»Esther Johannsen?«
»Moin, Bo van Hoorn hier, Rechtsmedizinisches Institut.«
Esther ließ sich auf einen der Küchenstühle in ihrer Küche auf der Johannsenwarft sinken. »Moin.«
»Ich habe gute Nachrichten für Sie, Frau Johannsen: Die Knochen Ihres Mannes sind ab sofort freigegeben. Ich habe sie eben mit einem Kurier Richtung Jüstering geschickt.«
»Oh«, Esther schwieg einen Moment. »Danke. Dann kann ich ihn ja jetzt beerdigen.«
»Ja, das können Sie.«
»Kam irgendetwas heraus, bei Ihren … hm … Untersuchungen?«
»Das müssen Sie meine Schwester fragen, Frau Johannsen. So sind die Regeln.«
»Ja …«, Esther sah auf ihre Fingernägel. »Ja, natürlich, ich verstehe. Wann kommt denn mein Mann, nun ja, bei mir an?«
»Ich denke, in zwei Stunden. Der Kurier ist nicht gerade der schnellste und hat noch zwei Zwischenstopps.«
»Wie bitte?«
»Ja, mit Ihrem Mann fahren noch eine Frau mit und ein alter Opa, tot natürlich«, er klang amüsiert. »Ein Sammeltaxi, wenn Sie so wollen.«
Esther fragte sich im Stillen, ob jeder in der Rechtsmedizin so war. Vielleicht wurde man ja in diesem Beruf ganz automatisch abgestumpft gegenüber dem Tod.
Laut sagte sie: »Danke für Ihren Anruf, Herr van Hoorn.«
»Kein Problem. Schönen Tag noch – und mein Beileid.«
Als Esther aufgelegt hatte, atmete sie tief durch. Jetzt wird es also wirklich enden, dachte sie. Eine Beerdigung war ein Schlusspunkt, und sie brauchte schon seit so vielen Jahre einen. Impulsiv, wie es eigentlich gar nicht ihre Art war, ging Esther in den Flur, schlüpfte in Schuhe und Mantel und ging nach draußen. Die Morgenluft war mild, der Himmel hatte eine merkwürdig goldene Farbe. Esther kannte diese Art Himmel, sie zeigte sich nur vor gewaltigen Stürmen. Es würde also nicht mehr lange dauern – sie musste sich beeilen, wenn sie Hinnerk vorher beerdigen wollte. Und das wollte sie auf jeden Fall. Esther zog den Mantel enger um sich und ging langsam über die Halligwiese. Nekpen lag ruhig da in dem goldenen Morgenlicht; ein paar Vögel staksten auf ihren hohen Beinen über das Gras. Esther ging bis zu der Stelle, an der vor drei Tagen Hinnerks Skelett ausgegraben worden war. Sein erstes Grab, ohne Grabstein und Blumen. Nachdenklich sah sie hinunter auf das zerrupfte Gras und den zerwühlten Marschboden in Form eines Rechtecks in Menschenlänge. Es würde einige Zeit dauern, bis im buchstäblichen Sinn wieder Gras darüber gewachsen wäre. In ein paar Metern Abstand waren noch ringsum die Löcher zu sehen, die die Pfosten der Polizeiabsperrung hinterlassen hatten. Ich glaube, rote Begonien wären schön als Grabbepflanzung, dachte Esther, oder vielleicht ein Buchsbäumchen. Sie sah auf und ließ ihren Blick über das Meer und die Hallig schweifen, über den knorrigen Birnbaum auf der Holtwarft und den Deichgrafenhof. Das weiße Friesenhaus lag still da. Einem zweiten untypischen plötzlichen Impuls folgend ging sie hinüber zur Holtwarft und schlug dort den schweren Metallklopfer gegen die Haustür. Seit drei Tagen hatte sie sich nicht bei Jasper gemeldet; sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Normalerweise sah sie etwa alle zwei Tage nach ihm. Auf ihr Klopfen hin rührte sich nichts. »Jasper?«, rief Esther. »Ich weiß doch, dass du nicht mehr schläfst. Mach auf!« Er öffnete nicht. Sie klopfte noch einmal, immer noch rührte sich nichts. Oh Gott, dachte sie, vielleicht ist ihm etwas passiert – ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall, er ist schließlich nicht mehr der Jüngste – und er liegt irgendwo hilflos im Haus? Dann aber fiel ihr Auge auf die leere Anlegestelle der Warft. Jasper war mit dem Boot unterwegs, sicher war er fischen, das machte er gerne früh morgens, wenn das Meer so glatt war wie heute. Beruhigt kehrte Esther zurück nach Hause und begann, die Beerdigung ihres Mannes zu planen.
»Der Sturm hat uns schon beinahe erreicht. Bleibt die Windstärke so, wie sie jetzt ist, und dreht die Richtung nicht, so ist heute Nacht mit den ersten Ausläufern in Nordfriesland zu rechnen und morgen Nachmittag mit dem endgültigen Treffen dieses Orkans auf unsere Küste.« Minke schaltete das Radio aus; sie konnte sich bei dem Gerede nicht konzentrieren. Vor ihr lag der Bericht des Labors zum Erpresserbrief. Das Ergebnis war, dass es kein Ergebnis gab – keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren, einfach nichts. Die einzigen Fingerabdrücke, die auf dem Papier gefunden worden waren, waren die von Minke und Jasper, also die, die zu erwarten gewesen waren. Minke hatte kaum mit etwas anderem gerechnet. Ein Erpresser, der vorsichtig genug war, seine Forderungen in Zeitungsbuchstaben zu fassen und einen Adressaufkleber auf dem Umschlag zu benutzen, war vermutlich auch vorsichtig genug, Handschuhe zu tragen. Auch zu der Buchseite gab es kaum Ergebnisse. Sie stammte aus einer Ausgabe des ›Schimmelreiters‹ von 1903, mehr wusste das Labor nicht zu berichten. Warum überhaupt diese Stelle? Das Pferdegerippe im Watt, der gespenstische Schimmel. Was wollte der Erpresser ihr damit sagen?
Minke warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor acht. Angenommen, David war schon auf dem Weg zur Arbeit entführt worden, dann war er jetzt seit beinahe achtundvierzig Stunden verschwunden. Das war schlecht – auf der Polizeischule hatte sie gelernt, dass die Wahrscheinlichkeit, Spuren oder eine Person zu finden, mit jedem Tag geringer wurde. Alles, worauf Minke nun ihre Hoffnung setzte, war, was passieren würde, nachdem die Jüsteringer und Midsander heute Morgen ihre Zeitung gelesen hatten. Sie selbst hatte sich auf dem Weg zur Polizeistation eine Ausgabe gekauft. Der Redakteur mit der Dino-Krawatte hatte tatsächlich Wort gehalten und alles so arrangiert, wie sie es ihm gesagt hatte: »Gebürtiger Nekpener verschwunden!«, stand fett gedruckt auf der Titelseite, dazu ein Foto von David und die Bitte um Mithilfe der Bevölkerung. »Jeder Hinweis kann wichtig sein – melden Sie sich unter«, dann folgte die Nummer der Polizeistation. Bewusst hatte sie nichts von einer Entführung erwähnt; sie wollte den Entführer nicht nervöser machen, als er vermutlich ohnehin schon war.
Klaus schnaufte durch die Tür der Polizeiwache, in den Armen hielt er eine große Kiste, in der es klirrte. »Geschirr«, keuchte er, »ich dachte, ich bringe es heute schon mal mit.« Er stellte die Kiste im Flur ab. »Und ich bin schon wieder weg. Ich muss mir ein paar Catering-Läden anschauen. Tschüss, Mäus …«
»Klaus, ich brauche dich heute. Hast du den Aufruf in der Zeitung nicht gesehen? Hier klingeln sicher bald die Telefone.«
Er hob abwehrend die Hände. »Oh nein! Ich habe Wichtigeres zu tun, als irgendwelchen Spinnern zuzuhören. Wie gesagt: Pizza oder Schnitzel, das ist heute bei mir die Frage. Außerdem kommt doch bei solchen Aufrufen meistens sowieso nichts rum.«
»Ja, vielleicht, aber vielleicht hat auch wirklich jemand etwas gesehen, das uns weiterbringt. Klaus! Bitte!« Minke sah ihn eindringlich an. Es war ihr zuwider, Klaus um etwas zu bitten, aber sie wusste auch, dass sie es nicht schaffen würde, alle Anrufe selbst anzunehmen und gleichzeitig nach Hinnerks Mörder zu suchen. »Irgendwo da draußen ist David, entführt. Und ich habe immer noch keine Ahnung, wo.«
Klaus schnaubte.
Sie verdrehte die Augen. »Ich kenne einen sehr guten Pizzalieferdienst. Den kann ich dir verraten, wenn du mir hilfst.«
»Machen die auch Familienpizzen?«
»Lass dich überraschen«, sie hielt ihm eines der beiden Telefone entgegen.
»Na schön, aber nur, bis sich der erste richtige Spinner meldet.«
Esther hatte die Tageszeitung nicht abonniert. Während also nach und nach die Bewohner von Jüstering und den Halligen erfuhren, dass David Holt gesucht wurde, und zu ihren Telefonen griffen, frisierte sie sich sorgfältig wie immer und zog sich dann vollkommen schwarz an. Schließlich steckte sie die Liste mit der Überschrift »Beerdigung«, die sie geschrieben hatte, in ihre Handtasche und startete das kleine Motorboot, das zur Johannsenwarft gehörte. Sie fuhr über die ruhige Nordsee in ein paar Minuten hinüber zur Hallig Midsand und legte dort an der Markuswarft an. Dann stieg sie den schmalen Weg hinauf zu den Häusern und zum Laden ihrer Schwester.
Die Ladenglocke klimperte, als sie die Tür öffnete.
»Tut mir leid, wir haben noch nicht …«, Ruth war gerade dabei, mit dem Rücken zur Tür den kleinen Kühlschrank mit Quark und Milch zu befüllen. Nun drehte sie sich um. »Oh, Esther, du bist es. Was ist denn los?«
»Ich brauche deine Hilfe.«
»Wobei?« Ruth schloss den Kühlschrank. Esther zog die Liste aus ihrer Handtasche. »Hinnerk ist zur Beerdigung freigegeben, und ich will das morgen über die Bühne bringen, noch vor dem Sturm.«
Ruth sah ihre Schwester zweifelnd an, dann aber nickte sie. »Natürlich, ich helfe dir – was auch immer du willst.«
»Kannst du in deiner Mittagspause nach Jüstering kommen und mich dort treffen? Ich habe einen Termin beim Steinmetz und will den Grabstein nicht alleine aussuchen.«
Ruth nickte. »Sicher.«
»Und dann brauche ich natürlich auch etwas zu essen für die kleine Feier, die ich nach der Beerdigung bei mir abhalten will. Ich dachte da an Häppchen – irgendetwas, das man hübsch auf Tabletts anrichten kann.«
»Ich habe Räucherlachs und Dill da, Thunfischcreme auch«, zählte Ruth auf. »Und Krabben natürlich.«
»Gut, das wird reichen.«
»Esther«, begann Ruth vorsichtig, »hast du das mit David schon gehört?«
»Nein, was denn?«
»Er ist verschwunden. Es stand heute in der Zeitung.«
»Wie bitte?«, Esther wurde blass.
»Hast du ihn in den letzten Tagen gesehen?«
Esther schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt bin ich einfach gar nicht mehr aus dem Haus gegangen, seit Hinnerk gefunden wurde.«
Ruth sah sie verständnisvoll an.
»Alexander war gestern zu Besuch«, sagte Esther unvermittelt.
