Beeten, die wie mit dem Lineal gezogen wirkten. Das Wohnhaus bestand aus alten roten Backsteinen, die allerdings wie frisch geschrubbt aussahen, ebenso wie die weißen Sprossenfenster. Sogar das Reetdach war völlig akkurat und auf dem Hof lag kein Stäubchen. Neben der Klingel hing ein poliertes Messingschild. »Doktor Hinnerk Johannsen« stand darauf – nach dreiunddreißig Jahren. Minke klingelte; gleich darauf öffnete Esther die Tür. Der Bademantel war verschwunden, sie trug ein sandfarbenes Twinset, die Haare waren perfekt frisiert. An ihrem Hals schimmerte eine dünne Goldkette mit einem kleinen Kreuzanhänger.
»Ich bin es schon wieder«, sagte Minke. »Kann ich reinkommen?«
»Natürlich. Wir sind in der Küche …«
Sie machte eine einladende Armbewegung; Minke folgte ihr. Das Haus war genauso absurd sauber und ordentlich wie der Hof und der Garten. In der Küche saß Linda mit ihrer Familie am Küchentisch: Felix, ein Mann mit Durchschnittsgesicht, und ein junges Mädchen, das Kopfhörer auf den Ohren hatte und auf sein Handy starrte. »Linda kennst du; und kannst du dich auch noch an Felix erinnern?« Minke gab ihm die Hand. Linda hatte offensichtlich ihre Jugendliebe geheiratet. »Und das ist meine Enkelin.« Emily sah nur kurz auf, bevor sie sich wieder auf ihr Handy konzentrierte.
Linda verdrehte entschuldigend die Augen. »Sie hat ihren ersten Freund. Alles andere ist da unwichtig.«
»Verstehe.« Minke räusperte sich. »Ich muss mit euch reden. Es ist etwas Ernstes.«
Felix verstand sein Stichwort. »Komm, Emily, wir müssen die Koffer noch auspacken«, sagte er und erreichte tatsächlich, dass Emily lange genug ihren Blick vom Handy hob, um ihm murrend aus der Küche zu folgen. Nachdem beide gegangen waren, sah Linda Minke fragend an. »Was ist denn los? Du machst es ja spannend.«
Minke zog die Plastiktüte mit dem Ehering aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Der Tote – der, den wir heute hier auf Nekpen ausgegraben haben«, sagte sie, »der hatte das hier am Finger.«
Esther starrte auf den Ring. Minke sah auf ihre Hand. An Esthers rechtem Ringfinger steckte das Pendant zu dem in der Plastiktüte, es war unverkennbar. Esthers Gesicht verriet, dass sie es sofort erkannt hatte. Linda dagegen griff erst nach der Tüte und las die Gravur. Dann wurde sie blass. »Oh Gott. Das ist Papas Ring!«
Minke nickte.
»Heißt das, der Tote ist … mein Vater?« Linda sah Minke entsetzt an.
»Es ist die einzig logische Erklärung.«
Linda schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »das ist überhaupt nicht logisch. Papa ist ertrunken, sein Boot hatte einen Defekt und ist explodiert, und er ist ins Wasser gefallen und ertrunken. So war es.« Linda rüttelte ihre Mutter am Arm. »Mama, sag doch was. So war es doch!«
Esther griff nach ihrer Kaffeetasse. Sie wirkte wie vom Donner gerührt, ihre Hände zitterten. »Ja«, stimmte sie zu, »ja, so war es. Minke, das ist absurd.«
»Ich habe die Polizeiakte gelesen, aber es kann nicht stimmen, was dort steht. Es macht keinen Sinn, wenn die Leiche hier auf der Halligwiese auftaucht.« Sie sah von einer zur anderen. »Wir müssen den Fall wieder aufrollen, versteht ihr? Damals wurde ein Fehler gemacht.«
Beide sahen sie an, sie schienen das alles noch nicht verdaut zu haben.
