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»Also, das hier ist der Radar und das Automatische Identifikationssystem, damit werden Navigations- und Schiffsdaten übermittelt. Die Funkgeräte sind natürlich zur Verständigung mit den Schiffen und der Küstenwache. Und am wichtigsten ist das hier.«

Marina hatte sich gefreut, als Tiff sie gebeten hatte, ihr die Wachstation zu zeigen. Sie führte ihrer Cousine nun das starke, festmontierte Fernglas vor, das sie neben den tragbaren benutzten. Anschließend erklärte sie Tiff, wie man Einträge im Logbuch machte und Notfälle meldete.

Tiff hörte aufmerksam zu und stellte immer wieder Zwischenfragen. »Kann ich mal durch das große Fernglas schauen?«

»Na klar.« Marina half ihr beim Einstellen der Schärfe. »Kannst du schon was sehen?«

»Ob ich was sehen kann? Mit dem Ding kriegt man ja quasi Nahaufnahmen von den hübschen Surfern da hinten. Besser als mit dem stärksten Zoom!«

Marina verdrehte die Augen. »Hey, komm bloß nicht auf dumme Ideen.«

Tiff richtete sich grinsend auf. »Nee, nee, keine Sorge.« Dann fügte sie ernsthafter hinzu: »Mann, was für eine Verantwortung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damit umgehen könnte. Wenn man einen Fehler macht, tötet man einen Menschen.«

»Unwahrscheinlich. Es sei denn, du ignorierst einen Notruf oder übersiehst etwas anderes Wichtiges. Windsurfer, die in Not sind, oder jemanden, der auf einer Luftmatratze aufs offene Meer hinaustreibt.«

»Man hat trotzdem viel Verantwortung.«

»Ja, sicher«, sagte Marina. »Aber man gewöhnt sich daran, auf alles zu achten. Es ist erstaunlich, wie schnell man lernt, genau hinzuschauen. Und vergiss nicht: Jahrelang gab es hier gar keine Küstenwacht mehr. Deshalb ist alles eine Verbesserung.«

Tiff warf ihrer Cousine einen mitfühlenden Blick zu. »Es ist so toll, dass du die Station ins Leben gerufen hast. Und es tut mir sehr leid, dass ich nicht schon längst mal hier war. Ich kann gut verstehen, dass du dieses Projekt zum Gedenken an Nate verwirklichen wolltest.«

»Es geht aber nicht nur um Nate. Wenn wir auch nur ein einziges Menschenleben retten können, ist das jede Minute wert, die ich irgendwo um Geld gebettelt oder bei Wind und Wetter hier abgesessen habe.« Marina verstummte, sichtlich aufgewühlt.

Tiff lächelte nachdenklich. »Ich wusste, dass dir die Station viel bedeutet – aber wie viel, das verstehe ich erst jetzt so richtig. Ich glaube, so leidenschaftlich habe ich dich noch nie erlebt. Du hast dich verändert, weißt du?«, fügte sie hinzu.

»Was meinst du damit?«

»Ich weiß nicht, das sollte ich vielleicht nicht sagen …«

Marina lachte. »Na, komm schon. Du nimmst doch sonst auch kein Blatt vor den Mund.«

»Also, ich weiß, wie sehr du Nate geliebt hast und wie schlimm sein Verschwinden für dich war. Aber jetzt erlebe ich eine ganz neue Marina. Verzeih mir, wenn ich das so sage, aber es kommt mir vor, als seist du endlich aus Nates Schatten getreten.«

Marina starrte ihre Cousine verblüfft an.

»Du bist jetzt hoffentlich nicht gekränkt, oder?«, fragte Tiff.

»Nein, nein … denkst du das wirklich?«

»Ja. Der Verlust war ein schrecklicher Schicksalsschlag für dich, aber du bist trotz dieser Tragödie aus der Asche auferstanden. Du bist aufgeblüht und hast dich zu einer starken, tatkräftigen Frau entwickelt, die genau weiß, was sie will. Und dabei bist du meine liebe und einfühlsame Cousine geblieben.«

»Nun ist es aber gut, Tiff. Ich bin doch keine Mutter Teresa.« Marina kamen fast die Tränen.