»Kommt er auch zur Beerdigung?«
»Er hat es versprochen.« Sie nickte ihrer Schwester zu. »Ich muss jetzt weiter. Es gibt noch viel zu tun.«
Es dauerte nicht lange, bis Minke überlegte, ob Klaus vielleicht ausnahmsweise recht gehabt hatte. Sie war von den Leuten, die ständig auf der Polizeiwache anriefen, um irgendetwas über David loszuwerden, inzwischen nur noch genervt. Jeder kannte die alte Deichgrafenfamilie, und dass der Deichgrafensohn verschwunden war, schien ganz Jüstering aufzuwühlen. Jeder wollte helfen – leider war der Großteil dessen, was die Anrufer erzählten, vollkommen unbrauchbar. Alle wollten David irgendwo gesehen haben. Gerade hatte Minke eine alte Dame am Telefon, die aufgeregt berichtete, David eben über den Weg gelaufen zu sein. »An der Käsetheke im Supermarkt, sagen Sie?«, wiederholte Minke und verdrehte die Augen. »Ja, das habe ich notiert. Danke für Ihre Mithilfe.« Sie legte den Hörer auf und seufzte. Sie betrachtete ihre Notizen. Die Hinweise widersprachen sich beinahe alle – David sollte zeitgleich an mindestens fünf Orten in der Stadt und auf den Halligen gewesen sein; die Male, die er angeblich auf irgendwelchen Booten gesehen worden war, gar nicht mitgezählt.
Das Telefon klingelte schon wieder. Minke wappnete sich innerlich, das nächste unnütze Gespräch zu führen.
»Polizei Jüstering, Minke van Hoorn?«
»Bo van Hoorn. Was ist denn bei euch los? Alle Anschlüsse sind ständig besetzt.«
Minke erzählte von dem Zeitungsaufruf.
»Ach du Scheiße«, sagte Bo nur. Nach einer Pause fuhr er aufgeräumt fort: »Jedenfalls, ich habe die Knochen zur Beerdigung freigegeben. Mein skelettierter Patient hat mich schon in Richtung Küste verlassen.«
»Rufst du deswegen an? Nur um mir Bescheid zu sagen?«
»Nein. Ich habe noch eine brandneue und exklusive gerichtsmedizinische Information für dich, die ich heute Nacht in mühevoller und begabter Kleinarbeit dem Knochenmann abgetrotzt habe«, raunte Bo geheimnisvoll.
»Und welche?«
»Pass auf – kannst du dich noch daran erinnern, dass ich gesagt habe, Hinnerk Johannsen habe merkwürdig poröse Knochen gehabt?«
»Ja. Du meintest, es wäre vielleicht Osteoporose gewesen.«
»Stimmt, aber das war es nicht. Dazu war diese auffällige Knochenstruktur einfach zu … auffällig.«
»Aha.«
»Jedenfalls habe ich die Knochen noch einmal genau untersucht und mir Vergleichsmaterial angesehen, und das Ergebnis ist ziemlich eindeutig.« Bo machte eine bedeutungsschwere Pause. »Alkohol.«
»Wie bitte?«
»Der Tote muss über lange Zeit sehr regelmäßig sehr viel Alkohol zu sich genommen haben. Das wissen die wenigsten, aber zu viel Alkohol stört auch den Knochenaufbau. Ich bin ganz sicher: Hinnerk Johannsens Knochen sehen genau deshalb so aus, wie sie aussehen.«
»Hinnerk Johannsen war Alkoholiker?«
»Jap. Und wenn ich mir anschaue, wie unglaublich schlecht die Knochen schon waren, würde ich sagen: ein starker.«
»Was bedeutete das für sein Arztsein?«
»Na ja, Alkoholiker sind fahrig, unkonzentriert … Er wird Fehler gemacht haben. Aber er war doch Hausarzt, hast du gesagt, oder? Das geht ja noch.«
»Und wie wäre es gewesen, wenn er Chirurg geworden wäre?«
Bo antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Eine Katastrophe.«
Imma stand an diesem Tag zum ersten Mal seit Langem wieder auf dem Schulhof der Jüsteringer Schule. Vor dreißig Jahren war sie hier Schulpsychologin gewesen. Jetzt, als sie auf dem verlassenen Pausenhof stand, an dessen Mauern hier und da irgendein pubertäres Graffiti gekritzelt war und in dessen Mülleimern sich Coladosen mit leeren Bäckereitüten abwechselten, kam ihr alles so vertraut vor.
Gerade läutete der Gong zur Pause, in ein paar Minuten würde hier alles voller Schüler sein. Imma ging auf den Haupteingang zu. Als sie die Tür aufzog, wehte ihr dieser typische Schulgeruch entgegen. Sie betrat das Gebäude. Ein älterer Lehrer erkannte sie von Weitem, er winkte ihr zu. »Ich glaube es ja nicht – Frau van Hoorn! Treibt Sie die Nostalgie hierher?« Er lachte. »Oder arbeiten Sie wieder für uns?«
»Nein, ich bin inzwischen selbstständige Therapeutin.«
»Und jetzt besuchen Sie uns?«
Imma schüttelte den Kopf. »Eigentlich möchte ich zu jemandem ganz Bestimmtem: Linda Johannsen.«
»Die habe ich vorhin im Biologiesaal gesehen.« Er zeigte einen langen Korridor entlang. »Hinten links.«
Imma ging den Gang entlang, in dem sich ein Naturwissenschaftsraum an den nächsten reihte: Physik, Chemie und schließlich Biologie. Die Tür stand offen, Linda saß am Pult und korrigierte Klassenarbeiten, ansonsten war der Raum leer. Imma klopfte an die offene Tür. »Moin, Linda!«
Linda sah überrascht auf. Als sie Imma erkannte, lächelte sie. »Oh, Frau van Hoorn, was für eine Überraschung! Kommen Sie mich etwa besuchen?«
»Ja«, Imma betrat das Klassenzimmer. »So könnte man es ausdrücken.« Sie sah sich um. Als Schulpsychologin hatte sie ein eigenes Büro neben dem Lehrerzimmer gehabt; hierher in den Naturwissenschaftstrakt war sie nie gekommen. In einer Ecke des Raums baumelte ein Plastikskelett an einer Hängevorrichtung – etwas makaber, fand Imma, angesichts der Umstände. Auf den Schränken standen ein paar ausgestopfte Tiere: ein Mäusebussard, eine Ente, ein Eichhörnchen. An den Wänden hingen Plakate, die sich mit der menschlichen Anatomie beschäftigten.
»Wie schön«, sagte Linda und schob die Kappe auf ihren Füller. »Wie geht es Ihnen denn?«
»Sehr gut. Und wie geht es dir?«, Imma unterbrach sich. »Entschuldige, jetzt habe ich einfach Du gesagt.«
»Ach, bitte behalten Sie es bei. Es käme mir komisch vor, wenn Sie mich siezen würden.«
Imma schmunzelte. »In Ordnung. Wie gefällt es dir denn hier an der Schule?«
»Gut. Lehrerin ist mein Traumberuf.«
»Ja, ich erinnere mich. Das hast du mir in unseren Therapiesitzungen damals schon erzählt.« Imma holte tief Luft. »Linda, ich bin hier, weil ich mit dir über etwas reden muss.«
Sie sah Imma erstaunt an. »Das klingt ja richtig ernst. Worum geht es denn?«
Imma griff in ihre Handtasche und holte das Heft hervor, das sie gestern in ihrem Schrank herausgesucht hatte. Sie schlug es an einer bestimmten Stelle auf und legte es auf den Schreibtisch. »Darum.«
»Oh«, sagte Linda langsam und starrte darauf, »das.«
»Verstehst du – ich muss es Minke sagen.« Imma machte eine Pause. »Aber ich wollte zuerst mit dir reden.«
Lindas Gesicht verschloss sich. »Das ist doch alles so lange her. Und es hatte nichts zu bedeuten.«
»Linda, du warst damals mein Sorgenkind. Ich habe selten einen verzweifelteren Teenager bei mir im Büro gehabt als dich.«
»Ich war damals wütend auf die ganze Welt.«
»Du warst vor allem wütend auf deinen Vater, weil er dir die Beziehung zu Felix verboten hat. Und tausend andere Dinge auch.«
»Ja, und? Felix und ich haben uns eben heimlich getroffen.«
»Du wolltest mit Felix damals abhauen, das hast du mir erzählt. Du hast gesagt, dass du das Leben zu Hause nicht mehr erträgst, und hast deinen Vater mit einem Kerkermeister verglichen.«
»Er war … Er wurde immer schwieriger. Er kam wohl nicht damit klar, dass ich älter wurde und meinen eigenen Kopf hatte«, Linda seufzte. »Ich war immer sein kleiner Engel, er hat mich auf Händen getragen. Aber er hat eben auch alles bestimmt – dass ich Ärztin werden sollte, dass Felix nicht gut genug für mich war. Bloß ein Realschüler, hat er gesagt, er ist doch bloß ein Realschüler.«
»Nicht nur das, er hat dich auch eingesperrt, bis du ihm versprochen hast, mit Felix Schluss zu machen. Zumindest hast du mir das damals erzählt.«
Linda nickte. »Das stimmte auch. Und Nadine sollte ich auch nicht mehr sehen. Dass ich an dem Abend bei ihr übernachten durfte, hat an ein Wunder gegrenzt. Das ist das letzte Mal, hat er zu mir gesagt, dass du bei diesen Bauern übernachtest.«
Imma überlegte, wie sie fragen konnte, was sie fragen wollte. Sie entschied sich für einen Umweg. »Linda, es gibt einen berühmten Fall – berühmt auch unter uns Psychologen«, erzählte sie. »In Neuseeland gab es einmal zwei Mädchen; sie waren erst fünfzehn und beste Freundinnen, so wie du und Nadine. Da sollte plötzlich eines der Mädchen mit ihrer Mutter umziehen. Die Mädchen wollten das nicht zulassen, sie wollten nicht getrennt werden. Da lockten sie die Mutter in einen Park und erschlugen sie gemeinsam.«
Stille erfüllte den Biologiesaal. Schließlich sagte Linda: »Sie wollen wissen, ob ich meinen Vater umgebracht habe? Weil er versucht hat, mir Felix und Nadine zu verbieten?«
»Hast du?«
Linda klappte das Heft zu und reichte es Imma zurück.
»Es war ein ganz einfacher Mädchenabend in den Achtzigern, damals bei Nadine: Gruselgeschichten, Jungsschwärmereien, Süßigkeiten. Mehr nicht.«
Imma lächelte. »Gut. Dann kann ich mit Minke darüber reden?«
»Das können Sie. Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe um meinen Vater getrauert und tue es jetzt noch einmal. Ich habe ihn gehasst und geliebt, beides zugleich.«
»Ja, aber nach meiner Erfahrung ist das oft die schlimmste Mischung.« Imma steckte das Heft in ihre Handtasche zurück und verabschiedete sich. Als sie schon bei der Tür war, drehte sie sich noch einmal um. »Komm doch mal zu mir zum Kaffee«, sagte sie. »Ich bin zwar nicht die perfekte Hausfrau wie deine Mutter, aber dafür weiß ich, wo es die besten Kekse zu kaufen gibt.«
»Glauben Sie mir, die perfekte Hausfrau zu sein, ist nicht erstrebenswert – zumindest wenn man es geworden ist wie meine Mutter.«
Imma sah sie stirnrunzelnd an. Linda lächelte. »Ich komme gerne.«
Wie immer, wenn Esther in Jüstering war, war sie erstaunt, wie viel Trubel hier herrschte im Vergleich zu dem geruhsamen Halligleben auf Nekpen. In den Straßen waren viele Leute unterwegs, erst recht bei diesem guten Wetter und vor dem anstehenden Sturm, vor dem alle noch irgendwelche Besorgungen machen wollten. Im Hafen lagen zwei Krabbenkutter; der merkwürdig goldene Himmel überzog die Backsteinfassaden der alten Hafenhäuser mit einem besonderen, warmen Licht. Unter anderen Umständen hätte Esther den Tag genutzt, um durch die Läden zu bummeln, vielleicht neuen Tee zu kaufen und in ihrem Lieblingsbuchladen vorbeizuschauen. Zum Abschluss hätte sie wie immer eine Fischsuppe im Strandrestaurant gegessen. Aber für nichts davon hatte sie heute Zeit. Sie steuerte zielstrebig ins Herz der Altstadt, wo der einzige Bestatter von Jüstering sein Geschäft hatte.