»Könnt ihr mir erzählen, woran ihr euch noch erinnert? Was ihr von dem Abend damals noch wisst? Ich weiß, es ist lange her.«
Linda schüttelte den Kopf. »Es liegt nicht daran, dass es lange her ist – aber ich weiß einfach nichts. Ich war an dem Abend gar nicht auf Nekpen, sondern drüben auf Midsand bei den Franks. Nadine und ich waren damals schon die besten Freundinnen.«
»Esther?«
Esther sah auf. Es schien ihr schwerzufallen, überhaupt Worte zu finden. Sie griff ganz unwillkürlich zu ihrem eigenen Ehering und drehte ihn. »Wir hatten an dem Abend Gäste zum Grünkohlessen. Es war ja Winter, darum der Grünkohl.«
»Wer waren denn die Gäste?«
»Ruth, meine Schwester, und ihr Mann Geert. Und Doktor Simon, ein Kollege meines Mannes«, zählte Esther auf. »Hinnerk wollte irgendwann nach dem Essen noch einmal los zu einem Patienten. Er nahm sein Boot, er hatte es erst neu gekauft, und fuhr damit los. Ich habe die Gäste verabschiedet, habe alles aufgeräumt und geputzt, und dann bin ich ins Bett. Ich habe erst am nächsten Morgen gemerkt, dass er«, sie stockte, »dass er nicht nach Hause gekommen war. Es war schrecklich.«
»Und die Polizei hat dann das Boot gefunden?«
»Ja. Es war völlig verbrannt. Und von Hinnerk war dort nichts mehr zu finden.«
Das ging ja auch schlecht, dachte Minke. Der lag begraben in der Halligerde.
»Weißt du, zu welchem Patienten er wollte?«
Esther schüttelte den Kopf. »Nein. Irgendjemand auf Midsand.«
»Darf ich mal was fragen?«, schaltete sich Linda ein. »Bedeutet das alles, dass jemand Papa etwas angetan hat? Und ihn dann hier auf der Hallig vergraben?«
»Ich muss das Obduktionsergebnis von Bo noch abwarten.«
»Aber das ist das, was du glaubst.«
»Gab es jemanden, der deinem Vater schaden wollte? Hatte er Feinde?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Esther sofort. »Er war sehr beliebt. Ein Arzt.« Es wurde still in der Küche; das leise Ticken der Wanduhr war zu hören.
»Na ja, da wären aber noch die Straubs«, sagte Linda schließlich.
Esther wurde ärgerlich. »Linda! Du kannst doch nicht einfach jemanden verdächtigen.«
»Was meinst du mit ›die Straubs‘?«, hakte Minke nach.
Esther seufzte. »Familie Straub hat gegen Hinnerk geklagt. Das war ein halbes Jahr vor seinem Unfall … Ich meine, vor seinem –«, sie fand kein Wort dafür. »Jedenfalls haben sie ihm einen Kunstfehler vorgeworfen.«
»Und wie ging die Geschichte aus?«
»Natürlich wurde Hinnerk in allen Punkten freigesprochen.«
»Eben«, meinte Linda. »Es könnte doch sein, dass die Straubs deswegen …«
»Unsinn«, wehrte Esther ab. »Die Straubs sind nette Leute.« Sie stand heftig auf und ging hinüber zur Spüle. Auf dem Weg dorthin gaben ihre Beine nach. Minke sprang auf und fing sie auf. Sie setzte Esther auf einen Stuhl, Linda flößte ihrer Mutter Wasser ein.
»Tut mir leid«, wisperte Esther, »das ist alles gerade ein bisschen viel für mich.«
»Ich bin gleich weg«, sagte Minke. »Nur eines noch: Kann ich ein Foto von Hinnerk sehen?«
»Natürlich.« Linda verschwand. Gleich darauf kam sie mit einem gerahmten Foto zurück. Es zeigte die ganze Familie in dem schönen Garten der Johannsenwarft am Terrassentisch. An der Mode konnte man sehen, dass es schon einige Jahrzehnte alt war. Minke schätzte es auf Mitte der Achtzigerjahre.
