16. Januar 1987, Freitagabend, 20.27 Uhr 
Geert

Geert öffnete den obersten Hemdknopf. Ihm war warm. Bildete er es sich nur ein, oder war die Luft im Esszimmer stickig? Er hatte das Gefühl, immer noch den Grünkohl riechen zu können, auch wenn Esther ihn schon vor einer Weile abgetragen hatte. Aber der geöffnete Hemdknopf verschaffte ihm keine nennenswerte Erleichterung. Die drückende Hitze, die er fühlte, kam von innen, genau wie das unwohle Gefühl in der Magengegend. Außer ihm schien es jedem am Tisch gut zu gehen.

Gerade erzählte Hinnerk irgendeine Geschichte. Wie immer kommt er darin natürlich gut weg, dachte Geert genervt. Und alle hängen an seinen Lippen. Einen Augenblick später lachten Hinnerks Zuhörer am Tisch wie auf Kommando. Geert sah ihnen dabei zu. In diesem Moment traf ihn Hinnerks Blick. Na Geert, schien er zu sagen, fühlst du dich ein bisschen unwohl, hier an meinem Esstisch zu sitzen und auf gut Wetter zu machen? Er findet das lustig, dachte Geert, er weidet sich daran. Hinnerks Blick ruhte weiter auf ihm, so lange, bis Geert tatsächlich pflichtschuldigst ebenfalls lachte. Wie ein dressierter Affe, schimpfte er danach mit sich selbst. Aber was soll ich machen? Als Hinnerk endlich den Blick woandershin richtete, ließ Geert dem ersten geöffneten Hemdknopf noch einen zweiten folgen. Der Gastgeber leitete derweil zur nächsten Heldengeschichte über. 

Ich hätte nicht mitkommen sollen, überlegte Geert, ich hätte doch einfach sagen können, dass ich krank bin oder so etwas. Er erinnerte sich daran, wie er früher Hinnerk bewundert hatte – ein Mann, der alles hatte: Geld, eine schöne Frau, die alles für ihn tat, ein schickes Auto, er sah sogar noch gut aus, verdammt noch mal. Aber inzwischen war es keine Bewunderung mehr, die Geert empfand, wenn er an seinen Schwager dachte. Es war eine Mixtur deutlich dunklerer Gefühle. Wut, Angst, Scham – und trotzdem saß er hier am Esstisch, aß Grünkohl mit Pinkel und trank das Bier, das Hinnerk ausschenkte.

Wieder lachten alle über irgendeine Pointe. Erkannten sie wirklich nicht, was für ein Mensch ihr Gastgeber eigentlich war? Geert griff nach der Karaffe Wasser und einem Glas und schenkte sich ein. Natürlich kann es keine normale Wasserflasche sein, wie bei jedem anderen normalen Menschen, dachte er, es ist eine BESCHISSENE KARAFFE. Er trank, das kühle Wasser tat ihm gut und machte seinen Kopf klarer. Mechanisch schluckte er es. Dann ließ er das Glas sinken. Sein Blick glitt über die einzelnen Personen am Tisch. Zuerst war da natürlich Hinnerk am Kopfende. Sein Anzug saß wie angegossen, sein Lächeln war so selbstsicher wie immer. Ich könnte ihm seine perfekte Fresse polieren, dachte Geert, das könnte ich wirklich mit Freuden. Er hatte das Gefühl, Hinnerks Zähne seien noch ein bisschen weißer als sonst; unnatürlich weiß. Er fühlte, wie sich sein Puls vor Wut beschleunigte. Schnell sah er weiter zu Esther, die neben Hinnerk saß. Sie sah wunderschön aus in ihrem roten Cocktailkleid und mit den aufgesteckten Haaren. Ihr feingezeichnetes Gesicht mit den großen Augen, den geschwungenen Lippen, der Nase, die nach Schönheitschirurg aussah, aber tatsächlich vom lieben Gott geschaffen war. Alle in Jüstering und auf den Halligen hatten sich die Finger nach ihr geleckt – und Hinnerk hatte sie bekommen. Ruth daneben, seine Ruth, war ganz anders. Sie war lange nicht so hübsch wie Esther. Eigentlich sah sie aus, als hätte Gott an ihr für Esther, für sein späteres Meisterstück, geübt. Geert dachte das ohne jede Gehässigkeit – im Gegenteil, er liebte Ruth. Sie war freundlich, warm, angenehm. Jetzt lächelte er ihr zu, sie lächelte zurück. Er war glücklich, sie geheiratet zu haben. Ruth war immer für ihn da und kümmerte sich um jeden. Das Leben war mit ihr viel schöner als ohne sie – und das ist doch Liebe, oder nicht?, dachte Geert. Ich sollte ihr mal wieder Blumen mitbringen. Ruth freute sich über solche Gesten – und dabei war sie nicht anspruchsvoll. Er kaufte die Blumen für sie immer an der Tankstelle und sie freute sich trotzdem darüber. Ja, dachte er, gleich morgen kriegt sie Blumen.

