Es war früh am Morgen, als David auf seinem Rad den Klippenweg entlang zur Arbeit fuhr. Die Seehundstation nördlich von Jüstering konnte er schon von Weitem sehen. Er beeilte sich, weil ihm der Fahrtwind einen unangenehmen Nieselregen ins Gesicht trieb. Das schöne Herbstwetter von gestern war verschwunden – heute konnte man gut glauben, dass bald der große Sturm kommen sollte. Die Nordsee jenseits der Klippen war grau, die Regentropfen ließen die Wasseroberfläche rau erscheinen. Der Himmel war wolkenverhangen und versprach noch mehr Regen. David trat in die Pedale. Er dachte an die Aufgaben, die ihn in der Station erwarteten. Obwohl er dort schon einige Jahre arbeitete, machte ihm sein Job immer noch Spaß. Der Umgang mit den Tieren, die Schulklassen, die Kindergartengruppen, die er dort herumführte und für das Wattenmeer und die Robben begeisterte, das alles gefiel ihm. Mit seinen Kolleginnen verstand er sich sehr gut. Er war der einzige Mann, Hahn im Korb, wie seine Kumpels oft neidisch spotteten. Seine Kolleginnen waren nett, aber mehr war da für David nicht. Davids Gedanken wanderten wieder zu Minke. Er hatte nun endlich eine Idee, was er ihr schreiben könnte. Später, wenn ich dort und im Trockenen bin, dachte er. Alles andere, was seit der letzten Nacht noch in seinem Kopf herumgeisterte, versuchte er vorerst zurückzudrängen. Er musste jetzt den Dingen ihren Lauf lassen.
Der Wind trieb stärkeren Regen vor sich her. David senkte den Kopf, um die Tropfen nicht direkt ins Gesicht zu bekommen. Darum wäre er beinahe über das Hindernis gefahren, das sich ihm in den Weg stellte. Er machte eine Vollbremsung, die Reifen quietschten auf dem nassen Boden. Er stellte einen Fuß auf den asphaltierten Klippenweg und starrte auf das, was er dort sah. »Warum …?«, begann er und wischte sich über das regennasse Gesicht. Weiter kam er nicht.
Zur gleichen Zeit, früh am Morgen, stand Minke vor dem Haus auf der Markuswarft, in dessen Erdgeschoss sich der Halligladen befand, und klingelte bei Lütz. Ruth und Geert mussten schon wach sein; in ihrer Wohnung über dem Laden brannte Licht. Tatsächlich summte gleich der Türöffner. Während Minke die Treppe nach oben stieg, wurde ihr klar, dass sie noch nie in der Wohnung von Ruth und Geert gewesen war. Sie kannte beide schon ihr ganzes Leben, und als Kind hatten sie und Bo ihr Taschengeld immer sofort zu Ruth in den Laden getragen, um es dort in Schokolade und Gummibärchen einzutauschen. Und in Geerts zwergenhafter Bankfiliale hatte sie mit vierzehn stolz ihr erstes eigenes Konto eröffnet. Aber in ihrer privaten Wohnung war sie nie gewesen.
Ruth öffnete ihr in einem rüschenbesetzten Morgenmantel; ihr Haar war auf Lockenwickler gedreht. »Moin, Minke«, sagte sie erstaunt, »brauchst du etwa schon etwas aus dem Laden? Du weißt, dafür ist es eigentlich noch zu früh.«
»Nein, danke, ich brauche nichts. Ich muss mit dir und Geert reden – es ist wegen Hinnerk. Hat Esther es dir schon erzählt?«
Ruths Gesicht wurde ernst. »Ja, sie hat gestern Abend angerufen. Komm rein.«
Die Wohnung war so kitschig, wie eine Wohnung es nur sein konnte. Es gab geblümte Tapeten, Sofakissen mit Häkelüberzug, überall stand Nippes herum, und in der Küche gab es ein Regal mit bemalten Schmucktellern. Am meisten fielen aber die Liebesromane auf, die überall in den Regalen standen. Minke fragte sich, ob es einen einzigen gab, den Ruth nicht besaß und noch nicht gelesen hatte. Vermutlich nicht. Ihr fiel ein Foto an der Wand auf, das Ruth neben einer Frau mit halblangen grauen Haaren und einem ziemlich kantigen Gesicht zeigte.
»Das bin ich mit Rosamunde«, sagte Ruth stolz. »Du weißt schon – Rosamunde Pilcher. Das war auf einem Fantreffen in England.«
»Moin, was haben wir denn da für einen frühen Gast?«, Geert kam ins Zimmer. Er trug schon eine Anzughose, aber am Oberkörper nur ein Feinrippunterhemd, das den Blick auf seine grau werdende Brustbehaarung freiließ. Sie bildete einen beeindruckenden Kontrast zu seiner Stirnglatze und dem dünnen Haarkranz. »Gib es zu – du willst Frühstück abstauben.«
»Nein, ich will mit euch über Hinnerk reden.«
Geerts Grinsen erlosch. »Oh, ach so, wenn das so ist …«
Sie setzten sich an den Frühstückstisch, der schon gedeckt war. Auch dort lag der unvermeidliche Liebesroman aufgeschlagen, in dem Ruth bei einer ersten Tasse Tee gelesen hatte, bevor Minke dazwischengekommen war.
»Wir verstehen natürlich, dass du mit uns reden willst«, sagte Ruth eilig und bot Minke ebenfalls Tee an. »Es ist selbstverständlich wegen dem Grünkohlessen, habe ich recht?«
Minke nickte. »Ihr wart damals eingeladen. Ich würde einfach gerne wissen, wie der Abend war.«
Ruth und Geert tauschten einen kurzen Blick. Sie schienen sich dabei darauf zu einigen, dass Ruth zuerst antwortete. »Es war nett«, sagte sie. »Wir haben uns unterhalten, Esther hat einen wunderbaren Grünkohl gemacht.«
»Esther ist die perfekte Hausfrau«, unterbrach Geert. »Hätte keiner gedacht, als Hinnerk damals dieses blutjunge Ding geheiratet hat, aber es war der Wahnsinn, wie schnell sie alles gelernt hat.«
Ruth schien Geerts Einwurf unangenehm zu sein. »Jedenfalls war es ein schöner Abend, gemütlich, würde ich sagen. Irgendwann ist Hinnerk zu einem Patienten gefahren, und wir sind dann auch recht bald danach gegangen, oder, Geert?«
Geert nickte. »Ist alles schon lange her, aber ich denke, das stimmt.«
»Wie war Hinnerk an dem Abend?«
»Na, ganz normal«, sagte Geert. »Hat Geschichten erzählt und so weiter.« Er klatschte eine ordentliche Portion Teewurst auf sein Brot und quetschte darauf noch Senf aus der Tube.
»Wie Ruth schon sagte, alles war ganz normal. Ach ja, dieser Arzt war noch da, Alexander Simon. Ein Kollege von Hinnerk. Auch nett.«
Minke sah vor allem Ruth an. »Wie haben sich Esther und Hinnerk verstanden?«, fragte sie. »War das eine gute Ehe?«
Ruth griff nach ihrer Teetasse. »Ach, weißt du, wie Geert sagte – Esther war unglaublich jung. Sie war siebzehn, als sie ihn kennenlernte, und völlig verschossen in ihn. Wirklich, ich glaube, ich habe noch nie jemanden gesehen, der so verliebt war. Sie musste ihn einfach haben und er sie. Und da haben sie ziemlich schnell geheiratet.«
»Hat Esther einen Beruf?«
»Nein. Ziemlich bald nach der Hochzeit kam Linda – und dann, na, wie es eben so ist.«
»Drum wurde sie ja so eine perfekte Hausfrau«, insistierte Geert wieder.
»Hinnerk hat immer sehr gut verdient, und nachdem er ertrunken war«, sie stockte, weil ihr auffiel, dass das ja nun nicht mehr stimmte, »jedenfalls hat sie eine gute Witwenrente. Hinnerk hat sie da gut abgesichert, für so einen Fall. Aber das ist natürlich kein Trost, wenn dein Mann stirbt – nur eine Hilfe.«
»Hm. Wann habt ihr am nächsten Morgen erfahren, dass Hinnerk diesen Unfall hatte?«
»Esther hat mich früh angerufen, um mir zu sagen, dass er nicht nach Hause gekommen war. Sie machte sich furchtbare Sorgen, und ich habe ihr geraten, die Polizei zu rufen.« Ruth lächelte. »Wir stehen uns sehr nahe, schon immer. Darum hat sie mich als Erstes angerufen.«
»Tja, sein Boot hat gebrannt«, sagte Geert kauend, »einfach – puff, explodiert. Und der arme Teufel ist über Bord gegangen, das haben wir gedacht.«
»Nein, er wurde auf Nekpen vergraben«, widersprach Minke.
»Kann sein, aber das wusste ja bisher keiner.« Geert nahm sich noch einmal Teewurst. Minke wurde schon beim Zusehen schlecht.
»Es ist einfach schrecklich«, seufzte Ruth, »aber wenigstens kann Esther ihn jetzt ordentlich und christlich begraben. Das hat ihr all die Jahre gefehlt – sie hatte ja nicht einmal einen Ort, an dem sein Name auf dem Grabstein steht und sie Blumen niederlegen konnte.«
Nicht schon wieder das Thema, dachte Minke. Schnell fragte sie: »Habt ihr eine Vermutung, was wirklich passiert sein könnte?«
Beide schüttelten den Kopf. »Leider nicht.«
»Hatte Hinnerk Feinde?«, stellte Minke dieselbe Frage, die sie schon Esther und Linda gestellt hatte.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Ruth. »Fällt dir jemand ein, Geert?«
»Nö. Der war doch Arzt.«
»Die Straubs vielleicht?«, wiederholte Minke das, was ihr Linda gesagt hatte.
Ruth riss ihre sowieso schon großen Augen auf. Es ist kaum zu glauben, dass Esther und Ruth Schwestern sind, dachte Minke in diesem Moment. Wo Esther beinahe statuenhaft perfekte Gesichtszüge und immer noch eine gute Figur hat, ist an Ruth alles irgendwie ein bisschen verrutscht, größer, draller. Ihre großen Augen mit den schweren Lidern erinnerten unschmeichelhaft an die Halligkühe. Im Gegensatz zu ihrer Schwester war sie außerdem deutlich gealtert – zwischen Rosentapeten und über ihren Liebesgeschichten, fügte Minke in Gedanken hinzu.
»Die Straubs?«, echote Ruth jetzt. »Oh nein, das glaube ich nicht. Das sind ganz nette Leute mit einer kranken Tochter, mehr nicht.«
Minke fiel nichts mehr ein, was sie hätte fragen können. »War‘s das? Ich muss mal duschen«, sagte Geert. Nachdem Minke sich verabschiedet hatte und wieder draußen vor dem Haus stand, musste sie feststellen, dass aus dem Nieselregen dicke Tropfen geworden waren, die sich über der Nordsee ausließen. Es war selbst für Halligverhältnisse ein unangenehmer Morgen.
Während Minke auf dem Weg nach Jüstering war, fuhr ein anderes Boot in der entgegengesetzten Richtung über die Nordsee. Der Mann darauf hatte die Kapuze seiner dunkelblauen Regenjacke tief ins Gesicht gezogen und fluchte wegen dem Regenschauer, der ihm ins Gesicht geweht wurde. Aber es half alles nichts – er hatte einen Auftrag auf Hallig Midsand. Und außerdem musste er dort mit jemandem reden.