»Das war an meinem fünfunddreißigsten Geburtstag«, erklärte Esther leise. Hinnerk saß am Kopfende des Tischs. Ein Mann mit dunklen Haaren, scharf geschnittenem Gesicht und einem auffallend schönen Zahnpastalächeln. Minke dachte an die besonders geraden Zahnreihen, die ihr schon bei dem Schädel aufgefallen waren. Sie hatte endgültig keinen Zweifel mehr daran, dass es sich bei dem Skelett tatsächlich um das von Hinnerk Johannsen handelte. Er hielt auf dem Foto Esthers Hand. Esther sah in ihrem Kleid und mit der festlichen Frisur absolut perfekt aus. Sie hätte Model werden können, dachte Minke. Auf Hinnerks anderer Seite stand Linda, an ihn geschmiegt, im geblümten Kleidchen und mit Zöpfen.
Minke betrachtete das Bild eine Weile. Dann nickte sie und reichte es Linda zurück. »Danke«, sie stand auf. »Ich lasse euch mal allein.«
Esther brachte sie zur Tür.
»Sag mal, Esther«, Minke drehte sich noch einmal um, als sie schon draußen war, »war eure Ehe glücklich – Hinnerks und deine?«
Esther lächelte traurig. »Ich war verrückt nach ihm.«
Auch auf der Holtwarft brannte Licht. Minke beschloss spontan, auch gleich noch mit Jasper zu reden. Immerhin hatte er zu der Zeit, in der Hinnerk auf der Halligwiese vergraben worden war, auch hier auf Nekpen gelebt. Und ein wenig war sie auch neugierig, ob David dort war.
Als der alte Deichgraf ihr öffnete, hatte er eine Pfeife im Mundwinkel und sah aus wie ein Kapitän aus früheren Zeiten. »Moin moin – je später der Abend, desto schöner die Gäste«, sagte er. »Ich muss dich enttäuschen, mein Sohn ist nicht da.«
Minke fühlte sich ertappt. »Ich wollte mit Ihnen sprechen«, sagte sie.
»So? Na, dann komm mal rein. Ist ja schon fast dunkel draußen.« Minke sah sich interessiert in dem Haus um. Noch nie war sie im Innern des Deichgrafenhofs gewesen. Das Haus schien seine lange Geschichte in jedem Winkel zu atmen: alter Dielenboden, niedrige Decken, im Flur stand eine bemalte Truhe, auf der Walfangszenen zu sehen waren. Gegenüber an der Wand, an der einfachen Garderobe, hingen Ölzeug und ein Jagdgewehr, darunter standen Gummistiefel in einer großen Größe.
Der Deichgraf führte sie in das großzügige Wohnzimmer voller antiker Möbel und düsterer Ölbilder an den Wänden, die irgendwelche bärtigen Männer mit Orden an der Brust zeigten. »Alle mit dem Nachnamen Holt, nehme ich an?«, fragte Minke.
»So ist es.« Jasper setzte sich in einen etwas abgewetzten Ohrensessel und sah sie interessiert an, während er an seiner Pfeife zog. »Dann schieß mal los. War es ein Wikinger?«
»Nein. Es war Ihr Nachbar, Hinnerk Johannsen.«
Jasper sah sie erst stumm an, dann lachte er los. »Aber der ist doch ertrunken, weißt du das nicht?«
»Das ist er offensichtlich nicht.«
Jaspers Pfeife verglühte. Er zündete sie neu an. »Unglaublich«, murmelte er. »Weiß es Esther schon?«
Minke nickte.