»Keine Sorge, ich weiß, dass du keine Heilige bist.« Tiff lachte. »Aber ich finde ja, dass diese neue Marina … und du kannst mir gerne sagen, dass mich das gar nichts angeht …«

»Was garantiert nichts ändern würde«, erwiderte Marina trocken.

»Stimmt. Jedenfalls, was ich sagen will: Solltest du nicht allmählich auch mal wieder an dich denken?«

»Du meinst, ich soll mich wieder mit Männern treffen?«

»Es muss ja nicht gleich eine feste Beziehung sein. Aber du könntest einfach mal wieder Spaß haben – und vielleicht ein bisschen guten Sex.«

Marina schaute ihre Cousine erschrocken an. »Aber mit wem denn? Ich kenne fast jeden Mann in Porthmellow, und von denen kommt keiner infrage.«

»Gibt’s hier keinen einzigen Mann, der irgendwas in dir anspricht? Was ist denn mit den Wave Watchers?«

Marina schnaubte. »Die Männer sind entweder Rentner, Jugendliche oder schwul. Ich hab die alle sehr gern, aber als Partner kann ich sie mir nicht vorstellen.«

»Bist du nicht auch mal außerhalb von Porthmellow unterwegs? Und was ist mit Tinder oder anderen Datingapps?«

»Freunde von mir haben ein paarmal versucht, mich zu verkuppeln. Und einmal hab ich einen Versuch mit einer Datingapp gestartet, aber beim ersten Treffen hat sich rausgestellt, dass der Mann ein Hochseefischer mit Mundgeruch und einem Doppelleben als Druide war. Danach hab ich das aufgegeben.«

»Ein Druide mit Mundgeruch?« Tiff bekam einen Lachanfall. Als sie sich beruhigt hatte, sagte sie eindringlich: »Wenn du dich Nate zuliebe zurückhältst … findest du nicht, dass du sein Andenken ausreichend wahrst? Du hast es verdient, glücklich zu sein. Also, endlich mal wieder«, fügte Tiff hastig dazu, damit ihre Cousine nicht nachträglich ihr Eheglück angezweifelt sah.

Marina dachte an ihren Schwur von damals zurück. Ich werde dich für immer und ewig lieben …

Aber das hieß nicht, dass man sich nie wieder nach Liebe sehnen durfte, oder?

»Ich muss zugeben«, sagte sie schließlich, »dass es sich anfühlt, als würde ich Nate verraten, wenn ich an eine neue Beziehung denke. Aber wenn ich jemand Besonderen kennenlernen würde, dann würde ich ihm wohl schon eine Chance geben.«

»Wirklich?«

»Ja. Aber so jemandem bin ich eben noch nicht begegnet.« Was Tiff angesprochen hatte, stimmte Marina nachdenklich. Mit immenser Willenskraft hatte sie die Trauerzeit durchgestanden und ihr Projekt, die Wachstation, verwirklicht. Aber so wie Tiff hatte sie ihr Leben nach Nate noch nie betrachtet.

Jemand hatte ihr mal gesagt, in jeder Beziehung gäbe es Sonnen- und Schattenanteile. Nate war ein sonniges Gemüt gewesen, lebhaft und beliebt – zumindest bei den Menschen, denen er kein Geld schuldete. Charmant und witzig, stand er im Mittelpunkt jeder Party. Marina hatte sich als seinen Anker betrachtet und war zufrieden gewesen, sich im Hintergrund zu halten.

Schon seltsam, dass sie nun ausgerechnet durch diesen Verlust, der sie anfänglich fast zerstört hatte, aus dem Schatten ins Licht getreten war – ein schmerzhafter und mühsamer Prozess, den sie ohne das Wave-Watchers-Projekt vielleicht gar nicht hätte bewältigen können. Es hatte Nates Platz eingenommen, war Mittelpunkt ihres Lebens geworden.

Aber reichte das aus?

Marina konzentrierte sich wieder darauf, Tiff die Abläufe in der Station zu erklären. Das war einfacher, als sich mit komplizierten Fragen und Gefühlen herumzuschlagen.