Minke fuhr mit Immas Fahrrad wieder durch die Jüsteringer Straßen in Richtung Polizeiwache, als ihr Blick am Zeitungskiosk hängen blieb. Sie bremste; beinahe wäre eine Frau mit Hund in sie hineingelaufen. »Das darf doch nicht wahr sein!«, rief sie. Ein paar Leute drehten sich um. Minke stieg vom Rad und war in ein paar Schritten am Kiosk. Dort riss sie die heutige Ausgabe des »Jüsteringer Küstenboten« aus dem Zeitungsständer und starrte fassungslos auf die Titelschlagzeile.
»Cold Case«, stand darauf in fetten Buchstaben. »Jüsteringer Arzt vor über dreißig Jahren Mordopfer?« Darunter ein Artikel, der sowohl den Namen von Hinnerk Johannsen nannte als auch die wenigen Tatsachen, die bisher feststanden: das Grab auf der Hallig, der kaputte Schädel, der Bootsunfall, der keiner war. Neben dem Text prangte ein Bild der zerwühlten Halligwiese von Nekpen mit dem gelben Absperrband. Darunter – der Gipfel des Ganzen – kursiv die Frage: »Wird unsere neue Kommissarin Minke van Hoorn diesen Fall lösen können?«
»Das ist doch …!«
Die Verkäuferin am Kiosk sah auf und lächelte. »Unglaublich spannend, oder?« Sie beugte sich vor. »Stellen Sie sich vor, Sie wohnen da auf dieser winzigen Hallig, und irgendwann erfahren Sie, dass Ihr Ehemann nur einen Steinwurf vom Haus entfernt unter der Erde lag, die ganzen Jahre. Richtig gruselig, finden Sie nicht auch?«
Minke knallte das Geld auf den Tresen und nahm die Zeitung wortlos mit.
»Halt, Sie kriegen noch zehn Cent raus!«, rief ihr die Frau nach.
Minke reagierte nicht. Sie klemmte die Zeitung auf den Gepäckträger und fuhr, so schnell sie konnte, in die Heringsgasse.
»Klaus!«, schrie sie schon im Flur, »Klaus, du brauchst dich gar nicht zu verstecken!«
Klaus streckte seinen Kopf aus seinem Büro. »Tu ich gar nicht«, sagte er gut gelaunt. »Aber du siehst aus, als würde dir gleich der Kopf platzen. Nicht sehr vorteilhaft, Mäuschen.«
Minke hob die Zeitung. »Bist du verrückt? Das kannst nur du gewesen sein, der das der Zeitung brühwarm weitergetratscht hat.«
»Oh, das«, Klaus drehte sich um und ging seelenruhig in sein Büro zurück. Minke ließ sich nicht so leicht abschütteln. Sie folgte ihm. In Klaus‘ Büro herrschte Chaos, überall standen Umzugskisten, auf denen »Klaus Polizeibüro« stand. »Ich dachte, ich fange mal an, hier auszuräumen«, sagte er beschwingt. »Schließlich habe ich nur noch vier Tage, und drei davon brauche ich sicher für die Partyplanung. Und wann dein neuer Assistent kommt, weiß nur Gott allein. Übrigens – du hast noch nichts wegen dem Büfett gesagt. Kriege ich dafür jetzt dein Büro oder nicht?«
Minke knallte die Zeitungsausgabe auf seinen Schreibtisch zwischen die Kartons. »Wie kommst du dazu, das einfach der Zeitung weiterzugeben?«
»Ach, bist du immer noch bei dem Thema? Du beißt dich ja richtig fest. Einer der Redakteure ist auch im Klootschieß-Verein. Und wir hatten gestern Abend Sitzung – eines führte zum anderen …« Er hielt eine hässliche Porzellanmöwe hoch, die einen Fisch im Schnabel hatte. »Willst du die? Schenk ich dir. Das potthässliche Ding hat mir mal meine Großtante mitgebracht.«
»Nein«, zischte sie. »Ich will keine Möwe. Und ich will, dass du in Zukunft der Presse gegenüber deine Klappe hältst.« Sie drehte sich um und ging.
»Welche Zukunft, Mäuschen? Ab Freitag bin ich in Pension, hast du das vergessen?«, rief er ihr nach. »Und überleg dir das mit dem Büfett.« Er versenkte die Möwe in einem der Umzugskartons.
In ihrem Büro atmete Minke tief durch. Der Schaden war passiert, es war nichts mehr daran zu ändern. »Wird unsere neue Kommissarin Minke van Hoorn diesen Fall lösen?« Sie starrte auf die Titelseite. Ja, dachte sie, das ist die Frage. Sie riss den Artikel aus der Zeitung aus und hängte ihn neben den über ihren Vater an die Wand. Nach einigem Überlegen nahm sie einen Haftnotizblock, eines der wenigen Dinge, die ihr in diesem Büro, das nicht einmal einen funktionierenden Computer hatte, überhaupt zur Verfügung standen, und einen Filzstift. Um seine Gedanken zu ordnen und richtig nachdenken zu können, hatte ihr Vater früher immer gesagt, schreibt man sie sich am besten auf. Also beschloss Minke, genau das zu tun. Sie zog die Kappe vom Filzstift und klemmte sie zwischen ihre Zähne. Dann zog sie einen ersten Haftnotizzettel vom Block und schrieb Hinnerks Namen darauf. Hinnerk, um ihn drehte sich alles. Sie klebte den Zettel in die Mitte der Wand. Es folgten Zettel mit den Namen Esther, Ruth, Geert und diesem Arzt, der auch noch mit am Esstisch gesessen hatte an diesem Abend und mit dem sie noch nicht geredet hatte. Minke verteilte die Zettel kreisförmig um Hinnerk. Sie alle waren an dem Abend mit ihm zusammen gewesen. Gut – weiter, welche Personen waren an dem Abend noch auf der Hallig? Christine Holt, sie bekam auch einen Zettel, und David genauso – der Vollständigkeit halber. Außerdem schrieb sie Jaspers und Lindas Namen auch jeweils auf Zettel, klebte sie aber ganz an den Rand, Jasper dorthin, wo, wäre die Wand eine Landkarte, Jüstering läge, Lindas auf das imaginäre Midsand. Dann schrieb sie noch einen Zettel mit dem Wort »Patient« und klebte ihn auf Midsand. Zu wem war Hinnerk an diesem Abend gefahren? Eine der Fragen, die sie beantworten musste.
Minke trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. Ein Name fehlte noch – der der Straubs. Sie schrieb auch für sie einen Zettel. Mit ihnen würde sie sich unterhalten müssen, egal wie oft noch jemand betonte, dass sie nette Leute waren. Auch nette Leute konnten Mörder werden. In diesem Moment krächzten die künstlichen Möwen aus ihrem Handy.
Der kleine Halligladen von Midsand versprühte das Flair eines Tante-Emma-Ladens aus vergangenen Zeiten – ein schwarz-weiß gefliester Boden, hohe alte Wandregale, ein antikes Bonbonglas auf der Verkaufstheke mit immer denselben Sorten: Himbeer und Sahne-Karamell. An einer Wand hing ein großes, altes Emailleschild, das Ruth einmal auf einem Trödelmarkt gefunden hatte. »Südfrüchte und Schokolade« stand in schnörkeliger Schrift darauf, darunter war eine Palme gemalt. Ruth liebte den Laden. Sie hatte ihn vor vielen Jahren von ihrer Tante übernommen und so wenig wie möglich daran verändert, abgesehen von der Anschaffung einer kleinen Tiefkühltruhe, in der immer ein paar Packungen Fischstäbchen und Spinat lagerten. Sie war nicht die Einzige, die sich für den Laden begeisterte. Im Sommer drängten sich die Halligtouristen hier, machten Fotos von Ruth in ihrer altmodischen weißen Schürze hinter der Ladentheke und kauften gekochte Nordseekrabben im Glas und Halligbutter, frisch von der Frankwarft.
Jetzt, im Herbst, gehörte der Laden wieder nur Ruth und den Bewohnern von Midsand. An diesem regnerischen Morgen füllte sie die Himbeerbonbons auf und zählte die Packungen Butterkäse. Dann begann sie damit, die neu angelieferten Waren in die Regale einzusortieren. Dabei wartete sie darauf, dass die Ladenglocke zum ersten Mal an diesem Tag klingeln würde. Sie liebte das Geräusch, seit sie als junges Mädchen hier bei ihrer Tante ausgeholfen hatte – nicht nur, weil es Kundschaft bedeutete, sondern weil es auch immer eine kleine Überraschung war, wer in den Laden kam. Manchmal malte Ruth sich in ihren Tagträumen aus, wer es wohl sein könnte. Ein gutaussehender Mann, dessen Boot kaputt war und der nun auf der Hallig festsaß. Er würde ihr Komplimente machen und ihr sagen, wie hübsch ihr Laden war, und genauso aussehen wie die Männer in den Liebesfilmen, die Ruth so gerne sah. Ein anderes Mal träumte sie davon, die Ladenglocke würde eine alte reiche Dame ankündigen, die darüber klagte, dass sie gerne eine Kreuzfahrt durch die Karibik machen würde – aber ihr die passende Reisebegleitung fehlte. »Möchten Sie mich vielleicht begleiten? Sie wirken so nett.« Ein dritter Tagtraum beinhaltete einen Mann im förmlichen Anzug und mit einem großen Scheck unter dem Arm. Er würde sagen: »Herzlichen Glückwunsch, Ruth Lütz, Sie haben im Lotto gewonnen. Was machen Sie nun mit den zwanzig Millionen?« Plötzlich richteten sich Fernsehkameras auf sie, ein Mikrofon wurde ihr unter die Nase gehalten, Konfetti wurde geworfen. Gerade als Ruth diese Vorstellung auskostete, klimperte tatsächlich die Ladenglocke. Gespannt drehte sie sich um. Aber es war nur Imma van Hoorn, in einem orangefarbenen Filzmantel und mit ihrer wilden Turmfrisur. »Moin Ruth.«
»Moin Imma«, Ruth konnte ihre leichte Enttäuschung kaum verbergen. Imma hob ihren großen, geflochtenen Einkaufskorb mit afrikanischem Muster. »Ich hoffe, du hast einiges da, ich habe nämlich eine lange Liste«, sie wedelte mit einem eng beschriebenen Einkaufszettel. »Seit Minke bei mir wohnt, habe ich das Gefühl, mir werden die Haare vom Kopf gefressen.«
»Wie ist es denn, sie wieder bei dir zu haben?«
»Ach, schön – aber man fällt schnell wieder in alte Muster. Mutter – Kind, du weißt schon. Es gibt dazu ein paar interessante Theorien …«, während Imma redete, begann Ruth, die Einkaufsliste abzuarbeiten. Sie hörte nur mit halbem Ohr hin, Psychologie interessierte sie nicht besonders. Sie vertrug sich nicht mit Romantik und Gefühl. Ziemlich schnell füllte sich die Verkaufstheke mit den vielen Posten von Immas Einkaufsliste. »Oh, und ich sehe, du hast Pfirsiche im Glas?«, unterbrach sich Imma irgendwann selbst.