»Und wie hält sie sich?«
»Na ja, es war ein Schock. Können Sie sich noch daran erinnern, wie es war, als Hinnerk verschwand?«
Jasper zuckte die Achseln. »Der Bootsmotor muss explodiert sein, das Boot war total verbrannt. Jeder ging davon aus, dass er ins Wasser gefallen ist. Kaltes Nordseewasser im Winter, das überlebt man nicht lange.«
»Waren Sie mit Hinnerk befreundet?«
Jasper zog an der Pfeife. Der angenehme Geruch nach Pfeifenrauch breitete sich sanft in der Luft aus. »Hinnerk und ich waren Nachbarn, unser ganzes Leben lang. Wir sind miteinander aufgewachsen, er war ein paar Jahre jünger als ich. Aber auf Nekpen hat man nicht so viel Auswahl, was die Spielkameraden angeht.«
»Und wie war er so?«
Der Deichgraf antwortete nicht sofort. Schließlich sagte er: »Hinnerk hat sich vor nichts gefürchtet, vor gar nichts. Ein Teufelskerl, hat mein Vater immer gesagt.«
»Waren Sie auch auf Nekpen? An dem Abend, als es passiert ist, meine ich.«
»Nein, da war ich auf dem Deich. Drüben, auf dem Winterdeich in Jüstering. Damals war ich noch Deichgraf, und der Deich war neu gebaut. Ich hatte eine Menge Helfer, die Freiwillige Feuerwehr und noch ein paar andere, und wir haben in diesem Winter in den stürmischen Nächten ständig am Deich patrouilliert und Schwachstellen ausgebessert. Es war ein Jahrhundertwinter damals, mit Eis und Stürmen, vollgelaufenen Kellern … Der Generator hier auf Nekpen fiel ständig aus. Es war ein Chaos.«
Minke sah auf das Foto, das im Bücherregal stand. Es zeigte eine Frau mit kupferfarbenen Haaren, die ausgelassen einen kleinen Jungen herumwirbelte. Das mussten David und seine Mutter sein. »Und Ihre Frau?«
»Christine? Es ist schon so lange her, aber ich bin mir sicher, dass sie hier war, mit David. Er war ja noch klein damals.« Im Gesicht des Deichgrafen zeigte sich Schmerz. Jeder wusste, dass Christine Holt sich vor vielen Jahren das Leben genommen hatte. Schwer zu glauben, dachte Minke, als sie nun das Foto dieser ausgelassenen Frau sah. Jaspers Miene machte deutlich, dass er nicht über Christine reden wollte.
»Also Lütte«, sagte er stattdessen, »wie gefällt dir denn mein Sohn? Ich bin vielleicht alt, aber nicht blind.«
Doktor Alexander Simon ging wie jeden Abend, nachdem die Arzthelferinnen sich verabschiedet hatten, durch die stillen, verlassenen Räume seiner großen, erfolgreichen Arztpraxis im Jüsteringer Speckgürtel und sah noch einmal nach dem Rechten. Hier und da räumte er einen vergessenen Kugelschreiber weg oder stellte ein Buch zurück ins Regal. Die Praxis hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten als wahre Goldgrube erwiesen. Er konnte zufrieden sein. Die Lage war perfekt, der Ruf hervorragend, an Patienten mangelte es ihm nicht.
Doktor Simon löschte nach und nach in jedem Raum das Licht. Auch das gehörte zu seinem abendlichen Ritual. Er stand dann immer noch ein wenig da, in der stillen Dunkelheit, sah aus dem Fenster auf das abendlich erleuchtete Städtchen und ließ den Tag Revue passieren. Er rief sich die Patienten ins Gedächtnis, die er heute behandelt, die Gespräche, die er geführt hatte, die Krankenakten, die über seinen Tisch gewandert waren. Er seufzte. In ein paar Wochen würde er siebzig Jahre alt werden. Eigentlich war es Zeit aufzuhören. Aber er war leidenschaftlicher Arzt. Er konnte sich das Leben ohne diesen Beruf gar nicht vorstellen. Seine Frau Sybille drängte ihn immer öfter, einen Nachfolger für sich zu finden und in Pension zu gehen. »Alexander, ich will das Alter mit dir genießen«, sagte sie oft. »Ein bisschen reisen, vielleicht ein gemeinsamer Kochkurs. Und wir könnten die Kinder viel öfter besuchen.« Ihre beiden Kinder, ein Sohn und eine Tochter, wohnten beide inzwischen in Hamburg. Das zweite Enkelkind würde bald geboren werden.