»Jetzt sehe ich gerade Taucher bei der Insel«, sagte Marina. »Wenn sie abtauchen, sollten wir die Stelle im Auge behalten, bis sie wieder an die Oberfläche kommen. Schau doch mal, ob du sie durchs Fernglas erkennen kannst.«

»Warte … ich muss mich erst an dieses Ding gewöhnen …«

Marina lächelte in sich hinein, während Tiff versuchte, die Taucher zu orten. Bestimmt hatte sie nicht damit gerechnet, in der Wachstation tatsächlich etwas tun zu müssen, aber Marina hatte da so ihre Pläne. Wenn ihre Cousine tatsächlich mehrere Monate bleiben und sich nützlich machen wollte, war die Wachstation ideal dafür geeignet. Hier konnte Tiff neue Leute kennenlernen und würde abgelenkt werden von allem, was sie in letzter Zeit hatte durchmachen müssen.

Tiff war Expertin darin, die Fassade aufrecht zu halten, aber Marina spürte, dass sich dahinter ein tiefer Schmerz verbarg. Sie vermutete, dass ihre Cousine längst nicht alle Gründe für ihre Flucht nach Porthmellow offenbart hatte.

»Hast du sie?«, fragte Marina. »Ich glaube, die Richtung stimmt nicht …«

»Ja, ganz ehrlich, die Taucher finde ich nicht. Aber ich hab was anderes entdeckt, das vielleicht auch wichtig ist.«

»Was denn?«

»Guck lieber selbst.« Tiff richtete sich auf. »Etwa hundert Meter vom Ufer entfernt, auf halbem Wege zum Boot, das zu den Tauchern gehören müsste.«

Marina spähte durch das Glas und ließ ihren Blick über die Wellen schweifen. Ein paar Sekunden später entdeckte sie einen Schwimmer, der keinen Neoprenanzug trug, nur rote Badeshorts.

»Meinst du den Mann da?«, fragte sie und beobachtete, wie er mit sicheren, kraftvollen Bewegungen aufs offene Meer hinausschwamm. Seine Füße hinterließen eine kleine Gischtspur, als er durch die Wellen pflügte.

»Ja. Wo will der hin?«, fragte Tiff.

»Hm. Keine Ahnung. Manchmal versuchen Leute, in die nächste Bucht zu schwimmen, um Seehunde zu beobachten. Was auch gefährlich ist. Aber er hier steuert ja Richtung Horizont.«

»Meinst du, der hat irgendwas Dummes vor? Das Wasser muss doch eiskalt sein.«

»Acht Grad. Ist mir ein Rätsel, was der vorhat. Vielleicht trainiert er für einen Triathlon …«

»Oder es ist ein Wassermann?«, sinnierte Tiff.

»Jedenfalls ist das ungewöhnlich, so viel steht fest«, bestätigte Marina. Der Schwimmer entfernte sich zielstrebig immer weiter vom Ufer.

»Soll ich das im Logbuch vermerken?«, fragte Tiff. »Das krieg ich hin.«

»Ja, bitte. Den sollten wir auf jeden Fall im Auge behalten.«

»Hoffentlich kehrt er bald um.«

»Tja, das wäre wünschenswert.« Der Mann war jetzt auf Höhe des Boots, schwamm aber etwa hundert Meter weiter westlich, hatte also eindeutig nichts mit den Tauchern zu tun.

Marina beobachtete ihn durch das Fernglas. Er schien keine Probleme zu haben, war aber alleine. Sie überlegte gerade, ob sie die Küstenwache informieren sollte, als sie den Schwimmer eine Sekunde lang aus den Augen verlor. Ihr blieb fast das Herz stehen vor Schreck, aber zum Glück sah sie ihn im nächsten Moment wieder. Und jetzt schwamm er entschlossen Richtung Bucht zurück.

Erleichtert richtete sie sich auf.

»Müssen wir jemanden informieren?«, erkundigte sich Tiff.