Ruth nickte. »Ich habe mehr Eingemachtes und Konserven bestellt, jetzt, wo der Sturm kommen soll.«
»Dann nehme ich noch zwei Gläser Pfirsiche.«
Die Gläser standen weit oben im Regal; Ruth musste eine Leiter holen, um an sie ranzukommen. Sie beschloss, erst den Rest der Einkaufsliste abzuarbeiten. Gerade als sie eine großzügige Scheibe Käse abschnitt, klingelte wieder die Ladenglocke. Arne, kein geborener Midsander, sondern Zugezogener, stand im Laden, mit matschigen Gummistiefeln an den Füßen. Er war der Mann von Nadine Frank, gemeinsam bewirtschafteten sie den Hof von Nadines Eltern. In den letzten Jahren hatten sie sich auf Halligbutter und Käse spezialisiert. »Moin die Damen«, sagte Arne gut gelaunt. »Ruth, ich habe wieder Butter für dich.«
Während Ruth ihm die Lieferung abnahm und in die Kühlfächer einsortierte, unterhielten sich Arne und Imma.
»Heute schon Zeitung gelesen?«, fragte Arne. »Das ist ja unglaublich mit diesem Skelett auf Nekpen. Und deine Minke als Kommissarin? Ganz schön aufregend. Kanntest du diesen Hinnerk?«
»Ja, aber nicht besonders gut«, Imma warf einen unbehaglichen Seitenblick auf Ruth. »Er war Ruths Schwager.«
»Ouh!«, machte Arne, »Ruth, das tut mir leid, ich wollte nicht …«
Ruth winkte ab.
»Wie geht es deiner Schwester?«, fragte Imma mitfühlend.
»Es ist natürlich ein Schock. Aber sie hält sich tapfer.«
Ruth erinnerte sich an die Pfirsiche, die sie Imma versprochen hatte. Sie griff nach der leichten Haushaltsleiter, die zu diesem Zweck immer in einer Ladenecke bereitstand, und trug sie zu dem Regal mit dem Eingemachten. »Ein Glas oder zwei, Imma?«, fragte sie und stellte die Leiter sorgfältig unter das Regal.
»Zwei, bitte.«
Ruth kletterte auf die Leiter. Währenddessen unterhielten Imma und Arne sich weiter. Ruth hörte kaum zu, sie war in Gedanken versunken. Dann, genau in dem Moment, als Ruth ihre Hand nach einem Glas Pfirsiche ausgestreckt hatte, fiel ihr Blick durch das Ladenschaufenster nach draußen. Dort im Regen stand jemand in einer dunklen Regenjacke. Sie erkannte ihn zunächst nicht, dann streifte er seine Kapuze ab und winkte ihr zu. Ruth erschrak. In diesem Moment klirrte etwas laut und spritzte über den Boden. Imma und Arne fuhren erschrocken herum. Ruth stand mit aufgerissenen Augen auf der Leiter. Ihr Arm war noch erhoben, unter ihr auf den schwarz-weißen Fliesen lag ein zerbrochenes Pfirsichglas, zwischen den Scherben die satt orangegelb glänzenden Pfirsichhälften. Ein süßlicher, fruchtiger Duft verbreitete sich im Laden.
»Entschuldigung«, stotterte Ruth, »es ist mir einfach aus der Hand gerutscht.«
Der Anruf auf Minkes Handy war ein Videoanruf. Als sie ihn annahm, tauchte Bos Gesicht auf dem Display auf. Er trug einen weißen Arztkittel und stopfte sich gerade den Rest eines Croissants in den Mund, bevor er es mit Kaffee herunterspülte. »Moin Schwester«, nuschelte er. »Na, hast du den Fall schon halb gelöst?«
Minke schnitt eine Grimasse.
»Ja, das dachte ich mir. Aber Hilfe naht, ich habe die ersten Obduktionsergebnisse. Dein genialer Bruder hat die halbe Nacht gepuzzelt, bis der Patient wieder vollständig war«, er hielt sein Handy so, dass die Kamera den Seziertisch aus Edelstahl im Rechtsmedizinischen Institut erfasste. Darauf lag tatsächlich ein Skelett, ausgestreckt, als würde es schlafen. Die bräunlich verfärbten Knochen wirkten geradezu bizarr natürlich in der sterilen Umgebung und unter dem grellen Neonlicht. »Mein Kollege Doktor Hinnerk Johannsen in seiner ganzen Pracht und Größe.« Bo drehte die Kamera wieder so, dass sein Gesicht auf dem Display erschien. »Und er war wirklich groß – etwa einen Meter neunzig, schätze ich.«
»Einundneunzig laut Vermisstenanzeige.«
»Na, dann habe ich ja gut geschätzt. Aber fangen wir an. Zuerst einmal – eindeutig ein Mann. Gut in Schuss, abgesehen von einer OP am rechten kleinen Zeh. Da wurde ein Stück Knochen entfernt, aber die muss sehr lange zurückliegen, das war alles sehr gut verheilt.« Die Kamera fuhr von den Fußknochen über das Schienbein zu den Knien. »Keine Arthrose, keine Verwachsungen, alles tipptopp.« Die Kamera glitt weiter über Becken und Wirbel. »Die Knochen sind allerdings merkwürdig porös, vielleicht beginnende Osteoporose – was das angeht, bleibe ich dran. Wobei er ja nicht an Osteoporose gestorben ist, also ist das wohl eher eine Fußnote.«
Die Kamera war nun beim Schädel angelangt. Die kerzengeraden Zahnreihen kamen ins Bild, wieder diese auffällig schönen Zähne. »Ein Zahnpastalächeln«, war Bos Stimme zu hören, »beneidenswert und – falls du dich das gefragt hast – echt. Nur ein einziges Loch. Für dich als Laie einfach ausgedrückt: oben hinten links. Mit einer Amalgammischung gefüllt, für die man heute seinen Zahnarzt verklagen könnte. Aber bis in die Achtziger war die völlig normal.«
Er machte eine Pause, in der er sich neu positionierte, nämlich so, dass Minke auf das Schädeldach sehen konnte. »Kommen wir zu dem, was dich eigentlich interessiert – die Todesursache. Auch hier gibt es keine Überraschungen, ich habe ja schon gestern auf dieser ekligen Matschwiese gesagt, dass er vermutlich erschlagen wurde. Und so ist es auch«, ein behandschuhter Finger kam ins Bild, Bo zeigte auf das Loch im Schädeldach – gezackt und unregelmäßig.
»Ein Schlag, er war sofort tot. Wahrscheinlich hat er kaum etwas mitbekommen.«
»Kannst du was zur Tatwaffe sagen?«
Bo seufzte. »Tja. Da kommt auch mein Genie an seine Grenzen. Nichts Spitzes. Nichts Breites. Nichts Flaches. Der berühmte stumpfe Gegenstand. Durchmesser des Lochs …, Moment«, er ging zu seinem Schreibtisch zurück und blätterte in seinen Unterlagen, »vier Zentimeter, sieben Millimeter. Falls dir das was hilft.«
»Gibt es Hinweise auf den Täter? Irgendeinen Anhaltspunkt?«
»Wenig. Ich glaube, es war ein Rechtshänder, aber das sind ja viele. Und ich gehe davon aus, dass der Täter oder die Täterin nahe an ihm dran war, als der Schlag ausgeführt wurde.«
»Eine Frau könnte es also auch gewesen sein?«
»Ja. Das Opfer war zwar groß, aber falls es einen Kampf gegeben hat oder er saß, könnte an seinen Kopf auch eine Frau rangekommen sein. Und wenn sie außerdem genug Wut hatte … Nein, ich würde eine Frau nicht ausschließen.« Er grinste in die Kamera. »Dass Frauen immer nur Gift benutzen, ist ein sexistisches Klischee. Der Schlag war jedenfalls nicht gerade zögerlich. Sieht für mich nach ordentlich Emotion aus. Warum, wieso, weshalb – das ist dein Part.«
Er räusperte sich. »Anderes Thema: Mama will demnächst ein Familienessen machen – du, ich, sie, und es soll Labskaus geben. Kannst du ihr das ausreden?«
»Ich mag Labskaus.«
Bo machte Würggeräusche. »Du passt wirklich in die friesische Provinz.«
Nachdem sie sich von Bo verabschiedet hatte, betrachtete Minke wieder ihre Wand. Sie wusste nun ganz sicher, was sie vorher schon vermutet hatte – Hinnerk Johannsen war ermordet worden. Sein Boot war vielleicht in Flammen aufgegangen, aber er war nicht auf dem Meer geblieben; jemand hatte ihn auf Nekpen vergraben. »Warum eigentlich?«, murmelte Minke. Warum machte sich jemand die Mühe, einen Einsneunzig-Mann in der schweren Halligerde zu vergraben? Warum hatte ihn sein Mörder nicht einfach in die Nordsee geworfen? Die nächste Ebbe hätte ihn vermutlich einfach aufs offene Meer hinausgezogen. Minke griff nach einem neuen Haftzettel. »Grab«, schrieb sie darauf und malte daneben ein dickes Fragezeichen. Dann klebte sie den Zettel an ihre Wand zu den anderen und schnappte sich die Schlüssel für den einzigen Polizeiwagen, den Jüstering besaß.
»Was willst du hier?«, fragte Ruth wispernd. »Das ist nicht gut, dass du jetzt herkommst.«
»Ich habe einen Job drüben im Pfarrhaus. Und na ja, ich habe die Zeitung gelesen«, antwortete der Mann. Sie standen hinter dem Halligladen im Regen.
»Ja, aber warum kommst du zu mir?«
»Weil ich dachte … na ja, dass wir vielleicht reden sollten.«
»Worüber? Es ist doch alles klar, oder nicht?«
Er nickte zögernd. »Ja, schon. Ich wollte nur wissen, na ja, wie es dir geht.«
Ruth entspannte sich. Sie schämte sich in diesem Moment ein wenig, dass sie bis eben so misstrauisch gewesen war. »Mir geht es gut«, sagte sie. »Und wie geht es dir?«
»Auch gut. Wenig Neues – das Geschäft läuft. Ach ja, ich bin geschieden – na ja, es hat einfach nicht mehr funktioniert.«
»Das tut mir leid.«
»Tanja ist mit den Kindern ausgezogen, aber ich sehe sie jedes Wochenende. Es war kein Rosenkrieg.«
Ruth lächelte. »Ich hätte von dir auch nichts anderes erwartet. Du bist immer so freundlich gewesen.«
Er lächelte zurück. »Ich muss los, der Pfarrer wartet. Es war schön, dich zu sehen.«
Die Praxis von Doktor Alexander Simon war elegant und befand sich in bester Lage. Schon das goldglänzende Praxisschild, die blütenweißen Wände und das Fischgrätenparkett verrieten, dass die Praxis gut lief und sich um Patienten, vermutlich viele private, nicht zu sorgen brauchte. Minke meldete sich am Empfangstresen bei einem schmalen Mädchen mit langem Pferdeschwanz an. »Doktor Simon hat gerade einen Patienten«, sagte sie mit säuselnder Stimme. »Aber danach kann ich Sie einschieben, Frau van Hoorn.«
»Danke.« Minke setzte sich auf einen der ergonomisch geschwungenen Wartestühle, die überall in Reih und Glied standen. Leise klassische Musik klang in der Luft, ein Zimmerbrunnen plätscherte leise. Schließlich nickte ihr die Arzthelferin zu. »Der Herr Doktor ist so weit«, sagte sie.
Minke folgte ihr in ein großzügiges Arztzimmer. Am gläsernen Schreibtisch saß ein Mann mit knochigem Pferdegesicht und Hornbrille, hinter ihm ragte ein Regal voller Medizinbücher auf. Auf dem Schreibtisch bildete das Knochenmodell einer liegenden Hand den einzigen Schmuck. Er stand auf. »Frau van Hoorn«, sagte er, »Sie sind die neue Kommissarin und wegen Hinnerk hier, richtig? Ich habe es in der Zeitung gelesen.«
Minke nickte und schüttelte ihm die Hand.