»Guten Morgen, Frau …?« Der feiste Bestatter machte eine angedeutete Verbeugung. Er war die Sorte Mann, die sich darin gefiel, von der alten Schule zu sein. Seine Lackschuhe glänzten frisch poliert.
»Esther Johannsen«, sagte Esther. »Ich hatte mich angemeldet.«
»Oh, natürlich -«, er verzog das Gesicht. »Johannsen – ich habe natürlich von dem Fall in der Zeitung gelesen. Mein Beileid, gnädige Frau.«
»Danke.«
»Wie darf ich Ihnen behilflich sein, Frau Johannsen?«
Esther sah sich um. Eine ganze Wand des Raumes war voller verschiedener Urnen; gegenüber gab es Bilderrahmen mit Trauerflor und Beispiele für Traueranzeigen. »Ich möchte meinen Mann beerdigen – morgen schon.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Morgen?«
Esther schluckte und nickte dann fest. »Am Vormittag. Auf dem Friedhof in Midsand.«
Der Bestatter war erfahren, aber dies war auch für ihn eine neue Situation. »Na ja, wenn Sie es so wünschen«, sagte er gedehnt. »Aber das wird teurer werden als eine gewöhnliche Beerdigung.«
»Das macht nichts.«
»Und die ganzen Gäste – viele von ihnen können vielleicht kurzfristig nicht.«
»Es soll nur eine ganz kleine Feier werden, keine öffentliche Beerdigung. Die Gäste, die ich dabeihaben will, haben alle Zeit.«
»Ach ja? Nun, dann gibt es allerdings nun sehr viel zu entscheiden. Begonnen mit dem Sarg – dem Herzstück einer Beerdigung, wie ich immer sage.« Ein paar Minuten später führte der Bestatter Esther durch einen Nebenraum voller Särge. Esther fühlte sich zwischen all diesen menschenlangen Holzkästen beklommen. »Diesen hier nehmen viele«, der Mann klopfte auf ein schlichtes Modell aus Kiefernholz. »Stabil und funktional, eine vernünftige Ausführung.«
»Nein, der passt nicht zu meinem Mann.«
»Was würde denn zu ihm passen?«
Esther dachte nach. Unsicher sagte sie schließlich: »Vielleicht dunkles Holz? Haben Sie so etwas?«
Der Bestatter witterte die Gelegenheit für ein gutes Geschäft. »Dann möchte ich Ihnen dieses Modell ans Herz legen«, er wies auf einen Sarg aus glänzend rotem Mahagoni mit Metallbeschlägen. »Ein sehr männlicher Sarg.« Absichtlich stellte er sich so, dass er das Preisschild verdeckte.
Esther fuhr mit den Fingerspitzen über das Holz. Es war glatt und kühl. »Ja«, sagte sie, »den nehme ich.«
Der Bestatter nickte zufrieden. »Großartige Wahl.« Er füllte sofort den Bestellschein aus.
»Und wie dürfen wir die Feier für Sie gestalten?«, fragte er dann weiter.
»Dafür brauche ich niemanden. Wir feiern bei mir zu Hause.«
»Oh, ganz intim. Wie schön.« Innerlich strich der Bestatter zähneknirschend die Catering-Provision. »Und wie sieht es mit dem Blumenschmuck aus?«
»Den mach ich auch selbst. Bitte organisieren Sie nur alles, was das Grab und den Friedhof betrifft. Sargträger und so weiter, Sie kennen sich da besser aus als ich.«
»Sehr wohl, gnädige Frau.« Er machte wieder eine seiner angedeuteten Verbeugungen.
Dann hielt er ihr einen Kugelschreiber hin und legte ein Dokument vor. »Auftragserteilung« stand darüber. Esther unterzeichnete, ohne es überhaupt zu lesen.
»Bis morgen Vormittag«, sagte sie. »Und danke.«
Er schüttelte ihr die Hand und verabschiedete sich. Als sie den Laden verließ, dachte er, dass Esther Johannsen die merkwürdigste Witwe war, die er seit Langem erlebt hatte.
Minke klopfte an Klaus‘ Bürotür. Als sie öffnete, saß er grimmig am Schreibtisch und hielt den Telefonhörer ans Ohr. »Nein, Herr – wie heißen Sie noch mal? Wir brauchen niemanden, der den Aufenthaltsort des Vermissten auspendelt«, knurrte er gerade. »Und auch kein Tarot oder Horoskop oder eine Kristallkugel«, er feuerte den Hörer grußlos auf das Telefon. »Na, kapierst du jetzt, warum ich heute keine Lust hatte, hier herumzusitzen und diesen Blödsinn anzuhören?«
Minke grinste. »Ja. Aber ich habe aus diesem ganzen Zeug, das sich die Leute zusammenreimen, zwei Dinge herausgefischt, die etwas sein könnten.«
»Na dann«, Klaus sah sie desinteressiert an. »Was ist jetzt mit deinem Pizza-Tipp? Ich habe meinen Teil der Verabredung erfüllt.«
Minke überging die Frage. »Ein Rentner will Dienstag früh hinter David in der Schlange am Postschalter gestanden haben. Und eine Bäckereiverkäuferin sagt, er wäre am selben Morgen ihr Kunde gewesen. Es klang beides glaubwürdig.«
»Welche Bäckerei?«
»Die am Hafen; mit der Kletterrose an der Fassade.«
Klaus‹ mürrisches Gesicht hellte sich auf. »Die haben den besten Butterstreuselkuchen, den es gibt. Falls du hingehst – bring mir ein Stück mit. Aber ein großes, ohne Rand und mit vielen Streuseln«, er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, du würdest doch das Falsche bringen; ich komme mit.« Er warf einen grimmigen Blick auf sein Telefon. »Außerdem laufe ich dann nicht Gefahr, aus Versehen noch einmal das Telefon abzunehmen und mit jemandem zu telefonieren, der den Deichgrafensohn mit der Wünschelrute finden will.«
Die kleine Stadtpost lag nicht weit von der Stadtkirche entfernt am Marktplatz. Minke parkte davor, während Klaus murrte, dass sie nicht zuerst zur Bäckerei gegangen waren. »Ich will Davids Dienstagmorgen nachvollziehen«, sagte Minke. »Die Post liegt südlich, die Bäckerei nördlich. Er muss erst zur Post gegangen sein, bevor er Richtung Nordküste zur Arbeit gefahren ist.«
»Toll.«
In der Post war viel los; eine lange Schlange stand dort mit Päckchen von Versandhändlern unterm Arm, die zurückgeschickt werden sollten, mit Briefen, ein paar auch nur mit dem Geldbeutel in der Hand, bereit, Briefmarken zu kaufen. »Ähm, geh ruhig alleine«, sagte Klaus, als er die Schlange sah. Minke kramte ihren Dienstausweis aus der Tasche. »Polizei, das ist ein Einsatz.« Die Leute drehten sich um, manche mürrisch, manche neugierig. Ein oder zwei kannten sie, grinsten und grüßten. Sie drängelte sich an allen vorbei bis nach vorne zum Schalter. Dahinter stand ein Mann mit runden Brillengläsern und einer streng gescheitelten Frisur und blickte sie erschrocken an. »Ich achte immer auf richtiges Porto.«
Minke schmunzelte. »Ja, das glaube ich Ihnen – ich habe nur eine Frage«, sie zog ihr Handy aus der Tasche, auf dem sie ihm ein Foto von David zeigte. »Dieser Mann soll laut einem Zeugen am Dienstag frühmorgens hier in der Post gewesen sein. Können Sie sich an ihn erinnern?«
Der Mann beugte sich tief über Minkes Handy und begutachtete das Foto; seine Brillengläser schienen beinahe an das Display zu stoßen.
»Ja … jetzt, wo Sie es sagen – der war tatsächlich da. Aber war das gestern oder vorgestern oder vorvorgestern …?« Er sah sie verwirrt an. »Das weiß ich jetzt gar nicht mehr so genau.«
»Bitte versuchen Sie, sich zu erinnern.«
Er rückte seine Brille zurecht. Er erinnerte Minke an einen Frosch. »Lassen Sie mich nachdenken. Gestern war nicht viel los – das ist meistens so am Mittwoch. Der Mittwoch ist der kleine Sonntag, sage ich immer. Der Tag davor, sagen Sie, also Dienstag. Diesen Dienstag haben sie mir hier richtig die Bude eingerannt. Da hatte ich so viele Päckchen hier, die Postsäcke für die Halligen waren schon vormittags voll, und ich wusste gar nicht mehr, was ich noch tun sollte.« Der Postbeamte kniff die Augen hinter seiner Brille zusammen – ein abtauchender Frosch. »Frau Kommissarin, je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir: Sie haben recht, er war da. Ja ja, ganz früh am Dienstag. Der Erste oder Zweite an diesem Tag.«
»Wissen Sie auch noch, was er wollte?«
Dieses Mal dachte der Mann besonders lange nach. Hinter Minke begannen die Wartenden in der Schlange schon merklich zu seufzen und zu stöhnen. »Minke, jetzt mach mal schneller. Ich habe heute noch was anderes zu tun«, rief ein Mann, in dem Minke nach kurzem Nachdenken einen Klassenkameraden aus der Grundschule wiedererkannte. Sie ignorierte alles Jammern und wartete geduldig.
»Jetzt habe ich es: Er hat ein Päckchen abgegeben«, sagte der Mann schließlich.
»Und wie sah dieses Päckchen aus?«
»Rechteckig, braun … Ich glaube, es war ein Buch. Ja, ich dachte noch: ›Helmut, da ist ein Buch drin‹.«
»Wissen Sie noch, an wen das Päckchen gerichtet war?«
»Oh nein«, der Mann schüttelte vehement den Kopf. »Ich lese nie bewusst die Adressen. Das ist praktisch mein Ehrenkodex.«
Minke seufzte. »Okay, letzte Frage: Wenn er Ihr erster Kunde war – wann war das dann genau?«
Dieses Mal musste er überhaupt nicht nachdenken. »Um halb acht. Ich öffne immer um Punkt halb acht. Keine Sekunde früher oder später.« Halb acht – Diana hatte gesagt, David begann seine Arbeit immer um acht. Mit dem Fahrrad von seiner Wohnung hinaus zur Station dauerte es höchstens eine Viertelstunde. Er hätte also auch noch etwas später zur Post fahren können und wäre trotzdem noch pünktlich gewesen. Warum war er so früh gekommen? Er wollte keine Zeit verlieren, dachte Minke. Das passte auch zu ihrem Eindruck von dem Verpackungszeug auf dem Wohnzimmertisch. Ihm war anscheinend alles egal gewesen – Hauptsache, das Päckchen, das er verschicken wollte, ging so schnell wie möglich auf die Reise. Es musste etwas Wichtiges darin gewesen sein.
»Danke schön, Sie haben mir sehr geholfen.« Minke lächelte. Helmut wirkte erleichtert, ebenso wie die Schlange der Wartenden.