»Nein, er kommt zurück.« Marina zögerte. »Aber ich werd trotzdem mal runtergehen und ein Wörtchen mit ihm reden.«

Tiff zog eine Augenbraue hoch. »Gehört das auch zur Arbeit?«

»Nicht direkt, aber manchmal warne ich die Leute. Ich will denen nicht den Spaß verderben, trotzdem …«

»Ja, Sicherheit geht vor.« Tiff sah plötzlich erschrocken aus. »Hey, dann bin ich ja ganz alleine hier!«

»Nur für ein paar Minuten. Du kannst mich über Funk erreichen. Ich beeil mich.«

Als Marina am Strand ankam, watete der Schwimmer gerade aus dem Wasser, und Marina sah, dass er enorm breitschultrig und muskulös war. Er wirkte eher wie ein Rugby-Spieler als wie ein Schwimmer, und sie spürte, dass ihr Herz unwillkürlich schneller schlug.

Der Mann hatte sie bereits bemerkt, und sie ging auf ihn zu. Als sie näher kam, bemerkte sie erschrocken, dass seine Schultern, sein Hals und eine Gesichtshälfte mit wulstigen roten Narben übersät waren. Marina hätte sich fast abgewendet, damit der Mann sich nicht begafft vorkam.

»Hallo«, sagte sie betont freundlich, um nicht gleich maßregelnd zu wirken.

»Hi.« Er wirkte etwas verwundert. »Alles in Ordnung?«

»Ja. Ich bin von der Wachstation auf der Klippe.«

Er musterte kurz ihre Uniform und blickte zum Haus hinauf. Dann sah er sie wieder an. Sein Blick war ruhig und klar. Nussbraune Augen, hellbraune lockige Haare. Ein attraktives Männergesicht, von den Narben abgesehen eher unauffällig. Der Akzent war eindeutig schottisch.

»Verstehe«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln. Irgendetwas schien ihn zu amüsieren. »Kann ich irgendwie behilflich sein?«

Er schien zu glauben, dass sie Hilfe brauchte, was Marina einigermaßen verblüffend fand. Es machte ganz den Eindruck, dass dieser Mann es gewohnt war, das Sagen zu haben.

»Nein, alles bestens. Ich bin nur hergekommen, um Ihnen zu sagen, dass vom Schwimmen in dieser Bucht abzuraten ist. An den Felsen gibt es gefährliche Strömungen und an beiden Seiten des Strands Brandungsrückstrom. Sie waren nur ein paar Meter davon entfernt.«

Er hörte aufmerksam zu, erwiderte aber nichts, was Marina ziemlich aus dem Tritt brachte. Rasch redete sie weiter. »Der offizielle Badestrand von Porthmellow ist zum Schwimmen wesentlich besser geeignet. Am Wochenende sind dort auch Rettungsteams vor Ort.«

Wieder blieb der Mann stumm, aber diesmal ließ Marina sich nicht verunsichern und stand das Schweigen durch.

Schließlich sagte er: »Ich meide Menschenmengen. Aber danke für den Hinweis.«

»Keine Ursache.« Marina beschloss, den Mann in Ruhe zu lassen. Sie hatte getan, was sie konnte, fügte aber noch hinzu: »Wenn Sie länger hier sind und ungestört schwimmen wollen – es gibt in der Nähe einige stille Buchten ohne gefährliche Strömungen. Sie können sich bei der Rettungsstation am Strand danach erkundigen. Oder auch in der Wachstation oben nachfragen, wenn Sie mehr wissen wollen.«

»Danke, das werde ich tun. Sehr freundlich von Ihnen.« Der Tonfall war unverändert höflich, aber der Mann wollte das Gespräch eindeutig beenden.

»Dafür sind wir da. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Mehr konnte sie nicht tun. Der Mann nickte ihr knapp zu, wandte sich ab und ging schnellen Schrittes, aber nicht hastig, den Weg hinauf, der an der Wachstation vorbeiführte. Marina wartete ab, bis er an Vorsprung gewonnen hatte, und folgte ihm dann. Dabei sah sie vor ihrem inneren Auge die Narben, die von Brandwunden zu stammen schienen. Armer Kerl, dachte sie, rief sich aber sofort zur Ordnung. Das war ganz sicher kein Mann, der auf Mitleid Wert legte. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie ihn damit aus ihren Gedanken vertreiben.