»Schrecklich, das mit Hinnerk«, sagte der Arzt und setzte sich wieder. Mit einer einladenden Geste bot er Minke ebenfalls einen Platz an. Sie setzte sich. »Möchten Sie vielleicht einen Tee? Oder einen Kaffee?«, fragte er.
»Nein, danke.«
Er nickte dem Mädchen mit dem Pferdeschwanz zu; sie ging und schloss die Tür hinter sich.
»Ich nehme an, Sie möchten mit mir sprechen, weil ich an dem betreffenden Abend auch auf Nekpen war.«
»Genau.«
»Ja, ich war damals zum Grünkohlessen eingeladen. Es war allerdings eher spontan. Ich erinnere mich noch daran, dass ich am Nachmittag mit Hinnerk telefoniert habe, und da hat er mich eingeladen.«
Minke sah auf seine Hände, an denen ein Ehering steckte. »War Ihre Frau auch dabei?«
»Oh nein, unsere Tochter hatte zu der Zeit gerade die Masern. Sybille blieb bei ihr.«
»Sie haben ja ein sehr gutes Gedächtnis. Das alles ist doch dreiunddreißig Jahre her.«
»Ja, aber nicht jeden Tag erfährt man, dass der Freund, bei dem man am Abend zuvor beim Essen war, verschwunden ist. Da brennt sich alles ein.«
»Möglich …«, Minke ließ den Blick über den Raum schweifen. Jedes einzelne Möbelstück sah teuer aus.
»Wie war der Abend denn?«, fragte sie. »Wenn sich alles in Ihr Gedächtnis eingebrannt hat, können Sie sich ja vielleicht auch noch an Einzelheiten erinnern.«
Doktor Simon legte seine hohe Stirn in Falten. Er war kein gutaussehender Mann, hatte aber eine angenehme Ausstrahlung. »Oh, es war ein netter Abend. Esther kocht sehr gut, wissen Sie. Wir haben uns unterhalten, es gab Grünkohl mit Pinkel, das klassische friesische Winteressen, und später noch Esthers hervorragendes Schokoladensoufflé. Es war wirklich ein netter Abend.«
»Und Hinnerk?«
»Der war gerne Gastgeber. Er hat gerne eingeladen und mochte … na ja, Feste und gesellschaftliche Anlässe. Er zeigte gerne, was er hatte. Sein Haus und so weiter.«
»Sie waren Freunde?«
»Ja, wir kannten uns schon seit dem Studium in Hamburg. Wir haben dort gemeinsam gewohnt, gemeinsam studiert, gemeinsam die Prüfungen gemacht – und dann waren wir plötzlich Ärzte.« Doktor Simon lächelte wehmütig. »Er ist dann hierher zurückgegangen, er kam ja von hier, besser gesagt von Nekpen. Und ein paar Monate später hat er mich auf eine Stelle im Jüsteringer Krankenhaus aufmerksam gemacht. Ich habe zugeschlagen. Wir – Sybille und ich – haben uns sofort in das Städtchen verliebt. Der Strand, das Meer, die Klippen, es ist einfach wunderschön.«
»Waren Sie auch mit Esther befreundet?«
Wieder runzelte sich die Stirn. »So wie man eben befreundet ist mit der Frau seines Freundes. Sie war ja sehr jung, als sie heirateten – zwölf Jahre jünger als Hinnerk und ich. Man konnte natürlich verstehen, warum sie Hinnerk aufgefallen war, sie war ja wirklich sehr hübsch. Ist es immer noch.«
»Sie haben noch Kontakt?«
Täuschte sie sich, oder glitt ein Schatten über das Gesicht des Arztes. »Hin und wieder.«
Minke erinnerte sich an ihre Zettelwand, besonders an einen der Zettel. »Die anderen haben ausgesagt, dass Hinnerk spät abends noch zu einem Patienten aufgebrochen ist. Vermutlich jemandem auf Midsand.«
Doktor Simon nickte.
»Wissen Sie zufällig, wer das gewesen ist?«
»Nein. Hinnerk hat es nicht gesagt, und ich habe nicht gefragt. Der Name hätte mir vermutlich auch nichts gesagt. Ich war ja damals Arzt im Krankenhaus, da kennt man die Patienten nicht so persönlich wie als Hausarzt.«
»Und wann haben Sie erfahren, dass Hinnerk … sagen wir mal, etwas zugestoßen war?«
»Morgens. Da wurde ja das Boot gefunden, völlig ausgebrannt. Es war eine klare Sache – Hinnerk war über Bord geschleudert worden. Entweder hatte er durch den Aufprall schon tödliche Verletzungen oder er war im kalten Nordseewasser ertrunken. Ich als Arzt habe eine Vorstellung davon, was solch kaltes Wasser mit dem Körper anrichtet. Da hat man wenig Chancen.«
»Tja, irgendwie erzählen mir alle dieselbe Geschichte, jeder, der bei diesem Grünkohlessen am Tisch saß.«
Doktor Simon lächelte. »Wahrscheinlich, weil es eben einfach so war, Frau van Hoorn.« Er räusperte sich. »Gut, ich versuche, mich an Details zu erinnern. Vielleicht haben Sie die ja noch nicht gehört. Es gab Schokoladensoufflé zum Nachtisch …«
»Das weiß ich schon.«
» … und irgendwann gab es einen kurzen Stromausfall, weil der Generator auf der Nachbarwarft kaputtging. Es war ein scheußlicher Winter damals.«
»Das mit dem Stromausfall ist tatsächlich endlich einmal etwas Neues«, Minke verzog das Gesicht, »aber Hinnerk ist nicht gestorben, weil er in eine Steckdose gefasst hat.« Sie sah ihn an. »Haben Sie eine Idee, wie er mit einem eingeschlagenen Schädel in der Halligwiese gelandet ist?«
Doktor Simon zuckte zusammen. »Das hätten Sie aber nicht so brutal ausdrücken müssen«, sagte er.
»Tut mir leid – das, was Ihrem Freund da passiert ist, war auch brutal.«
Die Arzthelferin erschien wieder. »Doktor Simon, die Patienten warten.«
Er nickte ihr zu und stand auf. »Sie sehen, ich muss weiterarbeiten. Aber zu Ihrer Frage: Nein, ich habe keine Ahnung. Ich kann es mir nicht erklären.« Er reichte ihr die Hand. »Melden Sie sich gerne, wenn es noch Fragen gibt. Ich werde versuchen, sie zu beantworten.«
Von unterwegs versuchte Minke, David zu erreichen. Er hatte ihr seine Nummer an dem Abend im »Halligprinzen« eingespeichert. »Für alle Fälle«, hatte er gesagt und gegrinst. Dass jetzt allerdings so ein Fall der Grund war, ihn anzurufen, hätte keiner von ihnen kommen sehen. Sie wollte mit ihm reden, um die Reihe vollständig zu machen. Mit Christine Holt konnte sie nicht mehr reden, also war David der Einzige, der an dem Abend auf Nekpen gewesen war und mit dem sie sich noch nicht unterhalten hatte. Aber sein Handy war ausgeschaltet. Minke geriet nur an die automatische Bandansage, der Teilnehmer sei momentan nicht zu erreichen. Sie warf ihr Handy auf den Beifahrersitz. Als sie am Hafen vorbeifuhr, beschloss sie spontan, eine Pause für ein schnelles Mittagessen einzulegen.
Der Fischbrötchenstand am Jüsteringer Hafen war legendär, berühmt vor allem für seine Krabbenbrötchen. Im Sommer war er vor Touristen beinahe überlaufen, jetzt, an diesem verregneten Herbsttag waren kaum Gäste da. An den drei Stehtischen, die wegen des Regens unter das Vordach des Stands gequetscht worden waren, standen nur zwei Hafenarbeiter und stopften jeder ein Fischbrötchen in sich hinein. Minke stieg aus und ging durch den Regen auf den Stand zu. Hier hatte sie oft mit ihrem Vater Krabbenbrötchen gegessen, es war so ein Ding zwischen ihnen gewesen. Sie waren dann mit ihren Krabbenbrötchen am Strand entlanggegangen, hatten manchmal geredet und manchmal auch nicht und hatten sich die Meeresbrise um die Nase wehen lassen. Jetzt, als Minke zum ersten Mal seit vier Jahren wieder auf den Fischbrötchenstand zuging, hatte sie mit jedem Schritt mehr das Gefühl, ihre Beine verwandelten sich in Blei. Gerade wollte sie auf dem Absatz kehrtmachen, als der Brötchenverkäufer sie entdeckte.
»Hey!«, rief er ihr mit dem geübten Organ eines nordfriesischen Fischverkäufers zu, »Blondie! Dich habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen, aber ich erinnere mich noch. Solche hellen Friesenprinzessinnenhaare vergisst man nicht.«
Minke schluckte. Dann gab sie sich einen Ruck und ging auf den Stand zu. Die beiden Hafenarbeiter beobachteten sie. »Krabbenbrötchen hast du immer gegessen, stimmt‘s? Immer mit einem älteren Herrn.«
»Ja.« Ihr Kloß im Hals wurde nicht kleiner.
»Also wieder Krabbenbrötchen – auch wenn du heute alleine bist?«
Sie wollte nicken, aber sie konnte es nicht. »Ähm, nein, Backfisch bitte.« Backfischbrötchen waren neutral, sie verband nichts damit und machte sich wenig daraus.
Der Verkäufer runzelte die Stirn, als er ihr das Brötchen reichte. Minke bezahlte und floh zurück in den Regen. Sie zog sich die Kapuze ihres Regenmantels über und ging in Richtung Hafenkante, während sie in das Brötchen biss. Es war okay, mehr aber auch nicht.
Die Ebbe kam sichtlich, der Strand hatte sich im Laufe des Vormittags schon deutlich verbreitert, in ein paar Stunden würde hier nur Watt sein, so weit das Auge reichte. Eine Möwe näherte sich Minke und sah sie aufmerksam an. Offensichtlich hoffte sie, dass etwas für sie abfiel. Minke biss ab, kaute, schluckte, biss wieder ab. Es wollte ihr nicht schmecken. Der Regen fiel auf ihre Hände und ging ihr auf die Nerven. Es war kein Wetter, um Fischbrötchen draußen zu essen. Aber um nichts in der Welt wollte sie sich an den Stand stellen. Schließlich gab sie auf. »Da«, sie zupfte den Rest des Brötchens in kleine Stücke, die sie der Möwe vor die gelben Füße warf. Begeistert stürzte die sich darauf, in ein paar Augenblicken gesellten sich noch weitere Möwen dazu. Minke sah ihnen beim Fressen zu, bis keine Spur mehr von dem Brötchenrest zu sehen war. Dann nahm sie ihr Handy und rief noch einmal bei David an. Erstens, weil sie mit ihm wegen Hinnerk reden wollte, zweitens, weil sie überhaupt mit ihm reden wollte. Aber immer noch war sein Handy nicht erreichbar. Minke steckte ihres wieder ein. Die Möwen sahen sie auffordernd an, als erwarteten sie ein zweites Backfischbrötchen. »Ich habe zu tun, Mädels«, sagte sie. »Die Straubs erwarten mich. Die Einzigen mit einem Motiv – ihr versteht also, warum das wichtig ist.«
Birgit und Heiner Straub wohnten in einem biederen Einfamilienhaus in einer in die Jahre gekommenen Neubausiedlung im Süden von Jüstering. Im Garten standen Gartenzwerge, und jedes einzelne Fenster war mit Gardinen versehen, um neugierige Blicke abzuhalten. Minke ging über den Gartenweg aus Waschbetonplatten zur Haustür und klingelte. Eine Frau mit grauer Dauerwelle und rundem Gesicht öffnete. »Moin, Frau Straub, wir haben telefoniert.«
»Sie sind die Kommissarin?«
»Ja.«
»Sie sehen so unglaublich jung aus.«
»Danke«, Minke hatte nicht vor, ihre Kompetenz in Frage stellen zu lassen. »Darf ich reinkommen?«
Im Wohnzimmer, in das die Frau sie führte, saß ein Mann auf dem Sofa und las Zeitung. Er trug einen ballonseidenen Jogginganzug in Flieder; vor ihm stand auf dem ausklappbaren Wohnzimmertisch mit Häkeldeckchen ein Kaffeebecher. Dieser Fall führt mich in sehr unterschiedliche Häuser, dachte Minke: die Eleganz von Jaspers Deichgrafenhaus, die penible Sauberkeit bei Esther Johannsen, der überbordende Kitsch in der Wohnung von Geert und Ruth und nun dieses etwas betagte Wohnzimmer im Gelsenkirchener Barock. Heiner Straub sah auf, als Minke hereinkam.