Die kleine Bäckerei am Hafen, zu der sie als Nächstes fuhren, war eine der ältesten in Jüstering und lag in einer malerischen Seitengasse. Dieses Mal kam Klaus selbstverständlich mit. In dem kleinen Laden duftete es nach Frischgebackenem. Ein Hafenarbeiter war gerade damit beschäftigt, eine Menge Proviant und Kaffee für sich und seine Kollegen zu kaufen. Als er endlich seine Kaffeebecher und Bäckereitüten aus der Bäckerei hinausbalancierte, sprach Minke die Verkäuferin an. »Sind Sie Frau Rothfuß?«
Die Verkäuferin, eine Frau mit ausladenden Hüften und Busen, nickte. »Und Sie sind die Kommissarin?«, sie entblößte beim Lächeln einen blinkenden Schmuckstein im Schneidezahn. »Wissen Sie, ich habe noch nie bei der Polizei angerufen. Aber unter diesen Umständen … Da ist es doch meine Pflicht, mich zu melden, denke ich.«
Klaus betrachtete mit leuchtenden Augen die Kuchenauswahl und machte keine Anstalten, sich am Gespräch zu beteiligen. »Das haben Sie richtig gemacht«, bestätigte Minke. »Also – Sie sind sich sicher, dass David Holt vorgestern Morgen hier war?«
»Oh ja, garantiert. Er ist ein Stammkunde von uns, kommt immer morgens vor der Arbeit. Wissen Sie«, Frau Rothfuß beugte sich vertraulich zwinkernd vor, »meine Kolleginnen und ich streiten uns immer ein bisschen darum, wer ihn bedienen darf. Schon ein echtes Schnuckelchen, stimmt‘s?«
Minke schnitt eine Grimasse. »Ist mir noch gar nicht aufgefallen. War irgendetwas Ungewöhnliches daran, wie David an diesem Morgen war?«
»Nein. Außer, dass er ein bisschen früher dran war als sonst. Normalerweise kommt er etwa zehn vor acht. Aber dieses Mal war er sicher … na ja, fünf bis zehn Minuten früher hier.«
Ja, weil er vorher bei der Post war, dachte Minke. Wenn ich bloß wüsste, was in dem Paket war. Was konnte an einem Buch so wichtig sein?
Währenddessen redete die Verkäuferin weiter: »›Moin, Herr Holt‹, habe ich gesagt und er hat zurückgegrüßt. Er hat ja so ein nettes Lächeln, richtig zum Dahinschmelzen. ›Dasselbe wie immer?‹, habe ich gefragt – er nimmt immer das Käsebrötchen mit Tomate und Gurke – und er hat genickt. Ich habe ihm das Brötchen eingepackt, er hat bezahlt. ›Einen schönen Tag, Frau Rothfuß‹, hat er gesagt. ›Das wünsche ich Ihnen auch‹, habe ich geantwortet. Dann ist er gegangen.«
Sie sah aus, als wäre es ihr unangenehm, nicht mehr beitragen zu können. »Und er ist wirklich verschwunden?«
»Ja – auf dem Weg zur Arbeit.«
Frau Roth erbleichte. »Aber das heißt ja – dass ich vielleicht die Letzte bin, die ihn gesehen hat!«
Minke nickte.
»Wie furchtbar«, die Verkäuferin schlug sich die Hände vor den Mund.
»Ähm, Frau Verkäuferin«, sagte Klaus in diesem Moment und schnippte unpassend mit dem Finger. »Haben Sie zufällig auch einen Lieferservice für Streuselkuchen? Dann würde ich drei Kuchen für morgen Abend zu meinem Ausstand bestellen. Und ein Stück für jetzt zum Mitnehmen.«
Frau Rothfuß sah verwirrt zwischen Minke und Klaus hin und her. Minke zuckte die Achseln.
»Was halten Sie von Dahlien?«
»Ich habe sie gerne im Garten.« Esther blickte über einen leuchtenden Strauß aus roten Gerbera und orangefarbenen Strelitzien hinweg zu der Verkäuferin, die ihr so jung vorkam, als sei sie eher ein Kind als eine erwachsene Frau. »Aber mein Mann konnte sie nicht leiden.«
Das Mädchen bemühte sich um ein höfliches Gesicht. Seit einer halben Stunde begleitete sie Esther durch den Blumenladen und nichts wollte ihrer Kundin gefallen.
»Chrysanthemen?«, sagte sie einigermaßen verzweifelt.
»Nein, er hat immer gesagt, das seien Totenblumen.«
Die Verkäuferin schwieg verblüfft. Diese Beratung zum Thema Sarggesteck wurde immer eigenartiger. »Was stellen Sie sich denn vor?«, fragte sie ratlos.
Esther sah über die Blumensträuße, die im Laden ausgestellt waren, über die Topfpflanzen, in denen Herzchen oder Windrädchen steckten, hinweg. Das alles hätte Hinnerk nicht gefallen. Sie schloss die Augen und stellte sich den Mahagonisarg vor, den sie gerade für Hinnerk gekauft hatte. Welches Gesteck würde darauf gut aussehen? Freesien, dachte sie plötzlich, und weiße Rosen. Sie öffnete die Augen. »Weiße Rosen und cremefarbene Freesien.«
»Mit ein bisschen Schleierkraut?«, fragte das Mädchen eifrig.
»Nein, nur das – Rosen und Freesien.«
»Eine rote Rose dazwischen vielleicht? Es verdeutlicht die Liebe.«
»Nein. Nur weiße.«
Das Mädchen nickte erschöpft. »In Ordnung. Also ein Sarggesteck, einen Blumenkranz für das Grab und die Sträußchen für die Kirchenbänke, richtig? Und immer weiße Rosen und cremefarbene Freesien?«
»Ja, bitte.« Esther atmete erleichtert aus. Immerhin eine Last war von ihr genommen. Es würde vollkommen aussehen, sie wusste es. Sie konnte sich nur nicht mehr entsinnen, wo sie es schon einmal gesehen hatte. »Danke für Ihre Beratung. Ich war schwierig, entschuldigen Sie.«
Esther nickte dem Mädchen zu und verließ den Laden.
»Was wissen wir denn jetzt schon? Dass der Schönling gerne Käsebrötchen isst und auf der Post war. Und dass die Bäckereiverkäuferinnen reihenweise in ihn verliebt sind – Wahnsinn, das hilft uns weiter«, spottete Klaus, während er neben Minke im Schritttempo durch die Gassen zurück zur Polizeiwache fuhr. Immer wieder biss er in das Stück Streuselkuchen, das er gekauft hatte. Dass er alles vollbröselte, störte ihn nicht. Minke hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie grübelte darüber nach, was sie in der letzten Stunde erfahren hatte und was es bedeuten könnte. Dreh- und Angelpunkt, da war sie sich inzwischen sicher, war das Päckchen. Sie stellte sich vor, wie David am Dienstagmorgen aus dem Haus geeilt war, ein paar Minuten vor halb acht. Um sieben hatte er mit seinem Vater telefoniert. Jetzt fuhr er zur Post und wartete, bis sie öffnete. Dann gab er das Päckchen ab, als allererster Kunde an diesem Tag. Wahrscheinlich war er jetzt beruhigt – das Paket war unterwegs. Also war er zur Bäckerei gefahren, so wie jeden Tag. Er hatte das gleiche Brötchen wie immer gekauft. Und dann … Ja, was war dann passiert?
Minke war so in Gedanken versunken, dass sie beinahe die schwarz gekleidete Frau mit der eleganten Frisur übersehen hätte, die gerade aus dem Blumenladen neben der Apotheke kam. »Das ist doch …« Minke bremste so abrupt, dass Klaus beinahe sein Streuselkuchen aus der Hand fiel. Sie sprang aus dem Wagen. »Esther! Esther, Moin! Warte mal kurz!« Esther blieb stehen und sah sich um. »Ach, Minke, du bist es. Ich habe leider keine Zeit, ich muss Hinnerks Beerdigung vorbereiten.«
»Warum, wann ist sie denn?«, fragte Minke irritiert.
»Morgen Vormittag. Vor dem Sturm. Wir feiern nur im ganz kleinen Kreis.«
»Esther, ich muss mit dir reden – eigentlich wäre ich heute noch nach Nekpen rausgefahren, aber wo ich dich eben hier gesehen habe …«
»Ja, worum geht es denn?«
Minke wurde erst jetzt klar, dass die Situation nicht gerade optimal war, um so eine heikle Frage zu stellen. Aber nun gab es kein Zurück. »Bo hat ein neues Untersuchungsergebnis«, begann sie. »Die Knochen von Hinnerk waren sehr porös, verstehst du?«
Esther schüttelte den Kopf. »Porös? Wie bei Osteoporose?«
»Nein«, erwiderte Minke gedehnt. »Wie bei jemandem, der schwerer Alkoholiker war.«
Esther starrte sie an.
»Stimmt es? Hat Hinnerk getrunken?«
Minke konnte Esthers Miene nur schwer deuten. »So ein Unsinn«, sagte sie schließlich. »Hinnerk hat natürlich abends ab und zu einen Cognac getrunken, oder einen Scotch – wie jeder normale Mann.«
»Bo sagt …«
Plötzlich war Esthers sonst so ruhiges, fast schüchternes Gesicht vor Wut verzerrt. »Tja, dann irrt sich dein Bruder eben«, fauchte sie. »Mein Mann war kein Alkoholiker. Und ich muss jetzt weiter.« Sie rannte beinahe auf der Straße davon. Minke sah ihr stirnrunzelnd nach. Als sie zum Auto zurückkam, saß Klaus seelenruhig auf dem Beifahrersitz und stopfte sich gerade den letzten Rest Kuchen in den Mund. »Wer war das denn bitte?«, fragte er. »Die hat ja von einer Sekunde auf die andere ausgesehen wie eine Furie.«
»Ja«, sagte Minke nachdenklich. »Und das ist sie eigentlich nie. Sie hat eigentlich eher etwas … fast Unterwürfiges.«
»Da hast du wohl einen Knopf gedrückt.« Klaus sah Esther nach. »Also, wer war das?«
»Esther Johannsen. Kennst du sie nicht?«
»Nö. Ich bin Jüsteringer. Mit den Halligen habe ich nichts zu tun – meine Oma hat es schon gesagt: Da wohnen nur Nixen und Wassermänner. Aber diese Frau«, er zwirbelte sich grübelnd den Schnurrbart. »Ich habe das Gefühl, ich habe sie trotzdem schon einmal gesehen. Aber mir fällt nicht ein, wo.« Er zuckte die Achseln. »Ach, ist ja auch egal. Los, Mäuschen, fahr mich zu dieser Pizzeria, damit ich endlich Nägel mit Köpfen machen kann.«
Die Grabsteine im Vorgarten des Steinmetzes reihten sich dicht aneinander; Beispielsteine mit Beispieltexten darauf, aus Granit, aus grauem Schiefer, glänzend oder rau, hell oder dunkel.
»Was meinst du?«, fragte Esther, die neben Ruth stand und auf diesen falschen Friedhof sah.
»Na ja«, sagte Ruth schließlich. »Granit wäre wahrscheinlich gut. Der ist stabil und sieht schick aus.«
»Granit …« Esther sah die Steine aus diesem Material unschlüssig an. »Aber welche Farbe? Rot? Grau? Hell? Der Sarg ist mahagonifarben.«
»Ich weiß nicht, ob der Stein unbedingt zum Sarg passen muss.«
Esther wandte sich zu Ruth. »Übrigens habe ich weiße Rosen und cremefarbene Freesien als Blumenschmuck bestellt.«
Ruth zuckte zusammen. »Großer Gott, Esther, warum machst du das?«
»Wieso, was meinst du?«
»Das kannst du doch nicht vergessen haben – genau diese Blumen standen auf dem Tisch, damals, an dem Abend, an dem Hinnerk … na ja.«
Esther erstarrte. »Lieber Gott. Das wusste ich nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich das verdrängt. Aber jetzt ist es schon so bestellt.« Sie atmete tief ein. »Und, na ja, es ist ja dann eigentlich ganz passend, oder?«
In diesem Moment kam der Steinmetz, ein grobschlächtiger Mann mit aufgesprungenen Händen und einer Stirnglatze, auf sie zu. »Sind Sie Frau Johannsen?«
Esther nickte und stellte Ruth vor.
