Alexander überlegte fieberhaft. Seine Hände krampften sich um die gestärkte blütenweiße Stoffserviette, die neben seinem Teller lag. Egal, wie er es drehte und wendete – es wollte ihm keine Art einfallen, wie er es tun konnte. Aber ich muss, sagte er sich, während er nervös auf seinem Stuhl herumrutschte. Dafür bin ich hier. Es muss aufhören. Der Abend zog sich hin, das Wetter draußen war immer noch scheußlich. Das Licht über dem Tisch flackerte, Hinnerk sah ärgerlich zur Lampe hinauf. »Das ist sicher schon wieder dieser verdammte Generator«, sagte er. Esthers Schwager, dieser etwas lächerliche Mann, begann eine langatmige Geschichte von der Hamburger Pferderennbahn zu erzählen. »Und dann« – er lachte ein schepperndes Lachen, das an Alexanders gespannten Nerven zerrte – »gewann das Pferd, auf das kein Mensch gesetzt hatte – außer mir. Keiner hätte noch einen Pfifferling für den alten Gaul gegeben«, sagte er gerade. »Ist das nicht der Hammer?« Alexanders Blick wanderte weiter zu dem Blumengesteck, das die Mitte des Tischs schmückte. Der Strauß war besonders schön, eine richtige Komposition, dachte Alexander, diese weißen, pudrigen Blüten. Zwischen ihnen hindurch sah er Esther an. Sie bemerkte es nicht – ihr Blick kreuzte sich gerade mit dem ihrer Schwester. Ob er Geerts langweiliger Pferdegeschichte galt? Oder etwas anderem? Es lag jedenfalls ein Verstehen darin. Ruths Blick hatte etwas Besorgtes. Soweit er es bei der Vorstellungsrunde verstanden hatte, war Ruth die Ältere der beiden. Typisch ältere Schwester, dachte er. Er hatte auch jüngere Geschwister und war damit aufgewachsen, sich um sie zu kümmern. Ruth schien eine nette Frau zu sein, sanft und gutmütig. Was wollte sie mit diesem ordinären Mann? Alexander sah in Geerts breites Gesicht.
»Esther, wie läuft es denn mit dem Chor, den du leitest?«, fragte er laut, um eine neuerliche Wettgeschichte zu verhindern. »Gibt es bald wieder ein Konzert?« Er hatte Esther schon ein paar Mal singen hören. Sie sang wie eine Lerche, ganz klar und hell. Alle sahen ihn an. Er hatte heute Abend bisher beinahe nur schweigend dagesessen. Esther lächelte ihn dankbar an und beantwortete seine Frage. Alexander hörte ihr zu und betrachtete währenddessen ihr hübsches Gesicht. Es war wie ihre Stimme: ganz klar und voller Kontur. Sie hätte zu Recht eingebildet sein können oder zumindest selbstbewusst. Aber sie war weder das eine noch das andere. Eher im Gegenteil, überlegte Alexander, manchmal kam es ihm vor, als würde sie sich am liebsten unsichtbar machen. Sie redete nur, wenn sie gefragt wurde, sie versuchte, allen – vor allem Hinnerk – jeden Wunsch von den Augen abzulesen, sie wirkte sehr diszipliniert. Auch jetzt hielt sie ihre Geschichte über die neuesten Chorlieder knapp, als wollte sie an diesem Abend nur nicht zu viel Raum einnehmen. Schließlich legte Hinnerk ihr die Hand auf den Arm. Er begann wieder zu reden. Sie wurde sofort wieder zu einer hübschen Zuhörerin, die ihrem Mann an den Lippen hing. Hinnerk redete und redete; Alexander hatte das Gefühl, Hinnerk füllte das ganze Esszimmer aus. Er schüchtert mich ein, dachte er, auch wenn das peinlich ist. Ich bin feige ihm gegenüber. Sie hatten schon seit ihrem Studium klar verteilte Rollen – Hinnerk der charismatische Superstar, Alexander der fleißige Arbeiter, dessen Gesicht man schnell vergaß. Er war immer stolz darauf gewesen, dass durch ihre Freundschaft ein bisschen von Hinnerks Glanz auch auf ihn abfärbte. An der Universität kannte jeder Hinnerk, und weil jeder Hinnerk kannte, kannte man zwangsläufig auch Alexander.