»Die Kommissarin ist hier«, sagte seine Frau überflüssigerweise. Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie so auf den Tisch, dass die Schlagzeile zu Hinnerk gut zu sehen war.
»Möchten Sie etwas trinken? Und vielleicht ein paar Kekse?«
Minke, die immer noch Hunger hatte, nickte. Frau Straub verschwand.
»Also, Sie sind wegen dem dort hier«, Heiner Straub zeigte auf die Zeitung. »Hab ich recht?«
»Ja. Wegen Hinnerk Johannsen.«
»Diesem Arschloch.« Heiner Straub spie das Wort aus. »Ein verdammtes Arschloch!«
Seine Frau kam mit einem offensichtlich schon im Voraus angerichteten Tablett zurück. Auf dem Tablett war eine Dünenlandschaft abgebildet, darauf standen eine Kaffeekanne mit braunem Muster und ein Teller mit Butterkeksen. Sie starrte ihren Mann an. »Heiner!«
»Ist doch so.«
Birgit Straub stellte das Tablett ab und goss für alle Kaffee ein. Minke biss hungrig in einen Keks.
»Die Obduktion hat ergeben, dass er erschlagen wurde«, sagte sie. »Es muss viel Wut im Spiel gewesen sein.«
Heiner ließ sich davon nicht beeindrucken. »Wut auf den Kerl, das verstehe ich.«
»Bisher sind Sie da der Einzige«, antwortete Minke. »Bisher erzählen alle nur Gutes.«
Birgit setzte sich neben ihren Mann auf das Sofa. Ihre etwas teigigen Finger hielten ihre Kaffeetasse, sie war blass geworden.
»Egal, was Doktor Johannsen getan hat – wir könnten niemandem etwas zuleide tun«, sagte sie. »Das müssen Sie uns glauben.«
Minke biss in den nächsten Keks. Bisher konnte sie sich die beiden mit den Gartenzwergen im Vorgarten und der Schrankwand im Wohnzimmer tatsächlich nur schwerlich als Mörder vorstellen. »Aber erklären Sie mir doch, warum man mir dann überhaupt Ihren Namen nennt.«
»Wegen Stefanie. Dieser Quacksalber hat unsere Tochter auf dem Gewissen«, rief Heiner.
»Heiner, sie lebt noch.«
»Ja, aber sie ist nicht mehr meine Stefanie, die sie mal war.«
Minke verfolgte den Wortwechsel. »Wie ist sie denn?«, fragte sie. »Stefanie, meine ich.«
Birgit tauschte einen Blick mit ihrem Mann. »Wollen Sie sie sehen?«
Das Zimmer, in dem Stefanie bei ihren Eltern wohnte, hatte bunte Buchstaben an der Türfüllung kleben, die ihren Namen bildeten. Es sah aus wie die Tür eines Kinderzimmers. Als Birgit die Tür öffnete, war Minke erstaunt. Der Raum hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Zimmer auf einer Intensivstation als mit einem Raum in einem bescheidenen Einfamilienhaus. In der Mitte stand ein Pflegebett, es gab verschiedene Geräte, außerdem einen Rollstuhl, Medizin stand auf dem Nachttisch. Im Bett lag eine Frau mit langen Haaren, durch die sich graue Strähnen zogen. Die Gesichtszüge waren völlig entspannt – unnatürlich entspannt. Der linke Mundwinkel hing zur Seite nach unten; die Augen waren halb geöffnet. Ihr Alter war, abgesehen von den grauen Strähnen, nur schwer zu schätzen.
»Sie liegt im Wachkoma. Nächsten Sommer werden es vierunddreißig Jahre«, sagte Heiner Straub bitter.
»Unser Dornröschen«, seine Frau strich Stefanie übers Haar.
Vierunddreißig Jahre, dachte Minke, das war unvorstellbar lange für einen solchen Zustand. Sie trat ein bisschen näher ans Bett und stellte sich Stefanie vor, nur für den Fall, dass sie sie hören konnte. »Was ist passiert?«, fragte sie dann.
Birgit begann zu erzählen. »Es war im Sommer, Stefanie hatte Schulferien und war ständig mit ihren Freundinnen am Strand zum Baden. Sie ist immer sehr gerne geschwommen und getaucht. Zum letzten Geburtstag hatte sie ein Gummiboot von uns bekommen, das hatte sie sich gewünscht. Knallrot, wie in dem Lied.«
»Hätten wir es ihr nur nicht geschenkt«, knurrte Heiner, während er die Hand seiner Tochter streichelte.
»Stefanie hatte es auch an diesem Tag dabei. Sie paddelten den Strand entlang, bis ans Ende der Steilklippen.«
»Beim Leuchtturm?«
»Ja, dort, wo die Felsen beginnen. Ich weiß nicht, was sie sich dabei gedacht haben. Jedenfalls ist Stefanie vom Boot aus ins Wasser gesprungen. Sie muss dabei mit dem Kopf auf einen Stein gestoßen sein, der im Meer verdeckt lag.«
»Ihre Freunde haben sie herausgezogen und den Notarzt gerufen«, sagte Heiner. »Und derjenige, der an diesem Tag Dienst hatte, war Doktor Johannsen.«
»Er hat Stefanie untersucht, aber gesagt, es sei nichts weiter. Nur eine schwere Gehirnerschütterung, und dass sie vielleicht ein bisschen simuliere«, nun rannen Tränen über Birgits Wangen. »Simulieren, können Sie sich das vorstellen? Wir konnten doch sehen, dass es ihr überhaupt nicht gut ging. Sie hat wirr geredet, sagte, sie würde doppelt sehen. Aber Doktor Johannsen hat gesagt, es käme schon alles in Ordnung. Er hat sich überhaupt keine Sorgen gemacht, im Gegenteil, er war sehr gut gelaunt. Wir haben dann natürlich gemacht, was er gesagt hat – er war ja der Arzt. Wir haben Stefanie zu Hause ins Bett gesteckt.«
Birgit sah auf ihre Tochter hinunter. »Und als ich nach einer halben Stunde nach ihr sah, war sie so.«
»Es war keine Gehirnerschütterung?«
»Nein, es war ein schweres Schädel-Hirn-Trauma.« Heiner musste offensichtlich an sich halten, um nicht zu schreien. »Es ist selten, dass Patienten bei so etwas zuerst noch ansprechbar sind, aber bei Stefanie war es so. Dann ist sie ins Koma gefallen. Hätte …«, er atmete tief durch, »hätte er es erkannt und sie ins Krankenhaus gebracht, vielleicht hätte man ihr noch helfen können. Aber das werden wir nie erfahren.« Wütend ballte er die Faust.
Das, dachte Minke, während sie in die schlaffen Züge von Stefanie sah, ist in der Tat ein Motiv.
Als sie wieder draußen vor Stefanies Tür standen, sah sie von einem zum anderen.
»Los, fragen Sie«, sagte Heiner angriffslustig. »Fragen Sie, ob ich ihn umgebracht habe. Nein, habe ich nicht. Aber dem, der es getan hat, dem würde ich gerne eine Dankeskarte schreiben.«
»Wo waren Sie denn am 16. Januar 1987?«, fragte Minke. Sie rechnete mit keiner wirklichen Antwort. Wer wusste schon, wo er an einem Tag vor dreiunddreißig Jahren gewesen war?
Kurz herrschte Schweigen. Dann sagte Birgit: »In Nyborg waren wir da. Ganz bestimmt. Dort gibt es ein Rehazentrum für solche Patienten wie unsere Stefanie, und dort waren wir mit ihr.«
Heiner sah seine Frau verblüfft an, dann nickte er. »Stimmt. Als wir wiederkamen, war dieser Scharlatan schon verschwunden. Hat mich nicht weiter gejuckt.« Er sah Minke direkt an. »Juckt mich auch heute nicht.«
»Vor seinem Verschwinden haben Sie ihn immerhin verklagt.«
»Ja, und es brachte uns nichts. Er wurde in allen Punkten freigesprochen.« Heiner schnaubte. »Es war lachhaft. Er hatte einen Kollegen da, der wie eine Marionette alles sagte, was Hinnerk hören wollte.«
Minke runzelte die Stirn. »Wie hieß dieser Kollege?«
»Ich weiß es nicht mehr. Es war irgendein Name, also ein Vorname, meine ich. Ein Vorname als Nachname.«
Minke stutzte. »Simon?«
»Ja, genau.«
Während Linda in ihrer Obergeschosswohnung auf Nekpen Biologieklausuren ihrer zehnten Klasse korrigierte und Felix in Jüstering am Hafen arbeitete, saß Esther mit ihrer Enkelin Emily auf dem Sofa in Esthers Wohnzimmer. »Ich verstehe das nicht – Opa wurde also umgebracht? So wie im Film? Wie im Tatort?«
»Er wurde erschlagen, ja.« Esther hatte gerade erst mit Minke telefoniert, die ihr die Obduktionsergebnisse mitgeteilt hatte.
»Und dann hat ihn jemand dort draußen auf der Wiese vergraben?«
»Ja.«
»Aber warum?«
»Das versucht die Polizei herauszufinden.«
Emily schwieg. Ihr Handy lag auf dem Wohnzimmertisch, sie hatte es schon auffallend lange nicht in die Hand genommen. Offensichtlich faszinierte sie der Tod ihres Großvaters, den sie nie kennengelernt hatte, genug, um sogar ihren Freund für eine kurze Zeit zu vergessen.
Esther sah auf die Uhr. Dienstags machte sie gewöhnlich die Wäsche, bügelte und ging bei Ruth drüben in Midsand einkaufen. Die ersten beiden Punkte hatte sie schon erledigt. Fein säuberlich und so akkurat gefaltet, als kämen sie aus einer professionellen Reinigung, lagen die Blusen, Hosen und Pullover in Stapeln im Wäschekorb neben Esther. Aus Gewohnheit, ein Blick, den sie sich vor vielen Jahren antrainiert hatte, nahm Esther den Raum in Augenschein, auf der Suche nach etwas, das nicht in Ordnung war: ein Stäubchen, ein Bild, das nicht völlig gerade hing, ein Sofakissen, das nicht aufgeschüttelt war. Diesen prüfenden Blick hatte sie sich in ihrer Ehe angewöhnt, um Hinnerk alles recht zu machen. Er wollte ein perfektes Haus, und sie sorgte dafür. Der Blick war ihr genauso in Fleisch und Blut übergegangen wie die wöchentliche Maniküre, der Friseurtermin alle vier Wochen, die Gewohnheit, sich zum Abendessen immer hübsch anzuziehen. Gegen diese Gewohnheiten, die einmal so tief in sie hineingepflanzt worden waren, war sie machtlos.