Oh Gott, ich bin alt, dachte Alexander Simon plötzlich. Ich bin Opa, und ich werde siebzig! Früher hatte er gedacht, wer siebzig ist, trüge beigefarbene Kleider und Gesundheitsschuhe und stünde mit einem Bein im Grab. Er sah auf seine Hände. In letzter Zeit breiteten sich darauf verräterische Altersflecken aus. Er dachte über sein Leben nach. Er dachte an seine Frau, seine Kinder, gemeinsame Urlaube, gemeinsame Feste, lange Sommerabende am Strand und auf dem kleinen Segelboot, das er sich geleistet hatte, als er fünfzig geworden war. Mein Leben ist gut gelungen, dachte er. Besser, als ich es mir jemals ausgemalt habe. Er konnte wirklich zufrieden sein. Mit diesem warmen Gefühl drehte er sich um und ging aus der Praxis. Er zog die Tür zu und drehte sorgfältig zweimal den Schlüssel im Schloss. Dann ging er zu seinem schicken Auto, setzte sich hinein und fuhr durch das dunkle Jüstering nach Hause.
Minke ging über das Watt durch die Abenddämmerung von Nekpen nach Midsand hinüber. Es war ein Marsch von zwanzig Minuten durch die klare, blaue Abendluft. Das Watt lag völlig verlassen da. Im Sommer waren immer viele Touristen unterwegs, geführte Wattwanderungen, Pferdewagen, die die Besucher über diese merkwürdige Landschaft zogen, aber an diesem Herbstabend schien das ganze Watt Minke allein zu gehören. Es reichte bis zum Horizont, wo es mit einem bisschen Meer und mit dem rosablauen Horizont zu verschmelzen schien. Im Osten, dort wo Jüstering lag, war der Himmel schon beinahe nachtschwarz.
Immas Haus auf der Markuswarft empfing Minke mit Licht und Wärme. Als sie die Haustür aufschloss, kamen ihr Stimmen und Lachen entgegen. Die eine Stimme gehörte Imma, die andere war die eines Mannes. Minke schlüpfte schnell aus Gummistiefeln und Jacke. Die Bassstimme war unverkennbar.
Sie riss die Küchentür auf. »Jan!«, rief sie. Der Mann mit den eisgrauen Haaren und dem dunkelblauen Segelpullover, der dort an Immas Kühlschrank gelehnt stand, breitete die Arme aus. »Komm her, du Kommissarin«, sie umarmte ihn, er hob sie hoch und wirbelte sie herum. Dann stellte er sie wieder auf die Füße. »Ich musste doch unbedingt vorbeikommen und sehen, wie es meinem Patenkind am ersten Arbeitstag ergangen ist.« Jan, Staatsanwalt in Jüstering, war der beste Freund von Michael van Hoorn gewesen. Er war auch einer der Freunde gewesen, die damals bei Michaels Unfall mit auf dem Segelboot gewesen waren.
Minke schnitt eine Grimasse. Sie erzählte von Klaus, von dem Skelett und von Hinnerk.
»Ein richtiger Cold Case«, sagte Jan. »Wenn dein Vater noch leben würde, würde er jetzt zur Höchstform auflaufen«, er klopfte Minke auf den Rücken. »Aber jetzt läufst eben du zu Höchstform auf.«
»Mal sehen.«
»Jan will helfen, Knerken zu backen«, verkündete Imma, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Sie klatschte eine vorbereitete vanillegelbe Teigkugel auf den Küchentisch. Knerken, kleine, runde, süße Kekse und ein typisches Halliggebäck, waren Immas Spezialität.
»Ach so, deshalb bist du in Wirklichkeit gekommen«, grinste Minke.