Sein Blick wanderte zu der letzten Person am Tisch. Kaum zu glauben, dass dieser Doktor Simon auch ein Arzt war. Er wirkte ganz anders als Hinnerk. Still und unauffällig saß er da. Der ist sicher so ein richtiges fleißiges Bienchen, dachte Geert, arbeitet und hält die Klappe. Doktor Simon hatte, abgesehen von dem Moment, in dem er vorgestellt worden war, den ganzen Abend praktisch keine Aufmerksamkeit erregt. Er aß brav seinen Teller leer, lächelte höflich und trank immer noch an seinem ersten Glas Bier, das inzwischen warm und abgestanden sein musste. Warum sie ihn wohl eingeladen haben?, fragte Geert sich im Stillen. »Das ist Alexander, ein Studienkollege von mir«, hatte Hinnerk zu Beginn des Abends gesagt und Alexander krachend auf den Rücken geklopft, sodass dieser nach Luft schnappte. Doktor Simon hatte ihnen allen die Hand gegeben, ein schwächlicher, labberiger Händedruck wie ein toter Fisch. Er hatte bei Geert immerhin einen Schokoladenpunkt gesammelt, weil er seinen Doktortitel wegließ und einfach nur seinen Namen nannte. Das würde dir natürlich nie einfallen, lieber Schwager, dachte Geert und sah – zum ersten Mal seit ein paar Minuten – wieder zu Hinnerk ans Kopfende. Warum kusche ich eigentlich so vor ihm? Er sah in Hinnerks Augen und glaubte plötzlich, etwas Kaltes darin zu sehen, das er früher gar nicht bemerkt hatte. In diesem Moment lächelte Esther auf ein Nicken von Hinnerk hin in die Runde. »Na, wer hat denn Lust auf Dessert?«

»Du kannst uns allen eines bringen«, sagte Hinnerk. Ruth und der zweite Doktor stimmten zu, Geert machte es ihnen nach. »Ich helfe dir«, sagte Ruth und legte ihre Serviette beiseite. Gemeinsam gingen die beiden Schwestern in die Küche, gleich darauf war das Klappern von Geschirr zu hören. Hinnerk sah Geert direkt an. »Na, Schwager, was machen denn deine Pferdewetten? Hast du mal wieder auf ein falsches Hottehü gesetzt?« Er lachte. Geert lief feuerrot an. Hinnerk lachte noch mehr, weil er offensichtlich ins Schwarze getroffen hatte. Doktor Simon wirkte, als sei er gar nicht richtig anwesend.
Geert hoffte inständig, dass Esther und Ruth bald zurückkommen würden – und dass es Esthers berühmtes Schokoladensoufflé zum Nachtisch gab. Dann wäre der Abend wenigstens nicht ausschließlich eine Qual gewesen.