»Wie war Opa so?«, fragte Emily und riss Esther aus ihren Gedanken. »Ich kenne ihn ja gar nicht.«
»Soll ich ein Fotoalbum holen?«
Emily nickte begeistert.
Als Esther das Fotoalbum aus ihrem ersten gemeinsamen Jahr mit Hinnerk aufschlug, strömten die Erinnerungen auf sie ein. Sie hatte sich diese Fotos schon lange nicht mehr angesehen.
»Das hier waren wir, als wir uns gerade erst kennengelernt haben.« Esther tippte auf ein Bild, das sie neben Hinnerk in einem Cabrio zeigte.
»Schönes Auto. Hat das Opa gehört?«
»Ja.«
»Aber er hat es doch hier auf Nekpen gar nicht gebraucht.«
»Stimmt, aber in der Stadt schon. Er hatte dort eine Garage gemietet, und an den Wochenenden, wenn er nicht in der Praxis war, fuhr er mit mir über Land, und wir gingen essen, oder er zeigte mir irgendein altes Schloss oder ein Museum oder irgend so etwas. Opa kannte sich mit so vielem aus; er war ja auch viel älter als ich.«
»Wie viel älter?«
»Zwölf Jahre. Er war dreißig, als wir geheiratet haben.«
Emily riss die Augen auf. »Und du achtzehn? Nur drei Jahre älter als ich? Das ist doch viel zu jung zum Heiraten.«
Esther lächelte. »Das haben meine Eltern damals auch gesagt. Aber ich wollte ihn unbedingt heiraten. Ich habe ihnen gesagt, dass ich sterbe, wenn ich es nicht tue. Und er hat ihnen versichert, auf mich aufzupassen.«
»Du warst also richtig in ihn verliebt?«
Esther sah auf das Bild. Ihr lachendes, junges Mädchengesicht im Cabrio, die Haare zerzaust, sie trug ein gepunktetes Kleid, das sie noch ein bisschen jünger wirken ließ, als sie sowieso schon gewesen war. Hinnerk daneben, braun gebrannt mit seinen herrlichen Zähnen. Er lachte und hatte den freien Arm um sie gelegt. Alles an ihm drückte Stolz aus. »Ich war völlig verrückt nach ihm«, antwortete Esther.
Emily musterte das Foto. »Er sah richtig gut aus, finde ich. Wie James Bond oder so.« Sie sah ihre Großmutter an. »Und du siehst aus wie ein Model.«
»Danke.«
»Sehe ich dir ähnlich?«
Esther lächelte. »Natürlich. Das habe ich schon oft zu Linda gesagt.« Sie beobachtete, wie sich auf Emilys Gesicht Erleichterung zeigte. Junge Mädchen wollten immer unbedingt schön sein, dachte Esther. So war es bei mir auch. Ich wollte um jeden Preis die Schönste sein – für alle, und besonders für Hinnerk.
»Wo habt ihr euch kennengelernt – Opa und du?«
»Beim Kapitänsball. Den gab es damals noch in Jüstering, und Ruth hatte mich mitgenommen. Ich war eigentlich noch zu jung, aber ich wollte unbedingt, und ich durfte schließlich, weil meine große Schwester dabei war. Hinnerk war auch da. Ich glaube, damals haben sich alle Mütter mit unverheirateten Töchtern in Jüstering und auf den Halligen gewünscht, dass Hinnerk ihr Schwiegersohn wird.«
»Und dich hat er genommen.«
»Ja. Er hat mich beim Kapitänsball aufgefordert und dann den ganzen Abend nur mit mir getanzt. So haben wir uns kennengelernt.«
Emily blätterte um. Es folgten Hochzeitsbilder: Hinnerk im Smoking, Esther in einem überbordenden Brautkleid. Emily kicherte. »Oma, du warst ja wirklich megahübsch und so, aber darin siehst du aus wie ein Wattebausch.«
»Das war damals Mode.«
In diesem Moment fiel Esther eine Vase ins Auge, die am anderen Ende des Raumes auf einem Beistelltischchen stand. Die Lilien darin waren noch nicht verblüht, aber eine davon ließ schon ein wenig den Kopf hängen. Der gelbe Blütenstaub würde sich dort sicher schon überall verteilen und Flecken hinterlassen. Esther wurde unruhig. Sie wollte den Moment mit Emily nicht unterbrechen, aber dieser Blütenstaub … Sie spürte, wie sie nervös wurde.
»Du siehst da richtig glücklich aus«, sagte Emily in diesem Moment. Sie hatte inzwischen die Seite mit den Fotos aufgeschlagen, die Esther und Hinnerk beim Hochzeitstanz zeigten. Esthers mädchenhaftes Gesicht an Hinnerks starke Schulter gelehnt.
»Ich war sehr glücklich.«
»Habt ihr eine Hochzeitsreise gemacht?«
Esther, die Augen auf die Lilienblüte gerichtet, nickte. »Wir waren in Italien. Hinnerk meinte, dass ich die Antike kennenlernen sollte. Es war ihm wichtig, mir etwas beizubringen. Ich war ja nicht viel mehr als ein Schulmädchen.«
Sie ertrug es nicht mehr. Abrupt stand sie auf, durchquerte den Raum und zog die abgeknickte Lilie aus der Vase, wobei sie peinlich genau darauf achtete, keine der anderen Blüten anzustoßen. Tatsächlich hatte sich schon Blütenstaub auf dem Zierdeckchen verteilt. Esther zog das Deckchen weg.
»Oma?«, fragte Emily vom Sofa her.
»Hm, hast du etwas gesagt?«
»Ja, ich habe gefragt, ob du traurig warst, als Opa nicht mehr da war.«
»Oh, natürlich, Schatz, natürlich.« Esther war zerstreut. Sie hielt das Deckchen in der Hand und dachte krampfhaft darüber nach, wie man am besten Lilienflecken entfernte.
»Aber mit achtzehn heiraten ist trotzdem viel zu jung«, sagte Emily, die inzwischen doch wieder das Handy zur Hand genommen hatte. »Echt pervers irgendwie.«
Brennspiritus, dachte Esther erleichtert. Mit einem Wattebausch und Brennspiritus – endlich war es ihr wieder eingefallen. Sie beruhigte sich.
Minkes Handy krächzte schon wieder. Sie war auf der Rückfahrt von den Straubs zur Polizeiwache und stutzte, als sie sah, dass der Anruf von dort kam. Wenn Klaus wieder über das Partybüfett reden will, dachte sie, dann schreie ich. »Moin, Klaus.«
»Hallöchen, wo treibst du dich rum? Gondelst durch die Weltgeschichte und hast Spaß, während ich hier hart als dein Anrufbeantworter arbeiten muss.«
»Was meinst du?«
»Eben hat hier eine junge Dame angerufen. Klang hysterisch, wenn du mich fragst.«
»Und warum war sie hysterisch?«
»Ihr Chef ist heute anscheinend nicht zur Arbeit erschienen. Normale Menschen führen da ja einen Freudentanz auf, aber die nicht. Jedenfalls: Ich habe gesagt, du meldest dich bei ihr.«
»Wo arbeitet sie denn?«
»In der Seehundstation. Ihr Chef ist dieser Schönling, der Sohn vom Deichgrafen – Dingens Holt, ich komm gerade nicht drauf.«
Minkes Herz setzte einen Schlag aus. »David.« Sie hatte ihn den ganzen Tag nicht erreicht. Das war ihr schon merkwürdig vorgekommen.
»Ja, genau. Dingens, David – beides fängt mit D an.« Klaus lachte sein röhrendes Lachen. »Wahrscheinlich ist die Kleine verknallt in ihn und regt sich deshalb so auf. Ach so, Mäuschen, was ich noch fragen wollte, wegen diesem Büfett …«
Minke legte einfach auf. Dann gab sie Gas.
Die Seehundstation Jüstering war am Rand der Steilküste gebaut worden. Die Anlage war groß; mit vielen Becken für die Seehunde, die hier aufgepäppelt wurden, und mit einem kleinen Museum für Besucher. Auf dem Parkplatz standen zwei Autos, eines davon war ein Amphibienfahrzeug – ein Geländewagen, der auch über das Watt fahren konnte, wichtig für Notfalleinsätze.
Minke parkte daneben und ging zum Eingang. Sie war schon lange nicht mehr hier gewesen, aber es sah alles noch vertraut aus. Als sie noch Meeresbiologie studiert hatte, hatte sie hier in den Semesterferien ab und an gejobbt. David hatte damals noch nicht hier gearbeitet. Schon gleich nachdem sie die Station betreten hatte, kam ihr eine aufgeregte junge Frau entgegen. Sie trug eine rote Arbeitshose mit dem Emblem der Seehundstation und einen braunen Bob, der ihren schmalen Hals betonte und sie ein wenig französisch aussehen ließ. Ihre braunen Rehaugen waren vor Schreck weit aufgerissen. Minke kam sie vage bekannt vor. Die Frau dagegen erkannte sie sofort: »Minke!«, rief sie. »Gott sei Dank, dass du da bist! Ich hatte fast den Eindruck, dass dein Kollege mich nicht ernst genommen hat.«
Minke sparte sich eine Antwort. Die Frau begriff offensichtlich, dass sie nicht wusste, wen sie vor sich hatte.
»Ich bin‘s, Diana«, sagte sie, »weißt du nicht mehr? Ich war Schülerpraktikantin, als du als Studentin hier gejobbt hast. Du warst unglaublich gut, hattest ein unheimliches Händchen für Robben.«
»Danke. Und du bist hiergeblieben?«
»Ja. Seit einem Jahr bin ich fest hier.« Diana lächelte. »Es ist so schön, hier zu arbeiten. Mit den Tieren, und mit David – ich meine, mit meinen Kollegen.«
Sieh mal an, dachte Minke. Da hat Klaus wohl tatsächlich ausnahmsweise ins Schwarze getroffen.
»Du machst dir also Sorgen um David?«
Diana nickte. »Er kommt normalerweise als Erster morgens, macht schon mal den ersten Rundgang durch die Gehege und so weiter. Aber als ich um neun heute Morgen kam, war hier niemand. Alles war noch abgeschlossen, die Rollläden unten, und die Robben hatten Hunger.«
»Sonst arbeitet niemand hier?«
»Doch, aber Sandra hat seit Tagen eine Grippe, und Franzi ist im Urlaub. Es ist also sowieso schon knapp … und dann kommt David heute einfach nicht, obwohl er das weiß. Er hätte heute Nachmittag eine Kindergruppe führen sollen, aber ich erreiche ihn einfach nicht.«
»Stimmt, ich auch nicht.«
Diana sah sie verdutzt an, aber sie sammelte sich schnell wieder. »Das ist alles total untypisch für ihn«, fuhr Diana fort. »Er ist sehr zuverlässig. Ein toller Chef. Wirklich toll.«
»Hast du schon auf der Anlage überall nachgesehen?«
»Ja, natürlich.«
Trotz Dianas Versicherung ließ Minke es sich nicht nehmen, selbst noch einmal nachzusehen. Sie sah in jedes Gehege und in jedes Robbenbecken, immer mit der Furcht, vielleicht dort unten im Wasser zwischen den vergnügt schwimmenden Seehunden einen leblosen Körper zu entdecken. Aber alles war in Ordnung. Sie ließ sich von Diana Davids Büro zeigen. Über dem Schreibtisch hingen Schichtpläne, Fütterungslisten, angemeldete Schulklassen, Kindergärten. Dazu ein Foto von David und drei Frauen in den gleichen roten Arbeitshosen. Es war nicht zu übersehen, wie Diana David auf dem Bild anschmachtete.