Jan krempelte die Ärmel hoch. »Natürlich. Vor allem, weil ich darauf hoffe, viele abzukriegen, sobald sie fertig sind.«
In der nächsten Stunde formten sie um die Wette die Kugeln und bestreuten sie später mit Hagelzucker. Als sie schließlich fertig waren, duftete das ganze Haus nach Zucker und Vanille. Imma entschuldigte sich, weil sich noch ein später Patient zu einer Notfallsitzung angemeldet hatte, während Minke und Jan mit einem großzügigen Teller fertiger Kekse und zwei Tassen heißem Kakao ins Wohnzimmer übersiedelten. Victor gesellte sich zu ihnen und rollte sich neben Jan schnurrend zusammen, wobei sein fehlendes Bein gar nicht auffiel.
Während Jan einen Knerken in den heißen Kakao stippte, sah er Minke an. »Deine Mutter macht sich Sorgen um dich«, begann er vorsichtig.
»Weil ich nicht zu Papas Grab gehe?«
»Wegen allem. Wegen dem Grab, weil du nie über ihn reden willst, weil du deinen Job hingeschmissen hast, obwohl du ihn so sehr mochtest. Weil du jetzt Kommissarin bist, nicht gerade ungefährlich.«
»Es war auch nicht ungefährlich, durchs Polarmeer zu fahren und Orcas zu beobachten.« Minke sah ihn hart an. »Es war meine Entscheidung, das aufzugeben. Ich will Kommissarin sein.«
»Okay«, Jan nickte. »Du warst schon immer sehr selbstständig. Natürlich ist es deine Sache.« Er musterte sie. »Aber zumindest das mit dem Grab – versuch es doch mal. Besuch ihn einfach, rede mit ihm.«
»Das ist doch albern. Er ist tot.«
»Trotzdem. Versuch es.«
Minke griff nach einem neuen Knerken. »Nächstes Thema«, sagte sie. Jan wusste aus Erfahrung, dass er das akzeptieren musste. Es wurde noch ein langer, lustiger Abend, aber er erwähnte Michael nicht mehr.
David kam nach Hause in seine Wohnung nahe dem Jüsteringer Hafen. Der Tag war lang gewesen – die Nacht mit Minke im »Halligprinzen«, die frühe Angeltour mit seinem Vater, dann der anstrengende Arbeitstag in der Seehundstation Jüstering, die er seit zwei Jahren leitete. Eigentlich hatte er vorgehabt, nach der Arbeit noch einmal nach Nekpen zu fahren und im Bootsschuppen seines Vaters ein bisschen an dem Boot zu arbeiten, das er seit Wochen wieder seetüchtig zu bekommen versuchte, aber er war viel zu müde. Nach einigen Wochen Arbeit war es zwar noch lange nicht fertig, aber man konnte erahnen, was für ein Schmuckstück es einmal sein würde. Das rotbraune Holz des Bootskörpers hatte eine wunderschöne Maserung, dazu passten die chromglänzenden Armaturen.
Während David ein schnelles Abendessen aß, malte er sich aus, wie es sein würde, mit dem Boot auf die Nordsee hinauszusegeln. Bisher hatte er immer geplant, seinen Vater auf die Jungfernfahrt mitzunehmen. Oder vielleicht ein paar Kumpels. Oder seine Kolleginnen von der Seehundstation. Aber seit gestern Abend tauchte jemand ganz anderes in seinen Gedanken auf – eine Frau mit hellblonden Haaren und einem lauten Lachen, die Grog trinken konnte wie ein Seemann, ein paar Sommersprossen auf der Nase hatte und kein Blatt vor den Mund nahm. Ja, Minke gefiel ihm, da gab es nichts zu leugnen. Sie war ihm gestern im »Halligprinzen« sofort aufgefallen. Es war diese besondere Mischung – eine Frau zum Pferdestehlen, selbstständig, direkt, aber da war auch etwas Verletzliches an ihr, das sie nicht jedem zeigte und das sie manchmal ein bisschen unnahbar wirken ließ. Es interessierte ihn, was dahintersteckte.