»Haben Sie sich schon ein bisschen umgesehen? Gibt es einen, der Ihnen gefällt?«
Esther sah sich hilflos um. »Ich weiß es nicht. Granit vielleicht.«
»Davon haben wir ganz unterschiedliche Modelle.« In der nächsten halben Stunde führte der Steinmetz die beiden Schwestern über seinen Beispielfriedhof. »Sie sehen«, sagte er am Schluss, »ich erfülle Ihnen alle Wünsche, Sie müssen sie mir nur sagen.«
Esther sah unschlüssig zu Ruth. »Was denkst du?«
»Ich denke, der dunkelgraue Granit wäre gut. Und die eingravierten Buchstaben. Der Name und die Lebensdaten und vielleicht noch ein Kreuz.«
Der Steinmetz sah zu Esther. »Sind Sie einverstanden mit dem, was Ihre Schwester sagt?«
»Ja … ja, natürlich.«
»Gut, dann mache ich mal den Bestellschein fertig.«
Als er gegangen war, sah Ruth ihre Schwester forschend an. »Was ist los?«, fragte sie. »Du hast doch etwas.«
»Minke hat mich vorhin abgepasst. Sie fragte«, Esther sah auf den Boden und musste sich sammeln, »sie fragte, ob Hinnerk Alkoholiker war. Seine Knochen zeigen das angeblich.«
»Ach Esther. Was hast du gesagt?«
»Dass er es nicht war.« Esther sah ihre Schwester hilfesuchend an. »Ruth, er war doch meine große Liebe.«
»Ich weiß. Leider.« Ruth hakte sich bei ihrer Schwester unter. Gemeinsam schlenderten sie eine Reihe von Grabsteinen entlang. »Esther, du musst ihn endlich loslassen. Es ist dreiunddreißig Jahre her, und du bist immer noch in diesem …«, Ruth suchte nach Worten, »in diesem Gefängnis. Ich habe damals gedacht, es ändert sich – aber das hat es nicht. Es ist absurd.« Sie blieb stehen. »Ich wünschte, ich hätte dich damals nicht zu dem Kapitänsball mitgenommen.«
Esther seufzte. »Du bist die beste große Schwester, die ich mir vorstellen kann, weißt du das eigentlich?« Sie umarmte Ruth. »Wenn ich den Bestellschein unterschrieben habe, lade ich dich auf eine Fischsuppe ein.«
»Wie wäre es mal mit einer Portion fettigen Pommes Frites, am besten mit einer Currywurst?«
Esthers Miene wurde undurchdringlich.
»Fischsuppe ist aber auch gut«, schob Ruth nach.
»Danke.« Der Steinmetz kam mit dem Bestellschein zu ihnen zurück. »Es waren eingravierte Buchstaben, Namen, Lebensdaten und was noch?«
»Ein Kreuz«, sagten die Schwestern im Chor.
Minke fuhr zum dritten Mal in dieser Woche zur Praxis von Doktor Simon. Sie hatte keine Geduld mehr, weiter auf die Patientenliste zu warten; sie musste endlich wissen, zu wem Hinnerk in der Nacht gefahren war.
Das Wartezimmer war voll, die Arzthelferin sah genervt auf, als sie hereinkam. »Sie wollen wahrscheinlich wieder zum Doktor?«, fragte sie. »Sie sehen ja, was hier heute los ist.«
»Es dauert nicht lang.« Minke ging ohne zu zögern auf die richtige Tür zu, die sie inzwischen schon kannte.
»Hey!« Die Arzthelferin stand auf und versuchte, sie einzuholen. »Das dürfen Sie nicht!« Es war schon zu spät, Minke hatte die Tür aufgerissen. Doktor Simon sah erstaunt auf. Vor ihm saß auf der Untersuchungsliege ein alter Mann mit entblößtem Oberkörper und einer Menge weißer Brusthaare, der gerade dabei war, auf Anweisung zu husten. In Doktor Simons Ohren steckten die Enden eines Stethoskops. »Frau van Hoorn, alles, was recht ist!«, fuhr er auf.
»Ich brauche jetzt die Patientenliste«, sagte Minke anstatt einer Entschuldigung. »Haben Sie sie?«
Er nickte. »Ja. Ich hätte sie Ihnen heute noch gebracht. Es war schwierig – aber ich denke, ich habe die meisten beisammen, die es damals waren. Natürlich ist der Großteil inzwischen tot.« Der Arzt wies auf ein Blatt Papier, das auf seinem Schreibtisch lag. »Nehmen Sie sie, und dann gehen Sie bitte wieder. Ich bin mitten in der Untersuchung.«
Minke griff nach der Liste. Es standen etwa zwanzig Namen darauf. »Danke«, sie faltete das Blatt und steckte es in ihre Tasche. Dann sagte sie spontan: »Ihr Freund Hinnerk war ein schwerer Alkoholiker, wussten Sie das?«
Doktor Simon ließ endgültig das Stethoskop sinken. Der alte Mann sah verblüfft zwischen ihm und Minke hin und her. »Was soll das? Wer ist diese Frau?«, fragte er.
»Das ist die neue Kommissarin«, antwortete Alexander beiläufig. Dann wandte er sich an Minke. »Nein, das wusste ich nicht. Wie kommen Sie darauf?«
Minke betrachte ihn misstrauisch. Er wirkte angespannt.
Der alte Mann auf der Untersuchungsliege räusperte sich. »Fräulein«, sagte er, »könnten Sie jetzt vielleicht …«
Minke nickte und ging.
Die Meereslandschaft vor Jüsterings Küste hatte sich wieder für einige Stunden in eine beinahe außerirdisch wirkende Wattlandschaft verwandelt. Minke beschloss, zu Fuß hinüber nach Midsand zu gehen. In den Pfützen, die sich über das Watt verteilten, spiegelte sich der goldene Himmel. Es lag eine ganz besondere Stimmung über der weiten Wattlandschaft. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte Minke.
Als sie auf Midsand ankam, ging sie sorgfältig die Patientenliste durch. Die meisten Namen kannte sie und wusste, wo die Aufgelisteten wohnten oder gewohnt hatten. Der Großteil der Patienten von Hinnerk kam von der Markuswarft, aber auch auf die anderen Warften verteilten sich die Namen. Minke sah sich um. Hinnerks Boot war ausgebrannt westlich von Midsand in Richtung des offenen Meeres getrieben. Wenn man nicht davon ausging, dass die Strömung das Boot um die ganze Hallig herum und zwischen Midsand und Nekpen hindurchgetrieben hatte, dann war es nur logisch, dass Hinnerk auf der westlichen Seite von Midsand angelegt hatte und auf diesem Weg auch zurück nach Nekpen gefahren war. Minke konnte alle Patienten streichen, die auf einer Midsander Warft wohnten, die östlich oder südlich gelegen war. Blieben noch die Namen der Patienten übrig, die tot waren. Sie seufzte. Damit war die Hoffnung dahin, mit demjenigen sprechen zu können, den Hinnerk Johannsen damals womöglich besucht hatte.
Einer der Patienten hatte in dem Haus gewohnt, das ihr nächstes Ziel war: die Bankfiliale von Midsand. Immer noch ließen ihr das Geld auf Hinnerks Konto und der Bankraub keine Ruhe.
Minke beschloss, Geert dort einen Besuch abzustatten. Jetzt, wo sie wusste, dass hier einmal eingebrochen worden war, sah sie die Bank plötzlich mit ganz anderen Augen. Sie war geradezu ideal, um dort einzubrechen – mit ihren zwei großen Fensterscheiben, von denen eine direkt aufs Meer hinausging, die andere auf die Halligwiese. In beiden Scheiben hingen eine Menge Werbeplakate und Aushänge: die Ankündigung eines Kirchenchorkonzerts in der Midsander Kirche, der nächste Termin für die Gesamtversammlung der Halligbewohner, die vier Mal im Jahr stattfand, und der aktuelle Gezeitenkalender für die kommenden Tage.
Minke interessierte sich für all das nicht; sie öffnete die Tür zur Bank. Der Raum dahinter war klein, es passten gerade ein Schreibtisch, ein Kundenstuhl und ein Tresor hinein, dazu ein Wandregal für Informationsprospekte zu Themen wie Tagesgeld und Wertpapiere. Ein alter Kalender hing hinter dem Schreibtisch, die Luft war stickig und trocken von der Heizung. Am Schreibtisch saß Geert. Er schrak zusammen, als er sie bemerkte, und legte schnell einen Ordner auf das Blatt Papier vor sich. »Ach Minke – du bist‘s«, sagte er dann betont gut gelaunt. »Willst du ein neues Konto eröffnen? Die guten Polizeigehälter wollen schließlich sicher verwahrt werden.« Er lachte nervös.
»Nein. Ich wollte mich nur hier umsehen und mit dir reden.«
»Oh, oh, richtig ernst und offiziell. Da kann ich dir natürlich keine Gummibärchen dazu anbieten«, er raschelte mit der halb leer gegessenen Tüte. »Das würde der Bedeutung wohl nicht gerecht werden.«
Minke setzte sich Geert gegenüber auf den Kundenstuhl aus Kunstleder und Chrom und nahm sich ein Gummibärchen. Dabei fiel ihr Blick auf eine Ecke des Blattes, das Geert so unbedingt zu verstecken versuchte.
»Also, worum geht es?«, Geert spielte mit einem Kugelschreiber. »Um David? Ist ja echt dramatisch. Ich hoffe, der taucht bald wieder auf. Du bestimmt auch.«
»Wie meinst du das?«
»Na … da geht was rum«, er zwinkerte ihr zu. »Jemand hat euch gesehen, bei deiner kleinen Feier. Die Kommissarin und der Deichgrafensohn – klingt ja wie aus Ruths Romanen.«
Statt einer Antwort kramte Minke ihr Handy hervor und zeigte Geert den abfotografierten alten Zeitungsartikel über den Bankraub. »Deshalb bin ich hier.« Er kniff die Augen kurzsichtig zusammen, als er sich über das Display beugte. »Oh, der Einbruch damals. Wie bist du denn auf die alte Geschichte gestoßen?«
»Ich war im Zeitungsarchiv. Kannst du mir ein bisschen mehr über diesen Einbruch erzählen? In den Akten steht nicht so viel.«
»Klar. Also mal sehen.« Er stand auf und klopfte auf die Fensterscheibe, die zur Meerseite zeigte. »Diese hier war damals eingeschlagen. Eine totale Sauerei, die Scherben lagen hier überall, und reingeschneit hat es auch. Ich hätte ja gern danach einen neuen Teppich reingemacht, aber die Knauser in der Jüsteringer Zentrale haben behauptet, der hier wäre noch gut. Kannst du dir vorstellen, dass ich bis heute keinen neuen Teppich habe?«
Minke sah auf den bräunlichen Teppichboden. »Nein.«
»Tja. Jedenfalls war das das Fenster, über das sie reingekommen sind.«
»Sie?«
»Ja. Oder er. Oder sie – Einzahl. Wie du willst.«
Minke betrachtete die Scheibe. Die hätte ich mir auch ausgesucht, wenn ich einbrechen wollte, dachte sie. Sie war am wenigsten einsehbar.