»Das war beim Sommerfest«, erklärte sie. »David hat das eingeführt. Er ist so ein wunderbarer Chef.«
»Jaja.« Diana begann Minke auf die Nerven zu gehen. »Ich seh mich mal draußen um.«
Aber auch draußen gab es nichts Auffälliges. Der Parkplatz war bis auf den Geländewagen, der der Station gehörte, das Polizeiauto und das von Diana leer. Nur eine Möwe stolzierte mit scheelem Blick über die Asphaltfläche. Die Klippen waren mit kurzem grünem Weidegras bewachsen, so weit das Auge reichte. Ein Mensch wäre auf Kilometer sichtbar gewesen, aber da war niemand – nur Gras, Meeresluft und Wind. Minke ging mit mulmigem Gefühl bis zur Klippenkante. Die Steilklippen nördlich von Jüstering waren in ganz Nordfriesland berühmt. Minke sah auf den feinen weißen Strand weit unter ihr. Sie hatte beinahe befürchtet, dort unten Davids Körper zu sehen, verunglückt und regungslos – aber der Strand war leer. Bei dem schlechten Wetter ging dort nicht einmal jemand mit dem Hund spazieren. Minke war weit und breit der einzige Mensch. Sie sah hinaus auf die weite Nordsee, die inzwischen das Watt wieder zu überspülen begann. Im Regenwetter sah sie bleigrau und kalt aus. Der Wind pfiff, die Regentropfen fühlten sich an wie feine Nadelstiche. Minke kramte ihr Handy heraus und wählte noch einmal Davids Nummer, obwohl sie das Ergebnis schon kannte. Tatsächlich startete wieder nur die Bandansage. Minke wählte die Nummer von Jasper Holt auf Nekpen. Vielleicht war David ja ganz einfach bei seinem Vater.
»Jasper Holt?«
»Minke hier. Herr Holt, ist David bei Ihnen?«
»Nein, wieso?«
Minke hielt es zum jetzigen Zeitpunkt für unnötig, den alten Deichgrafen aufzuregen. »Ich wollte ihn nur sprechen und erreiche ihn nicht. Hat er sich heute schon bei Ihnen gemeldet?«
»Ja, heute Morgen ganz früh. Er hat mir gesagt, dass er es heute doch nicht nach Nekpen schafft. Wollte mir eigentlich mit dem Dach helfen, an einer Stelle gammelt das Reet.«
»Hm, okay. Danke.«
Minke sah sorgenvoll zum Horizont, wo sich das Blaugrau des Meeres im Blaugrau des Herbsthimmels verlor. Vielleicht war es übertrieben – aber sie hatte kein gutes Gefühl.
David Holt sank entmutigt auf den Boden. Die letzten Stunden hatte er damit verbracht, die Wände abzutasten, aber letzten Endes wusste er, dass es keinen Ausweg gab. Draußen hörte er das Prasseln des Regens und das Rauschen der Nordsee. Die Luft hier drin war kalt und feucht, er setzte sich auf die Matratze und nahm die Wolldecke, die darauf lag. Auf einem Hocker standen eine Thermoskanne mit Tee, eine Tasse und ein Teller mit Käsebroten. Verhungern würde er nicht. Grimmig sah er sich um. Die alten Wände verströmten einen muffigen Geruch. Er kam sich vor wie im falschen Film. Aber leider war alles echt.
Auf dem Rückweg in die Stadt hielt Minke bei der Adresse, die ihr Diana gegeben hatte. Hier wohnte David also. Es war ein efeubewachsenes Mietshaus von der Jahrhundertwende, mit einer ganz hübschen Fassade und in der Nähe des Hafens gelegen. Gerade war eine ältere Frau dabei, aus dem Briefkasten ihre Post herauszuangeln. Sie trug einen Regenmantel und eine Plastikhaube, an der der Dauerregen abperlte.
Minke stieg aus und grüßte.
»Moin«, die Frau musterte sie misstrauisch. »Ist was?«
»Ich bin auf der Suche nach dem jungen Mann, der oben in der Dachwohnung wohnt. David Holt.«
»Ach, der. Sie sind auch eines seiner Mädchen, hm?«
Minke deutete auf das Polizeiauto. »Nein, ich bin die Kommissarin.«
Die Frau schien sofort interessierter. »Polizei? Hat er was ausgefressen? Ich bin seine Vermieterin – Renate Weiß.«
»Nein, er hat nichts ausgefressen. Ich suche ihn nur.« Sie machte eine Pause. »Wie haben Sie das eben gemeint, ›eines seiner Mädchen‹?«
»Na ja, der und seine Kolleginnen … Und da zähle ich die Praktikantinnen gar nicht mit, die auch unbedingt mal Robben streicheln wollen und um ihn herumscharwenzeln. Vor allem so eine Dunkelhaarige mit Rehaugen ist ständig da. Schaut schmachtend die Fassade hoch, bevor sie klingelt.« Sie lächelte schmallippig. »Mein Vater war Fischer. Wissen Sie, was der über Robben gesagt hat? Verdammte Viecher, fressen mir den besten Fisch weg.«
»Haben Sie David heute gesehen?« Minke ging jede Wette ein, dass Renate Weiß die Sorte Vermieterin war, die ihr Leben am Fenster zubrachte und der nichts entging. Sie hatte recht: »Na ja, heute Morgen. Da ist er mit dem Fahrrad zur Arbeit los wie immer. Er hat ein grässliches Fahrrad; blau mit solchen dicken Reifen. So was hat es zu meiner Zeit nicht gegeben.«
»In welche Richtung ist er gefahren?«
»Na – hier lang«, Frau Weiß zeigte in Richtung Norden.
»Und Sie sind sich sicher, dass das heute war – nicht gestern oder vorgestern? Das war ganz sicher heute Morgen?«
»Ich bin nicht senil, Frau Kommissarin. Heute Morgen hat es schon geregnet, und ich dachte noch: Typisch Mann, nimmt nicht mal einen Schirm mit. Der wird nass, hab ich gedacht.«
Minke ging über den schmalen Halligweg auf Midsand, der die Kirchenwarft mit der Frankwarft verband. Sie dachte über David nach. Wo war er? Bildete sie sich alles bloß ein, oder stimmte ihr dumpfes Gefühl: dass dieser alte Fall – Hinnerk – nicht mehr ihr einziger war, sondern ein neuer – David – dazugekommen war? Hing beides zusammen: das Skelett mit dem Loch im Schädel und Davids Verschwinden?
Es hatte endlich aufgehört zu regnen, der Himmel war am Horizont aufgeklart. Der Abendstern stand über dem Meer. »Das ist in Wirklichkeit gar kein Stern«, hörte Minke die Stimme ihres Vaters in ihren Gedanken. »Das ist ein Planet, die Venus.« Michael hatte Sterne geliebt. Minke sah hinüber zur Kirchenwarft und zu dem kleinen Friedhof. Dort drüben war er, irgendwo. Sie wusste nicht einmal, wo genau. Als Imma ihr erklären wollte, wo das Grab lag, hatte sie einmal die Musik lauter gedreht.
Auch jetzt wandte sie sich schnell ab und beeilte sich, Distanz zwischen sich und die Kirchenwarft zu bringen.
Der Hof auf der Frankwarft war ein gemütlicher nordfriesischer Halligbauernhof ohne Schnickschnack. Das große Tor zu den Ställen stand offen; Licht brannte darin. Als Minke näher kam, konnte sie das Muhen der Kühe im Stall hören. Eine Frau mit zusammengebundenen Haaren und in Gummistiefeln ging im hell erleuchteten Stall hin und her und verteilte mit einer Heugabel frisches Heu – Nadine Frank, die Freundin von Linda, bei der sie vor dreiunddreißig Jahren übernachtet hatte, und damit der letzte verbleibende Mensch, mit dem Minke heute über den Abend reden wollte, an dem Hinnerk verschwand – abgesehen von David.
Nadine entdeckte Minke. Sie setzte die Heugabel ab und winkte ihr zu. »Kommst du zum Helfen?«
»Nicht wirklich.«
Nadine grinste. Minke trat ganz in den Stall. Der Geruch nach frischem Heu und Tieren lag in der Luft. Die Schafe drängten ans Gatter, sobald sie Minke sahen. »Sie erkennen dich«, sagte Nadine.
»Ich streichle sie eben gerne.« Minke streckte ihre Hand über das Gatter und strich über eine der Schafsnasen, die sich ihr entgegenreckten. Während sie ein Schaf nach dem anderen streichelte, sagte sie: »Ich nehme an, dass du heute schon Zeitung gelesen hast.«
»Die Zeitung, die sich fragt, ob unsere neue Kommissarin wohl den alten, gruseligen Fall des Skeletts auf der Hallig löst? Oh ja.«
Minke schnitt eine Grimasse. »Gut, dann kann ich mir ja die Erklärungen sparen. Meine Frage ist nur eine: Linda hat ausgesagt, dass sie an dem Abend damals bei dir übernachtet hat. Stimmt das?«
»Ja.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
»Da musst du nicht nachdenken, wenn es dreiunddreißig Jahre her ist?«
»Nein. Ich weiß nämlich noch, wie mein Vater sie am nächsten Morgen mit dem Boot rüber nach Nekpen gebracht hat und kreidebleich zurückkam. Er hat mir damals gesagt, dass Hinnerk einen Bootsunfall hatte.« Sie stach wieder die Heugabel in das Heu und verteilte eine Portion davon im Stall. »So etwas vergisst man nicht, erst recht nicht, wenn man fünfzehn ist.«
»Was habt ihr gemacht an dem Abend?«
»Das weiß ich wirklich nicht mehr so richtig. Wahrscheinlich das Übliche: Bravo-Hefte lesen, Horoskope vergleichen, Gummibärchen essen und über die Jungs reden. Linda war damals schon in Felix verliebt. Ich war ab und zu ihr Alibi, wenn sie sich mit ihm getroffen hat. Meistens drüben am Fething.«
»Hm«, Minke sah das Schaf an, das sie gerade streichelte. Es schlenkerte mit den Ohren und drückte seinen Kopf gegen ihre Hand. »Wie war Lindas Verhältnis zu ihrem Vater?«
Nadine warf eine neuerliche Gabel voller Heu über das Gatter. »Was soll ich sagen – sie war Papis Prinzessin, zumindest lange Zeit.«
»Und später?«
»Später wurde sie groß, das ist wahrscheinlich immer schwierig. Aber wir haben nicht wirklich darüber geredet. In dem Alter redet man wohl lieber über Jungs als über die eigenen Eltern.«
»Und wie fandest du Lindas Vater?«
Nadine antwortete nicht sofort. Schließlich sagte sie: »Er hatte Charisma. Damals habe ich das Wort noch nicht gekannt, aber das war es. Man konnte sich ihm kaum entziehen, gleichzeitig glaube ich nicht, dass er sich von irgendjemandem hat beeindrucken lassen.« Sie lachte. »Oh Gott, das muss für dich wie Küchenpsychologie klingen, erst recht, wo du Imma als Mutter hast. Sagen wir es einfach so: Er war ein attraktiver Arzt, und das wusste er auch.«
Sie griff nach einem Futtereimer und schüttete das Futter in den Trog der Schafe. Sofort machten sie sich darüber her; ihre Schwänzchen wedelten wild. »Tja, nicht nur dich mögen sie«, sie zwinkerte Minke zu.