Ja, David wusste plötzlich, wen er zur Jungfernfahrt seines Segelboots einladen würde. Er nahm sein Handy und scrollte durch seine Kontakte bis zu ihrem Namen. Sie hatten gestern Nacht noch die Nummern getauscht. Ob er ihr schreiben sollte? Aber obwohl er sonst schlagfertig und spontan war, fiel ihm plötzlich nichts ein, was er gut genug fand. Er legte das Handy beiseite. Morgen, dachte er, morgen schreibe ich ihr.
Er dachte an den nächsten Tag. In der Seehundstation gab es viel zu tun, ein paar der Robben, die dort aufgepäppelt wurden, machten ihm Sorgen – er würde den Tierarzt rufen müssen. Einige andere waren schon fast so weit, dass sie wieder ausgewildert werden konnten. Für morgen war auch eine Schulklasse angemeldet, die er durch die Station führen würde. Außerdem hatte er seinem Vater versprochen, nach der Arbeit hinüber nach Nekpen zu kommen und ihm zu helfen, eine Stelle im Reetdach zu flicken. Es würde wieder ein langer Tag werden.
Weil er so müde war, beschloss David, heute ungewöhnlich früh ins Bett zu gehen. Nachdem er das Licht im Schlafzimmer gelöscht hatte, schlief er beinahe sofort ein, während draußen die Nordsee Stück für Stück langsam wieder zurück in Richtung Strand floss.
Mitten in der Nacht schreckte er aus dem Schlaf auf. Sein Herz raste. Er sah sich im dunklen Schlafzimmer um. Der Wind, der durch das gekippte Fenster wehte, blähte die Vorhänge. Was hatte er da gerade geträumt? Er versuchte, sich zu erinnern. Er war in seinem Traum auf Nekpen gewesen und hatte aus dem Fenster gesehen. Und er hatte einen Schlafanzug getragen, hellblau mit Bärchen darauf. Seit Ewigkeiten hatte er sich nicht mehr an diesen Schlafanzug erinnert. Ich hatte ihn als Kind, dachte er jetzt, richtig, es war mein Lieblingsschlafanzug. Er hatte im Traum auch nicht aus irgendeinem Fenster gesehen – es war das Fenster seines Kinderzimmers auf Nekpen gewesen. Im Traum hatte er dort gestanden und hinausgesehen. Und draußen, vor dem Fenster … Ja, was? Davids Puls beschleunigte sich; eine merkwürdige Unruhe erfüllte ihn. Er schlug die Bettdecke zurück, stand auf und ging hinüber in die Küche. Dort drehte er den Wasserhahn auf und füllte ein Glas mit kaltem Leitungswasser. Warum war er so aufgewühlt? Noch einmal langsam, dachte er: Ich habe die Halligwiese gesehen und Schatten. Ein Schatten hob die Hand, der andere sank zu Boden. Dann lag er da, alles war dunkel.
David hatte plötzlich Kopfschmerzen. Das Wasser schien nicht zu helfen. In seinem Kopf begann sich der Ort, an dem im Traum die dunkle Gestalt gelegen hatte, mit der Stelle auf der Halligwiese zu überlagern, an der er heute Morgen das gelbe Absperrband gesehen hatte. Er hörte es im Wind flattern, das Geräusch wuchs in seinem Kopf zu einem Crescendo. David ließ das Wasserglas fallen. Es zerschellte auf dem Fußboden, Scherben glitzerten, Wasser spritze.
»Verdammt!«
Es war kein Traum gewesen, da war er sich plötzlich sicher. Es war eine Erinnerung! David sah auf das zerbrochene Glas zu seinen Füßen und auf das Wasser, das eine Pfütze auf dem Holzboden bildete. Plötzlich sah er alles ganz genau vor sich. »Ich erinnere mich«, flüsterte er, »oh mein Gott, ich erinnere mich!«
In einem anderen Haus in Jüstering drehte sich etwa zur selben Zeit ein Mann im Bett um. Er schlief gut. Den ganzen Tag hatte er gearbeitet, war von Auftrag zu Auftrag gefahren, von Kunde zu Kunde. Jetzt lag er schlafend im Bett und träumte von Licht.