»Gab es denn keine Alarmanlage?«
»Doch«, Geert machte ein zerknirschtes Gesicht. »Es hätte eine gegeben, wenn ich nicht vergessen hätte, sie einzuschalten. Ich habe deswegen ganz schön Ärger gekriegt vom Jüsteringer Chef.«
»Kann ich mir vorstellen. Immerhin kamen 200.000 Mark weg.«
»Normalerweise habe ich hier gar nicht so viel. Aber am Tag zuvor war gerade eine Geldlieferung angekommen.«
»Wer wusste alles von dieser Lieferung?«
Geert lachte. »Minke, komm schon. Du bist doch auch hier auf der Hallig aufgewachsen. Jeder kriegt auf Midsand alles mit; der Geldtransport ist nicht gerade unauffällig. Da legt ein kleines Boot an, und ein Typ in Uniform und mit an der Hand angekettetem Geldkoffer spaziert hierher in die Bank. Das ist nicht James Bond.« Er machte eine Pause. »Jedenfalls wurde das gute Stück hier aufgesprengt«, er zeigte auf den Tresor. »War ganz schön verbogen. Die Kosten für die neue Tür kamen also auch noch dazu für die Bank. Insgesamt nicht gerade frohe Botschaften für den Bankdirektor so kurz vor Weihnachten.« Er schnitt eine Grimasse. »Der hat getobt. Hätte mich fast rausgeschmissen, aber nur fast.«
Minke ging noch einmal um die kleine Bank herum. Von dem Fenster aus, durch das der Einbrecher gekommen war, konnte man auch Nekpen sehen, stellte sie fest. Während sie noch dastand und hinüber zu der kleinen Hallig sah, begannen wieder einmal die künstlichen Möwen in ihrer Tasche zu krächzen. Es war Diana. »Minke, tut mir echt leid, ich weiß wirklich nicht, wen ich sonst anrufen sollte.« Sie klang schon wieder beinahe hysterisch. Zuerst dachte Minke, es ginge um David, aber dann redete Diana weiter. »Wir haben einen Notruf – ein Heuler draußen im Watt.«
»Und warum rufst du da mich an?«
»Weil ich nicht kann – wir haben schon wieder eine Kindergruppe da, und ich bin hier auf der Station völlig allein, weil Sandra immer noch krank ist und Franzi ihren Urlaub nicht abbrechen will, obwohl sie weiß, dass ich hier allein bin, solange David … na ja.« Sie klang, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Und du hast doch so viel Ahnung von Robben. Du bist die Einzige, die mir eingefallen ist!«
»Diana, ich kann jetzt keine Heuler suchen. Ich muss David suchen, und einen Mörder.«
Jetzt weinte Diana tatsächlich. »Aber es geht dem Kleinen wirklich schlecht. Der Fischer, der es gemeldet hat, sagte, dass es ganz kläglich geschrien hat und verletzt ist.«
Minke seufzte. Sie hatte es noch nie übers Herz gebracht, ein verletztes Tier einfach seinem Schicksal zu überlassen. Sie sah hinaus in die riesige Weite des Watts. Eigentlich konnte sie dort draußen genauso grübeln wie an jedem anderen Ort.
»Bitte«, sagte Diana flehentlich.
»Na schön. Hast du Koordinaten? Aber wehe, es ist nicht wirklich ein Notfall.«
»Oh – danke, danke, danke! Das vergesse ich dir nie!«
Kurz darauf war Minke mit ihrem alten Notfallrucksack auf dem Rücken unterwegs in der friedlichen, flach ausgestreckten Wattlandschaft, über der immer noch der merkwürdig goldene Himmel lag, der sich in den flachen, glänzenden Pfützen im Watt und in den Prielen spiegelte. Hier und da kreischte eine Möwe, ein paar schwarz-weiße Austernfischer auf ihren langen orangefarbenen Beinen eilten durchs Watt und pickten fleißig Krabben und andere kleine Tiere aus dem sandigen Boden. Minke füllte ihre Lungen mit der salzig-frischen Luft. Tatsächlich hatte sie das Gefühl, ihren Gedankenwirrwarr endlich ein wenig ordnen zu können. Warum war ihr das nicht früher eingefallen? Hier draußen hatte sie schon immer schnell einen klaren Kopf bekommen. Während sie über alles nachdachte, was in den letzten Tagen passiert war, versuchte, einen Sinn, ein Muster darin zu entdecken, und sich ab und zu nach einer besonders schönen Muschelschale bückte, sah sie sich immer wieder nach dem verletzten Heuler um. Es war eigentlich viel zu spät für einen Heuler. Seehundnachwuchs kam gewöhnlich im Sommer zur Welt und füllte dann für ein paar Wochen die Sandbänke vor den Halligen. Jetzt im Herbst waren die jungen Robben meist schon dick und rund und bereit für den Winter. Minke bückte sich und hob eine Herzmuschelschale auf. Die kleinen cremefarbenen Muscheln mit ihren gleichmäßigen Rillen hatten ihr schon als Kind am besten gefallen. Ab und zu sah sie nach draußen auf die Wasserlinie, wo in weiter Entfernung ein Schiff gemächlich fuhr. Sie sah auf die Uhr. Noch genug Zeit, bis die Flut einsetzte.
Esthers letzte Station an diesem Tag war das Pfarrhaus von Midsand. Die Kirchenwarft lag am späten Nachmittag still da, das Pfarrhaus mit seinem großen, alten Garten wirkte einladend. Der Halligpfarrer war ein gutmütiger, etwas langweiliger Mann von fast achtzig, mit großer Liebe zu seiner Kakteensammlung, die er in jedem Winkel des Hauses hegte und pflegte.
Er führte Esther in sein Wohnzimmer, und sie setzten sich. Esther sah auf die Reihe kleiner Kakteen in noch kleineren Töpfchen, die sich auf der Fensterbank aufreihten. »Also«, begann der Pfarrer bedächtig, »du möchtest, dass ich deinen Mann beerdige?« Esther und er kannten sich schon lange; er mochte sie, weil sie sich so sehr für den Kirchenchor engagierte.
»Ja«, Esther nickte. »Aber es ist vor allem wichtig, dass es schon morgen sein wird.«
»Warum hast du es so eilig?«
Esther sah in seine gütigen Augen. »Weil ich einen Abschluss brauche – unbedingt. Wenn der Sturm da ist, verzögert er alles, und das ertrage ich nicht mehr.«
»Ich verstehe. Hast du irgendwelche Wünsche für die Feier? Etwas, worüber ich predigen soll?«
Esther zog ein Blatt Papier aus der Handtasche. »Ich habe ein bisschen was aufgeschrieben. Vielleicht hilft es.«
Der Pfarrer überflog die vielen, dicht beschriebenen Zeilen. Es war nicht nur Hinnerks Lebenslauf, sondern auch noch ein paar Wünsche zur Predigt und die Angabe einer Bibelstelle in den Psalmen; nicht die Stelle selbst, nur Kapitel und Vers. »Darüber soll ich predigen?«
»Ja, bitte.«
»Ist es euer Trauvers oder Hinnerks Konfirmandenspruch oder so etwas?«
»Nein.« Sie schien nicht mehr dazu sagen zu wollen.
»Du hast dich gut vorbereitet.« Er musterte sie aufmerksam. In all den Jahren, die er Pfarrer war, hatte er einen Blick für Menschen entwickelt, aber obwohl er Esther schon so lange kannte, erkannte er erst jetzt, dass hinter ihrer schönen Fassade etwas Dunkles lag. Was hat man ihr nur angetan?, fragte er sich im Stillen. Und warum habe ich diesen Schatten noch nie bemerkt?
Esther stand auf und reichte ihm die Hand. »Danke. Wir sehen uns morgen«, sagte sie. Erst als sie gegangen war, betrat die Frau des Pfarrers den Raum mit einem Tablett, auf dem Kaffee und Kekse angerichtet waren. »Nanu, ist Esther schon weg?«
»Ja, es gab nicht viel zu besprechen.« Der Pfarrer streckte seine Hand nach seiner abgegriffenen Bibel aus, die im Regal stand. Er schlug den Vers auf, den Esther für ihn notiert hatte. »Psalm 51, Vers drei und vier«, murmelte er. »Gott sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit.«
Nachdenklich schlug er die Bibel wieder zu. Dann aß er Kekse mit seiner Frau, trank Kaffee und goss seine Kakteen.
Minkes Weg führte immer weiter ins Watt hinaus. Das Meer lag zwar immer noch in einigem Abstand zu ihr, aber sie war schon viel länger gelaufen, als sie eigentlich geplant hatte. Die Koordinaten schienen nicht zu stimmen, oder der Heuler hatte sich ein ganzes Stück weitergeschleppt, seit der Fischer ihn gemeldet hatte. Minke blieb stehen und lauschte. Schließlich, nachdem sie versucht hatte, das Kreischen der Möwen und das leise Sausen des Windes auszublenden, hörte sie es schließlich: ein klägliches Jammern, noch leise, aber unverkennbar. Minke ging ab jetzt nur noch nach Gehör. Sie war so konzentriert dabei, auf die Laute zu lauschen und die richtige Richtung beizubehalten, dass ihr zunächst die Veränderung in der Luft gar nicht auffiel. Sie wurde nasser, schwerer, der goldene Himmel schien sich einzutrüben – Seenebel fiel. Oh nein, dachte Minke, als sie den Schleier schließlich doch wahrnahm. Bei Seenebel ging kein Mensch ins Watt. Es war eine tückische Art von Nebel, die schnell und beim schönsten Wetter fallen konnte. Minke sah sich um. Die beiden Halligen und weiter hinten die Küste von Jüstering waren noch ganz klar, aber von der Meerseite her wurde die Luft von Minute zu Minute verschleierter. Sie musste sich nun endgültig beeilen; im dicken Nebel würde sie die Robbe nicht finden, und für sie selbst würde es gefährlich werden. Zum Glück wurden die kläglichen Rufe nun lauter und dringlicher. Minke ging schnell und entschlossen und sah sich systematisch um. Schließlich entdeckte sie endlich das Tier. Es lag erbarmungswürdig klein und dünn da im Watt und klagte sein Leid in die neblige Luft – ein viel zu spät im Jahr geborener Heuler. Minke ging vor dem Tier in die Knie und redete beruhigend auf es ein. Die kleine Robbe sah sie mit riesigen, kugelrunden Augen an. »Na du«, murmelte sie, »bist du verletzt?« Sie zog ihren Rucksack ab und nahm Einmalhandschuhe heraus, die sie sich überstreifte. Dann tastete sie den Robbenkörper ab; zu ihrem eigenen Erstaunen erinnerte sie sich noch genau an jeden Handgriff. Der Seehund war so mager, wie er aussah – die Knochen waren zu tasten und der Körper viel zu schmächtig. Behutsam drehte Minke das Tier zur Seite. Es war, wie sie befürchtet hatte: Der Bauch war völlig aufgerissen und entzündet. Ohne Hilfe würde der kleine Heuler bald sterben. Inzwischen war der Nebel dichter geworden. »Nichts wie raus aus dem Watt.« Eilig schlug Minke die Robbe in eine mitgebrachte Decke und hob sie hoch. Das Tier war federleicht.
Obwohl Minke sich beeilte, zurück in Richtung Land zu kommen, musste sie bald einsehen, dass der Nebel schneller war. Nach kurzer Zeit hatte sich das Watt in eine Welt aus weißer Luft verwandelt. Minke wollte es vor sich selbst nicht zugeben, aber allmählich bekam sie es mit der Angst zu tun. Bis zur Küste war es weit. Die Halligen lagen näher, aber inzwischen hatte der Nebel diese auch verschluckt. Um gegen ihre Panik anzugehen, sang sie der Robbe etwas vor. Das Tier atmete hektisch. »Oh nein«, flüsterte sie ihm zu, »du stirbst nicht. Lass mich nicht allein hier in diesem verdammten Nebel.«
Nach einer Weile blieb sie stehen. Sie hätte schon längst auf die Nekpener Halligkante stoßen müssen, aber da war nichts – nur das Watt und der Schlick unter ihren Füßen. Ich habe mich benommen wie eine Anfängerin, dachte sie wütend. Wenn Seenebel kommt, muss man raus aus dem Watt, und zwar so schnell wie möglich. Sie hätte die Robbe zurücklassen sollen – das wäre vernünftig gewesen. »Meine Scheißtierliebe«, knurrte sie. Ihr Handy hatte hier draußen keinen Empfang mehr.