Alexander dachte daran, wie es dazu gekommen war, dass er an diesem Abend hier saß. Hinnerk hatte ihn am Nachmittag angerufen, um schon wieder wegen der Stelle am Krankenhaus nachzufragen. Beiläufig hatte er dann gesagt: »Wir haben heute Gäste, meine Schwägerin und ihr Mann. Langweilige Leute, aber immerhin gibt es Grünkohl und Pinkel. Das kann meine Frau einigermaßen gut.« Er hatte gelacht. Alexander wusste sofort, dass es die perfekte Gelegenheit war. Also hatte er gesagt: »Grünkohl und Pinkel – das habe ich ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen. Sybille mag es nicht.«
»Na, dann komm doch auch. Auf einen mehr oder weniger kommt es nicht an.«
Alexander war zufrieden gewesen. Es war ideal – Sybille war übers Wochenende bei ihrer Schwester in Flensburg. Eine solche Gelegenheit, in Ruhe mit Hinnerk zu reden, würde es so schnell nicht mehr geben. Hinnerk grinste ihn an. Er mag mich, dachte Alexander, und warum auch nicht? Ich habe ihm bei jeder Prüfung an der Uni geholfen, sonst wäre er niemals Arzt geworden. Ich habe die Mädchen freundlich abgespeist, die er satthatte. Ich habe sogar unsere gemeinsame Studentenwohnung sauber gehalten, verdammt noch mal. Und ich habe für ihn vor Gericht ausgesagt, das ist das bitterste. »Du musst mir helfen, Alex – diese verrückten Straubs wollen mir irgendwas anhängen. Natürlich völlig zu Unrecht.« Er hatte ihm geglaubt und gesagt, was Hinnerk wollte. Und jetzt konnte er deswegen nicht mehr schlafen, sah ständig Stefanies Eltern vor sich und die Fotos des Mädchens, das leblos im Krankenhausbett lag. Er dachte an seine eigene kleine Tochter – kaum auszudenken, wie er sich gefühlt hätte, wäre ihr dasselbe passiert.
Ich Trottel. Alexanders Hand krampfte sich wieder um die Serviette. Aber es war nicht mehr zu ändern. Das Einzige, was er ändern konnte, war das, was in Zukunft passieren würde, jetzt, wo er endlich klarsah. Ich muss heute mit ihm sprechen; es ihm auf den Kopf zusagen und ihm klarmachen, dass es genug ist. Dass es eine Grenze gibt, auch für einen Hinnerk Johannsen.
In diesem Moment erhob sich Esther auf ein Nicken von Hinnerk hin. Das rote Kleid, das sie trug, schimmerte. »Wer möchte denn einen Kaffee?«, fragte sie höflich. »Alexander, du vielleicht?«
Er sah hoch. »Ja, gerne.«
»Gut, wer noch?«
Alle nickten, außer Ruth. »Ich kann sonst nicht schlafen«, sagte sie. »Aber warte, ich helfe dir.«
Ruth ging Esther hinterher in die Küche, wie sie es bisher schon den ganzen Abend bei diesen Gelegenheiten getan hatte. Alexander wurde das Gefühl nicht los, dass es nicht nur aus Hilfsbereitschaft war. Die beiden Schwestern hatten etwas miteinander zu besprechen. Aber ihre Worte waren im Esszimmer nicht zu verstehen; er hörte nur Gemurmel jenseits der Wand. Eine Stimme klang dabei drängend, die andere beschwichtigend.
Nachdem Ruth und Esther das Zimmer verlassen hatten, herrschte kurz Stille am Tisch; die drei Männer saßen einfach nur so da. Geert wie ein begossener Pudel, der es ganz offensichtlich vermied, in Hinnerks Richtung zu sehen. Warum?, fragte sich Alexander. Haben sie Streit? Innerlich schüttelte er den Kopf. Was für ein merkwürdiges Abendessen.
Hinnerk klopfte auf den Tisch. »Was ein echter Mann ist, der braucht jetzt eine Zigarre.« Er grinste. »Zigarre und Cognac, besser gesagt. Alex?« Und mit etwas sarkastischer Stimme: »Geert?«
Geert stand so schnell auf, dass sein Glas auf dem Tisch wackelte. »Ich muss mal«, sagte er und verschwand. Es blieben nur Alexander und Hinnerk. Sie gingen gemeinsam auf die Terrasse. Draußen war die Nacht tintenschwarz, der Wind pfiff, es war kalt – eigentlich kein Wetter, um draußen zu stehen und Zigarre zu rauchen. Aber es war die beste Möglichkeit, mit Hinnerk allein zu sein. Jetzt oder nie, dachte Alexander. Er wusste, wenn er jetzt sagen würde, was er zu sagen hatte, würde sich alles ändern. Hinnerk verzieh nichts, das hatte Alexander oft genug bei anderen mitbekommen. Er fühlte, wie seine Hände schweißnass wurden, während er die Zigarre entgegennahm, die Hinnerk ihm reichte. Er selbst kämpfte bei dem Wind mit dem Streichholz, Hinnerk schien damit keine Probleme zu haben. Wie macht er das bei dem verdammten Wind?, dachte sich Alexander. Es ist wirklich, als würden für ihn andere Gesetze gelten. Hinnerk paffte seinen ersten Zug und sah Alexander dann mit einem gönnerhaften Lächeln an. »Na – wie sieht es aus mit meiner Bewerbung in der Chirurgie? Ich habe keine Lust mehr, zu warten. Verdammt, Alex, besorg mir diese Stelle!«
Alexander räusperte sich. Sein Mund war trocken. Er holte tief Luft. Es muss wirklich ein Ende haben, dachte er noch einmal. Wirklich.