Als Minke sich von Nadine verabschiedete, war es endgültig dunkel geworden. Als sie die Haustür ihres Elternhauses aufschloss, freute sie sich auf Essensduft, Imma, die in der Küche werkelte und irgendetwas Leckeres im Topf umrührte. Aber das Haus war dunkel, die Küche kalt. Aus dem Anbau, in dem Imma sich ihre Therapieräume eingerichtet hatte, drang allerdings leise Musik. Minke ging hinüber und klopfte.
»Schatz, bist du das? Komm rein.«
Minke öffnete die Tür. Dort saß ihre Mutter in ihrer Töpferecke, die sie zur Gestaltungstherapie auch mit Patienten nutzte. Sie trug eine tonverschmierte Latzhose und ein Haarband und war gerade damit beschäftigt, auf der sich drehenden Töpferscheibe eine Art dickbauchige Vase zu töpfern. »Schau mal, ist das nicht toll? Ich dachte, ich könnte es Bo zum Geburtstag schenken.«
Minke grinste. »Da wird er sich freuen.«
Imma entging der Sarkasmus. Sie sah zu Minke hoch. »Töpfern ist so richtig etwas für Hände, Geist und Herz. Man versinkt darin, kann sich so richtig entspannen – das wäre auch mal was für dich.«
»Nein danke.«
Imma strich sich mit dem Handrücken ein paar Haare aus dem Gesicht und hinterließ eine Spur von nassem Ton an der Stirn, die sie nicht zu stören schien.
»Mama, es ist spät. Soll ich uns etwas zu essen machen?«
»Oh nein, ich kann nicht. Ich bin gerade richtig im Flow, und im Flow hat man keine Hungergefühle, keinen Durst, keine Müdigkeit, kein Zeitempfinden – das ist wissenschaftlich bewiesen.« Imma unterbrach sich. »Du hast Heu in den Haaren.«
»Ich war bei Nadine Frank im Stall.« Minke zupfte sich einen Halm vom Kopf.
»Bei Nadine? Warum das?« Imma setzte wieder die Töpferscheibe in Gang und versuchte, die bauchige Vase noch ein wenig bauchiger werden zu lassen.
»Linda hat mir gesagt, dass sie an dem Abend, an dem Hinnerk ermordet wurde, bei Nadine übernachtet hat. Das wollte ich nachprüfen.«
Die Töpferscheibe wurde langsamer. »Linda Johannsen?«
»Ja. Warum?«
»Oh, verdammt, jetzt habe ich eine Delle reingemacht«, schimpfte Imma.
»Mama«, grinste Minke, »ich dachte, Töpfern soll entspannen.«
Imma beachtete sie nicht, während sie versuchte, ihre Vase zu retten.
»Also, warum fragst du so nach Linda?«
Imma machte ein abwehrendes Gesicht und sagte in betont beiläufigem Tonfall: »Ach, einfach nur so. Sie war Schülerin, als ich drüben in Jüstering Schulpsychologin war. Das fiel mir nur ein, weiter nichts.«
»Aha«, Minke betrachtete ihre Mutter misstrauisch, aber Imma gab vor, wieder völlig ins Töpfern versunken zu sein.
Der »Halligprinz« auf der Markuswarft war an diesem Abend gut besucht, obwohl es ein gewöhnlicher Dienstagabend im Herbst war. Am Stammtisch in der Ecke saßen schon sechs Männer, als Geert hereinkam. Sofort wurde er mit großem Hallo begrüßt. Die anderen waren ihm schon um zwei Bier voraus. Er setzte sich und bestellte auch eines.
Währenddessen sah er sich im Gastraum um. Einige Gäste hatten noch Teller mit Essen vor sich – einfache nordfriesische Gerichte, etwas anderes gab es hier nicht; am schönsten Tisch, dem neben dem Kachelofen, der mit Delfter Kacheln ausgekleidet war, saß ein junges Paar und hielt über Halligbrot und Tee Händchen.
Tjark, seit über fünfzig Jahren hier Wirt, brachte Geerts Bier an den Stammtisch. »Na, Tjark, was gibt es Neues?«, fragte Geert gönnerhaft. »Schon das mit Hinnerk gehört?«
»Hm«, machte Tjark nur. »Willst du was essen?«
»Quatsch«, Geert winkte ab. »Flüssignahrung reicht mir.« Die Männer um Geert herum lachten. Geert hob sein Glas und prostete in die Runde. »Die nächste Runde geht auf mich.« Seine Ankündigung erntete beifälliges Gemurmel.
»Bist du in deinem verschlafenen Bankbüro aus Versehen über eine Beförderung gestolpert?«, fragte einer der Stammtischbrüder feixend.
»Viel besser. Ich habe auf das richtige Pferd gesetzt. Endlich mal wieder was gewonnen, da kann ich ja wohl was für meine Kumpels springen lassen. Tjark«, er winkte noch einmal nach dem Wirt. »Bring doch mir und meinen Freunden gleich ´ne Runde ›Lütt un Lütt‹!«
Der Stammtisch johlte. »Lütt un Lütt«, ein kleines Bier und ein kleiner Kümmelschnaps, war in der Stammtischrunde besonders beliebt. Geert prahlte weiter mit seinen Wetterfolgen. Kurz darauf balancierte Tjark ein Tablett voller Gläser zum Stammtisch und verteilte alles. »He, willst du auch einen?«, fragte Geert. »Geht auf mich«, er legte Geld auf den Tisch. »Schmeiß es in deine Kasse, und trink selber einen. Hast du schon von meinem neuesten Gewinn gehört? Ich habe es eben den Jungs erzählt.«
»Nee«, sagte Tjark nur wortkarg und drehte der Runde wieder den Rücken zu. Er hatte über all die vielen Jahre genug Geschichten von Geerts Pferdewetten gehört.
Minke betrat ein wenig später mit knurrendem Magen den »Halligprinzen«. Der Gastraum hatte sich inzwischen geleert, nur der Stammtisch war noch voll besetzt und gut gelaunt, und das Paar am Kachelofen saß auch noch da. Tjark stand hinter dem Ausschank und polierte mit geübten Griffen Gläser.
Als Minke eintrat, verdrehte er zu ihr gerichtet die Augen und sagte nur ein Wort: »Geert«, während er mit dem Kinn zum Stammtisch wies.
»Hat er wieder mal irgendwo gewonnen?«
»Anscheinend.« Tjark stellte ein fertig poliertes Glas ins Regal, während Minke sich auf einen der Barhocker setzte. Dann wandte er sich ihr zu. Er hob nur fragend die Augenbrauen, ein Spiel, das sie seit Jahren perfektioniert hatten – seit Minke alt genug gewesen war, um alleine hinüber zum »Halligprinzen« zu flitzen und dort eine Cola und eine Portion Pommes zu bestellen. Seit dieser Zeit reichten ein Augenbrauenheben von Tjark und ein Nicken von Minke. Sie verstanden einander.
Tjark stellte ein Glas Cola vor ihr ab und rief »Pommes« durch die offene Küchentür. Dann grinste er mit seinem faltig gewordenen Gesicht. »War‘n guter Einstand vorgestern.«
Minke schnitt eine Grimasse. »Ja, das Fest schon. Alles danach ist bisher eher beschissen.«
Tjark stellte eine heiße Portion Pommes vor ihr ab. »Hab‘s gelesen – mach dir nichts draus«, sagte er. »Wirst du schon hinkriegen.« Für ihn war das eine lange Rede.
Minke machte sich heißhungrig über die Pommes her. »Sag mal, Tjark«, begann sie, nachdem der schlimmste Hunger gestillt war, »kanntest du Hinnerk?«
»Kaum.«
»Kannst du dich an die Nacht erinnern, in der er verschwand?«
»Büschen vielleicht.«
Sie sah ihn gespannt an, während sie weiteraß.
Tjark schleuderte das Tuch zum Gläserpolieren auf seine Schulter, wie er es am Tag unzählige Male tat. Meistens, wenn man ihn sah, trug er ein Geschirrhandtuch über einer Schulter. »War damals noch bei der Feuerwehr«, nuschelte er, »mit dem Deichgraf draußen am Deich.« Er zuckte die Schultern. »Am nächsten Morgen war der Arzt fort.«
»Jasper war also wirklich am Deich?«, fragte Minke, obwohl sie daran nie wirklich gezweifelt hatte.
»Klar. Dem ist seine Deichnadel kaputt gegangen, war total wütend deswegen, drum weiß ich es noch.« Tjark grinste. »Ein Vogel. Aber er war da.« Während er ging, um dem Stammtisch eine neue Runde Bier zu bringen, blieb Minke an der Bar sitzen und aß ihre Pommes. Während sie kaute, sah sie hinaus aus dem Fenster. Man konnte von hier aus bis hinüber nach Nekpen sehen. Auf beiden Warften brannte Licht. Holt und Johannsen, dachte sie. Schon immer sind es nur die beiden auf Nekpen.
Später, als sie schon draußen vor dem »Halligprinzen« stand, wählte sie noch einmal Jaspers Nummer. Er meldete sich schnell für die Uhrzeit.
»Ich bin es noch einmal, Minke van Hoorn«, sagte sie.
»Haben Sie inzwischen etwas von David gehört?«
»Nein. Wieso fragst du das dauernd, Lütte?«
Sie atmete tief durch. Sie sah keine andere Möglichkeit: »Ich mache mir Sorgen. David war heute nicht bei der Arbeit, und ich kann ihn auch nicht erreichen.«
Der Deichgraf lachte. »Ach komm, er ist doch ein erwachsener Bursche. Wahrscheinlich ist er einfach nur raus aufs Meer zum Fischen. Musste den Kopf freikriegen oder so, das hat er von mir – auf dem Meer ordnen sich die Gedanken.«
»Ja, vielleicht …«
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin sein Vater – wenn ich mir keine Sorgen mache, brauchst du dir auch keine zu machen. Der taucht sicher wieder gesund und munter auf.«
»Na schön. Aber wenn er morgen nicht da ist, schreibe ich ihn zur Fahndung aus.«
Am anderen Ende kicherte der Deichgraf ein Großvaterkichern. »Ich wusste es – du bist doch verknallt in ihn.«
Minke verabschiedete sich.
Er kam spät am Abend nach Hause. Den ganzen Tag war er kaum zum Luftholen gekommen. Das Geschäft lief gut, er hatte in den letzten Jahren immer mehr Mitarbeiter eingestellt. Aber manchmal dachte er mit Wehmut an die Zeiten vor vielen Jahren zurück, in denen er allein gewesen war – da hatte er noch Zeit für Hobbys gehabt oder dafür, nach Feierabend mit seinen Kumpeln etwas trinken zu gehen. Als Chef war das alles vorbei. Er kam nach Hause, es war still im Haus. Seit er geschieden war, war das so. Aber er fand es nicht schlimm; es war in Ordnung, wie es war – und es stimmte, er hatte tatsächlich kaum Zeit für seine Frau und die Kinder gehabt. Er zog die Schuhe aus, ging in die Küche und nahm ein Bier aus dem Kühlschrank. Damit setzte er sich vor den Fernseher. Er dachte an heute, als er Ruth besucht hatte. Ihr Mann war eine Witzfigur mit seinen ewigen Pferdewetten. Aber Ruth – das war etwas ganz anderes. Er fand es schade, dass sie sich selten sahen. Im Fernsehen kam kein Film, den er mochte. Er schaltete auf den Sportkanal. Fußball entspannte ihn immer, es klappte selbst heute.