Bildete sie es sich ein oder wurde der Untergrund unter ihren Gummistiefeln schon nasser? Nein, so schnell kommt die Flut nicht, beruhigte sie sich selbst. Aber diese Welt aus Nebel um sie herum war wie gemacht dafür, Angst einzujagen. Plötzlich erinnerte sie sich an alte Märchen, die ihre Oma manchmal erzählt hatte: Seemannsgarn vom fliegenden Holländer, vom Klabautermann, der mit den Seeleuten Unsinn trieb, von den Irrlichtern, die die Matrosen ins Unglück führten, wenn sie ihnen folgten.
Irrlichter – war es Einbildung oder tanzte da plötzlich wirklich ein Licht in einiger Entfernung durch den Nebel? Minke blinzelte, das Licht blieb. »Siehst du das auch?«, fragte sie die Robbe. Nein, Minke täuschte sich nicht, das Licht war da. Es schwebte in einigem Abstand über dem Boden.
»Hallo?«, rief Minke. »Ist da jemand? Ich bin hier!«
Kurz darauf schälte sich eine Gestalt aus dem Nebel, die Silhouette eines groß gewachsenen Mannes. »Moin, Lütte« – der alte Deichgraf stand vor ihr. »Hat man dir nicht beigebracht, dass man bei Nebel nicht ins Watt geht?«
Minke lachte erleichtert. »Doch – ich glaube, ich habe mal so etwas Ähnliches gehört.«
»Was tust du denn hier draußen bei dem Wetter?«
»Ich rette Robben. Und was machen Sie?«
»Ich rette Kommissarinnen. Ich habe dich vorhin im Watt gesehen und dachte, ich schau lieber mal zu, dass du heil aus dieser Suppe rauskommst.« Er richtete die Taschenlampe auf ihr Gesicht. »Komm mit, ich bring dich nach Nekpen. Du siehst aus, als könntest du einen Grog vertragen.«
Esther war nach ihrem Besuch beim Pfarrer noch auf der Kirchenwarft geblieben. Sie hatte eine Weile auf dem kleinen Halligfriedhof gestanden und die Gräber betrachtet. Einige richtig alte Grabsteine gab es dort. Darauf waren mächtige Segelschiffe eingemeißelt oder Steuerräder, Kapitänsgrade, auch ein paar Mal das Wappen der Holts. Alte nordfriesische Namen konnte man dort lesen, die heute nicht mehr vorkamen. Irgendwann begann auch auf Midsand der Nebel zu fallen. Eilig wandte sie sich vom Friedhof ab und ging hinüber in die Kirche.
Sie liebte die kleine alte Halligkirche, in der an diesem Nachmittag außer ihr kein Mensch war. Esther ging über den knarrenden groben Dielenboden den Mittelgang nach vorne bis zur ersten Kirchenbankreihe und setzte sich. Sie sah sich um, als sei sie zum ersten Mal hier: die weißgetünchten groben alten Steinwände, die blau lackierten Kirchenbänke aus Holz, denen man ihre Jahre ansah, die bescheidene Kanzel. An der Holzdecke hing ein altes Modellsegelschiff, mit Weihezeichen darauf – Schutz für die Seefahrer. Midsand war früher eine Hallig von Fischern, Matrosen und Walfängern gewesen. An einer Wand war eine alte Malerei: der Heilige Nikolaus, der Schutzpatron der Seeleute, auf einem Schiff bei rauer See. Esthers Blick schweifte weiter in Richtung Altar. Darauf standen zwei Altarkerzen, von denen nur eine brannte, und das große alte Holzkruzifix. Vor diesem Altar haben meine Eltern geheiratet, dachte Esther, und deren Eltern und so weiter. Sie hätte selbst auch gerne hier geheiratet, aber Hinnerk war die Halligkirche zu popelig gewesen – er hatte für die Hochzeit die Jüsteringer Stadtkirche bestimmt. Er hat nie verstanden, wie schön diese Kirche ist, dachte Esther, und wie viel sie mir bedeutet. Sie sah hinaus aus den gedrungenen kleinen Kirchenfenstern. Der Nebel davor war inzwischen sehr dicht. Das Licht der Altarkerze wirkte dadurch noch wärmer.
Esther stand auf, strich ihren schwarzen Rock glatt und ging zum Altar hinüber. Sie nahm die zweite, noch unbenutzte Kerze, bog den Docht mit den Fingern zurecht und entzündete ihn an der brennenden Kerze. Sofort wurde es in der nebelumwaberten Kirche ein bisschen heller. Sie stellte die Kerze an ihren Platz zurück auf den Altar, dann sah sie hinauf zu dem holzgeschnitzten Christus am Kreuz über ihr. Sein Gesicht sah sanft aus, beinahe, als würde er freundlich lächeln. Die grausamen roten Blutstropfen, die an seinen Armen und Beinen aufgemalt waren, passten gar nicht zu diesem netten Gesichtsausdruck. »Verzeihst du mir?«, fragte sie leise. »Du kennst meine Schuld, aber du weißt doch auch, warum alles so gekommen ist, oder nicht? Macht es das nicht irgendwie verzeihlich?« Jesus lächelte immer noch. Esther faltete die Hände und betete.
Im Deichgrafenhaus auf Nekpen erhitzte Jasper inzwischen Rum und Wasser und rührte ordentlich Zucker hinein. »Du wirst sehen«, sagte er, »das pulvert jeden gestrandeten Nebelwanderer wieder auf.«
Minke sah aus dem Küchenfenster. Der Nebel lag immer noch dick und undurchdringlich über allem; nicht einmal Esthers Haus am anderen Ende der Hallig war zu sehen, sogar der alte Birnbaum vor dem Haus bildete nur einen dunklen Umriss, ein paar knorrige Zweige ragten aus dem Nebel wie aus Zuckerwatte. Im Bootsschuppen, dessen Konturen man nur eben gerade erahnen konnte, lag die kleine Robbe gut versorgt in einem mit Lappen ausgepolsterten Karton, bis Minke sie hinüber aufs Festland und in die Station bringen konnte. Jasper hatte ein paar seiner am Morgen gefangenen Fische geopfert, und zu Minkes Erleichterung hatte der kleine Heuler auch tatsächlich gefressen.
»Bei Nebel wird Nekpen erst recht zur einsamen Insel«, sagte sie jetzt.
Jasper nickte. »Man bekommt an solchen Tagen eine Ahnung, wie das Halligleben früher war. Ohne Strom, ohne fließendes Wasser, immer hier auf dieser Hallig – das waren andere Zeiten. Und es ist noch gar nicht so lange her, dass es hier nur einen altersschwachen Generator gab, der ständig ausfiel.«
Minke erinnerte sich daran, dass der Generator auch damals in der Mordnacht ausgefallen war. Sie stellte sich vor, wie dunkel die Hallig an diesem Abend plötzlich gewesen sein musste, mitten im schwarzen Meer.
Jasper goss den Grog in zwei Tassen und reichte eine davon Minke. Sie schnupperte; es roch kräftig nach Rum. Als sie daran nippte, hatte sie sofort das Gefühl, als ströme flüssige Wärme durch ihre Adern.
Jasper sah sie erwartungsvoll an. »Und?«
Sie nickte. »Gut.«
»Tja, ich kenne mich mit Rum aus. Guter Rum und Pfeifen, zwei Leidenschaften, die ich von meinem Vater geerbt habe.« Er sah hinaus auf die Nebellandschaft. »Das und das Deichgrafenamt, natürlich. Mein Vater war Deichgraf, mein Großvater, mein Urgroßvater und der davor auch.«
»Und David, wenn es noch Deichgrafen gäbe«, vollendete sie.
»Ja. Er wäre mein Nachfolger.« Er sah zu ihr. »Du hast immer noch keine Spur von ihm?«
»Nein.« Sie erzählte vom Postamt und der Bäckerei.
»Er hat ein Paket verschickt? Ein Buch?«, hakte Jasper nach.
»Fällt Ihnen dazu etwas ein?«
Seine Züge verdüsterten sich. »Nein.« Dann drehte er sich in plötzlicher Wut zu ihr um. »Aber ich finde es unglaublich, dass du immer noch weitermachst. Ist es dir egal, ob David etwas passiert?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich kann einen Mord nicht einfach auf sich beruhen lassen.«
Eine Weile schwiegen sie; dann schienen sich die Wogen geglättet zu haben. Jasper wechselte das Thema. »Interessierst du dich für unsere Geschichte, Lütte? Wenn du schon mal hier gestrandet bist …«
Minke machte sich nichts aus Geschichte, aber Jasper hatte es im Moment schon schwer genug. »Klar«, sagte sie also.
Auf dem Gesicht des alten Deichgrafen bildete sich ein glückliches Lächeln. »Dann komm mal mit, ich zeige dir das Allerheiligste.«
Minke, mit einer Wolldecke um die Schultern und der Tasse Grog in der Hand, folgte Jasper, als er mit für sein Alter beeindruckend elastischen Schritten voranging. Er führte sie die Treppe nach oben und den Flur mit mehreren Türen entlang, »Hier war übrigens Davids Kinderzimmer«, bis sie in einen großen Raum kamen. Es war, wie sie überrascht feststellte, das Zimmer mit dem Bullaugenfenster, das sie von außen schon im Giebel bemerkt hatte. Der Zyklop mit Ponyfrisur, erinnerte sie sich. Der Raum wirkte wie aus einem Historienfilm entsprungen: alte, schwere Holzmöbel mit gedrechselten Beinen, ein Globus auf einem Holzgestell, Lampen mit goldenen Ziehschaltern und an den Wänden alte Landkarten. Nirgends gab es etwas Technisches, keinen Computer, keinen Drucker – das Fortschrittlichste war der schwere Metalllocher auf dem Schreibtisch.
»Das Reich der Deichgrafen Holt.« Jasper machte eine ausholende Geste. Er zeigte auf eine der Landkarten, die an der Wand hingen. »Das hier ist eine ganz seltene Landkarte. Jüstering in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Man kann sehen, wie sich die Stadt seitdem verändert hat.«
Minke nickte; es war nicht zu übersehen. Damals musste Jüstering beinahe ein Dorf gewesen sein.
»Die Stadt hat damals nur aus alten Backsteinhäusern und kleinen Fischerhütten bestanden«, sagte Jasper. »Stell dir vor, wie schön das aussah.« Er fuhr mit dem Finger an der grün gedruckten Küste auf der Landkarte entlang. »Das hier ist der alte Leuchtturm, und das der ehemalige Deich – alles Holtland, wenn du so willst. Ich habe dann den großen Winterdeich dazu gebaut. Mein Lebenswerk, verstehst du?« Er ging hinüber zu seinem Schreibtisch und setzte sich auf den Sessel dahinter; ein dick gepolstertes, lederbezogenes Ungetüm. »Weißt du, wie man einen Deich baut?«
»Nein.« Minke stieg langsam der Grog in den Kopf, und sie hatte nicht mehr viel dagegen, sich einen Vortrag über Deichbau anzuhören. Jasper war in seinem Element. Er begann eine ausschweifende Erklärung, die mit einem Sandkern begann, aus dem ein Deich geformt wurde. »Dann macht man den Kleiboden drauf, dann das Reet. Man bestickt damit den Deich.«
»Aha.«
»Man benutzt dazu eine Deichnadel.« Jasper klappte ein perlmuttbesetztes Holzkästchen auf, das auf dem Schreibtisch stand, und nahm einen Gegenstand heraus, den Minke noch nie gesehen hatte. Eine Seite war aus Holz, die andere lief spitz metallisch zu. »Siehst du, hier im Knauf ist das Wappen der Holts eingeschnitzt. Die ist etwas Besonderes.« Er legte ihr die Deichnadel in die Hand.
»Und?«
»Ähm … schön.« Sie gab sie ihm wieder zurück. »Und was macht man, wenn der Deich bestickt ist?«
»Dann kommen die Grassoden darauf, und die wachsen an dem Reet und dem Kleiboden fest. Das macht man so seit Jahrhunderten.«
»Hm.« Minkes Blick fiel auf das Foto auf dem Schreibtisch. Schon wieder Christine – sie schien sie zu verfolgen in den letzten Tagen. Beim ersten Mal hatte sie es auf sich beruhen lassen, als Jasper nicht darüber hatte reden wollen, aber jetzt hatte sie Grog getrunken. »Ihre Frau sieht so fröhlich aus«, sagte sie.
»Das war sie.«
»Und warum hat sie sich dann das Leben genommen?«
Jasper stand abrupt auf und stellte sich an das runde Fenster. »Sie wurde depressiv«, sagte er knapp. Es war offensichtlich, dass er wieder abblockte. »Die Flut ist da, und der Nebel wird lichter. Komm, Lütte. Ich werde dich und deine Robbe jetzt hinüber nach Jüstering fahren. Hast du deinen Grog ausgetrunken?«
»Ja.« Minke stellte die Tasse neben das Deichnadelkästchen.
Nachdem Minke die kleine Robbe in der Station an Diana übergeben hatte, rief sie in der Polizeiwache an. Klaus nahm erst nach langem Klingeln ab.
»Ich wollte nur fragen, ob noch irgendjemand angerufen hat – irgendjemand Vernünftiges, meine ich.«
»Mäuschen, du machst dir ja keine Vorstellung, wie das hier noch weiterging«, fuhr Klaus sie an. »Wir sind hier am Aufbauen« – im Hintergrund hörte Minke ein paar Männerstimmen und Geräusche von Werkzeugen – »und ständig hat wieder so ein Verrückter angerufen. Einer hat gesagt, er selbst wäre David, und hat dabei irre gekichert.«
»Oh Gott.«
»Ja, allerdings. Du schuldest mir was dafür, dass ich hiergeblieben bin und meine Pension nicht einfach heute angefangen habe.«
»Morgen ist dein großer Tag.«
»Allerdings. Und deshalb muss ich jetzt auch weitermachen. Wir bauen gerade eine Verlängerung an deinen Schreibtisch, damit die Nudelsalate alle draufpassen.«
Sie wollte auflegen, als er sie noch zurückhielt.
»Ach ja, was ich dir noch sagen wollte: Mir ist wieder eingefallen, wo ich diese Esther schon mal gesehen habe. Das ist Ewigkeiten her, irgendwann in den Achtzigern, denn ich hatte gerade angefangen, mir meinen ›Magnum‹-Schnäuzer wachsen zu lassen.« Minke sparte sich einen Kommentar. »Da kamen an einem Abend zwei Frauen auf die Wache; ich war allein dort.«
»Und was wollten sie?«
»Eine Anzeige erstatten, die eine von beiden hatte ordentlich was abbekommen, blaue Flecke überall und eine aufgeplatzte Lippe. Aber kurz vor knapp haben sie es sich dann wieder anders überlegt und sind ohne Anzeige gegangen.«
»Und Esther hat die misshandelte Frau begleitet?«
Eine Pause entstand, der man anhören konnte, wie begriffsstutzig Klaus Minke fand. »Nein«, sagte er ungeduldig. »Mäuschen, die misshandelte Frau war Esther.«
Minke fuhr nach Hause. Der Tag steckte ihr in den Knochen. Imma hatte noch Patienten, das Haus war leer. Minke nahm ein Buch aus dem Regal im Wohnzimmer, das sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr in der Hand gehabt hatte: »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm. Vielleicht musste sie es ja doch noch einmal ganz lesen, um dahinterzukommen, was die Buchseite auf dem Erpresserbrief zu bedeuten hatte. Zum ersten Mal seit ihrer Schulzeit saß sie auf Immas Sofa und las wieder die alte Geschichte vom Deichgrafen Hauke Haien, der sich von ganz unten nach ganz oben arbeitete, eine Tochter aus gutem Hause heiratete, mit modernem Deichbau die abergläubischen Nordfriesen in das moderne Zeitalter führen wollte und dennoch am Ende dabei zusehen musste, wie seine Familie, sein Deich und er selbst untergingen. Besonders achtete sie auf die Stelle, die unter den Erpressungszeilen klebte: die, in der es um das blanke Pferdegerippe im Watt ging, von dem die Einheimischen glaubten, es würde sich nachts wieder zu einem lebendigen Pferd zusammensetzen, einem teuflischen Schimmel, der – mit Hauke Haien auf dem Rücken – nachts am Deich entlanggaloppierte. Nur um dann morgens wieder zu einem weißen Gerippe zu werden. Schließlich klappte Minke das Buch zu. Sie hatte die ganze Geschichte gelesen, sie hatte auf alles geachtet, aber sie war der Lösung immer noch kein Stück nähergekommen. War die Stelle eine Botschaft an Jasper – ein Deichgraf im Buch, ein Deichgraf im echten Leben? Immerhin war der Brief an ihn gegangen, nicht an Minke.
Schließlich ging sie hinauf in den oberen Stock in ihr Kinderzimmer mit den vielen Umzugskartons und wollte einfach nur noch ins Bett – ein paar Stunden kein Grübeln, keine Gespräche, keine Sorge wegen David, den sie seit immerhin sechzig Stunden nicht finden konnte oder wenigstens herausbekam, wer ihn entführt hatte. Als sie auf ihr Bett zuging, blinzelte ihr Victor entgegen, der sich dort zusammengerollt hatte, neben ihm etwas, das Imma anscheinend dorthin gelegt hatte. »Zeig mal«, murmelte Minke und strich dem Kater über den Kopf. »Was bewachst du denn da?«
Sie griff nach dem Heft, das dort lag. »Gesprächsprotokolle L. J.« stand darauf, dazu klebte ein Zettel auf dem Umschlag. »Ich denke, das solltest du einfach wissen. Mama«. Minke klappte das Heft auf und begann zu lesen.
Der Sturm, der am nächsten Tag kommen sollte, schickte seine Vorboten schon am Abend bis an die Küste. David lag in der Dunkelheit und hörte, wie der Wind um die Mauern strich. Er konnte langsam verstehen, warum frühere Generationen geglaubt hatten, dass in solchen windigen Nächten die Wilde Jagd über die Küste und das Watt preschte. Tatsächlich war es schwer vorstellbar, dass diese bedrohlichen Geräusche – das Rütteln, Sausen und Sirren – tatsächlich nur von so etwas Gestaltlosem wie Wind ausgelöst wurden. Er nahm die Taschenlampe, schaltete sie an und leuchtete nach oben an die Decke, wo das Licht einen Kreis bildete. Den halben Tag, nachdem sein Besucher wieder gegangen war, hatte er damit verbracht, die Steinwände abzutasten nach irgendeiner Stelle, die er bisher übersehen hatte und die es ihm vielleicht ermöglichen würde, hier herauszukommen. Es gab keine. Es gab nur ihn und diese verdammte Entscheidung. »Morgen Abend komme ich wieder«, hatte sein Besucher vor ein paar Stunden gesagt. Er hatte ihm genug Essen und Tee gebracht, das jetzt auf dem improvisierten Tisch stand. »Und ich hoffe, dann bist du zur Vernunft gekommen.«
David malte mit der Lampe Muster an die Decke. Vernunft, dachte er, an alldem hier ist gar nichts vernünftig.
Esther saß auf ihrem Sofa im perfekt aufgeräumten und klinisch reinen Wohnzimmer ihres Hauses. Sie war allein in der Wohnung, oben hörte sie Linda, Emily und Felix ab und an rumoren. Linda – sie dachte daran, wie gut ihre Tochter die letzten Tage weggesteckt hatte. Sie ist robuster, als ich immer dachte, erkannte sie. Viel robuster und selbstbewusster als ich. Sie tut, was sie will – sie ist frei. Und ich freue mich für sie.
Esther überlegte sich, was sie tun würde, wenn sie frei wäre. Frei von alldem, was Ruth heute, zwischen den Grabsteinen, gemeint hatte. Ich würde Pralinen essen, dachte sie. Seit so vielen Jahren hatte sie keine einzige angerührt – Fett und Zucker. Sie musste auf ihre Linie achten, eine der wichtigsten Regeln. Sie musste vorzeigbar bleiben.
Plötzlich fiel Esther ein, dass sie sogar Pralinen im Haus hatte. Ruth hatte ihr vor einiger Zeit eine Schachtel geschenkt, wahrscheinlich wieder einmal ein Versuch, Esther aus ihrer Routine zu locken. Bisher hatte es nicht geklappt, aber jetzt, wo Esther an diesem windigen Abend allein auf ihrem Sofa saß, fiel ihr immer wieder diese Pralinenschachtel ein. Sie ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, bis sie irgendwann aufstand und mit beinahe vorsichtigen Schritten zum Schrank ging, in dem sie Süßigkeiten aufbewahrte – für Gäste und für Emily, nicht für sich.
Sie drehte den Schlüssel und öffnete die Schranktür. Da lag die Packung Pralinen. Das geht nicht, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. »Du weißt, du musst schlank sein.« Aber zum ersten Mal, seit sie denken konnte, gab es noch eine andere Stimme in ihr. »Du weißt, dass du Lust darauf hast. Gönn dir doch einmal etwas.«
Esther streckte zaghaft ihre Hand aus. Sie nahm die Schachtel und trug sie zum Sofa zurück, wo sie sie auf den polierten Couchtisch legte, als sei es eine Bombe. Nachdem sie sie eine Weile angesehen hatte, riss sie die Folie ab, die um die Schachtel gespannt war, und hob den Deckel. »Ansehen macht nichts aus«, dachte sie. Der Duft, der aus der Schachtel strömte, war unglaublich schokoladig. Esther setzte sich auf die Couch. Sie sah die Pralinen an, rund und verführerisch lagen sie da. Sie vernahm wieder die strenge Stimme in sich, die sie so lange begleitet hatte, den Großteil ihres Lebens. Aber obwohl die Stimme da war, streckte Esther an diesem Abend irgendwann die Hand aus und nahm sich eine Praline. Als sie sie in den Mund steckte, schloss sie die Augen. Der Genuss war noch viel größer, als sie erwartet hatte. Und das hatte sie sich all die Jahre versagt? Sie nahm noch eine. Und noch eine. Für Esther war das ein großer Schritt. Mit jeder Praline fühlte sie mehr, wie sich die uralten unsichtbaren Fesseln, die sie trug, ein bisschen lockerten.
Er fühlte sich heute irgendwie schwach, ausgelaugt. Weder die vielen Aufträge und damit der gute Lohn konnten ihn aufheitern noch die zwei Matjesbrötchen, die er nach Feierabend in sich hineinstopfte. Er hatte in der Mittagspause seine Schwester besucht. Er machte sich Sorgen – um sie, um seine Mutter, um den Vater. Je älter sie wurden, desto weniger kamen sie mit der ganzen Situation zurecht. Sie gingen ganz langsam an dem allen kaputt, jedes Jahr ein bisschen mehr und das schon so lange. Was, wenn sie nicht mehr konnten? Er war jeden Tag von morgens bis abends unterwegs. Natürlich konnte er etwas kürzertreten, aber die Firma völlig aufgeben? Nein, das ging auch nicht. Man musste eine Lösung finden. Er war gut darin, Lösungen zu finden. Aber erst einmal war morgen die Beerdigung. Er hatte auf dem Heimweg einen Strauß gekauft, für Esther. Außerdem eine neue schwarze Krawatte.
Er stieg aus dem Kleintransporter und schlug die Wagentür hinter sich zu. An der Tür stand »Jüsteringer Elektro-Service – und Ihnen geht ein Licht auf«.