Schließlich bog sie von dem steilen Weg zu der in die Felsen geschlagenen Treppe ab, die zur Wachstation führte und mit einem »Privat«-Schild gekennzeichnet war.

Tiff wartete schon an der Tür. »Wow, ich hab alles durchs Fernglas beobachtet. Doch ein Wassermann! Irre ich mich, oder hat den die Strafpredigt kalt gelassen?«

Marina grinste. »Also zum einen hatte er keine Flossen, und zum andern habe ich ihm keine Strafpredigt gehalten. Er war höflich, aber stimmt schon, auf eine Unterhaltung schien er keine Lust zu haben.«

»Die Narben in seinem Gesicht sehen ja schlimm aus. Kann einem leidtun, der Mann.«

»Ja, die bringen einen erst mal aus dem Tritt. Wer weiß, wie es dazu kam.«

»Hmm, also auf mich wirkt er, als sei er beim Militär gewesen. Extrem durchtrainiert, perfekte Haltung, der kurze Haarschnitt.«

»Du hast ihn dir wohl ganz genau angeschaut?«, fragte Marina amüsiert.

»Dafür sind wir hier doch da, oder?«, erwiderte Tiff mit Unschuldsmiene.

Marina lächelte. Der Mann hatte sie irgendwie fasziniert. Beim Gedanken an die Narben wurde sie wieder ernst. »Was ihm auch zugestoßen ist – es muss furchtbar gewesen sein. Er sagte, dass er Menschenmengen meidet, und das kann ich auch verstehen. Die Leute gaffen ihn wahrscheinlich ständig an.«

»Ist er von hier?«

»Ich glaube nicht … in Porthmellow hab ich ihn noch nie gesehen, und er hat einen schottischen Akzent. Aber er hatte keinerlei Sachen dabei, nicht mal ein Handtuch. Ist einfach barfuß den Weg hochgegangen. Entweder er wohnt in der Nähe, oder er hatte sein Auto oben geparkt.«

»Hm, das wird ja immer rätselhafter«, sagte Tiff. »Ganz ehrlich, hier gibt es echt spannende Leute. Viel mehr, als ich vermutet hätte.«

Marina bemerkte ein gefährliches Funkeln in Tiffs Augen und sagte warnend: »Vergiss deine guten Vorsätze nicht.«

»Keine Sorge, der Heiligenschein sitzt fest«, erwiderte Tiff. »Außerdem hab ich morgen ein Interview bei einem Hersteller von Gewächshäusern, das bringt mich garantiert wieder auf den Boden der Tatsachen.«

Marina lachte. »Apropos Arbeit: Wir planen eine Versteigerung an dem Spendenaktionstag, und es wäre toll, wenn du noch ein paar interessante Sachen dafür auftreiben könntest. Wir haben noch nicht viel. Das Beste ist bislang ein Gutschein für Gabes Restaurant, der Rest ist nicht sehr attraktiv. Vielleicht könntest du bei deiner Arbeit für die Zeitschrift ein wenig die Werbetrommel rühren?«

»Was schwebt dir denn vor?«

»Ach, wir können alles Mögliche gebrauchen. Gutscheine für den Friseur oder ein Pub oder Café. Der Hofladen spendet einen Truthahn für Weihnachten, auch wenn das noch ein Weilchen hin ist … und Bryony Cronk bietet einen Hundehaarschnitt an. Könnte aber sein, dass die Leute da eher zurückhaltend sind … Bryony kann ziemlich rabiat sein mit der Schere, hab ich gehört, und sie hat etwas … ähm … sonderbare Ansichten. Ich frag mich ernsthaft, ob darauf jemand bieten wird …«

Tiff war rot angelaufen vor unterdrücktem Lachen, und Marina rief gespielt empört: »Was denn? So witzig ist das doch gar nicht!« Sie verzog das Gesicht, musste jetzt aber selbst kichern.

»Die Auktion wird jedenfalls nicht besonders lustig, wenn wir nur Zeug anbieten, für das niemand Geld ausgeben will …«, sagte sie schließlich.

Tiff explodierte jetzt endgültig und schüttete sich aus vor Lachen. »E-entschuldige …« Sie rang um Atem. »Es ist n-nur so rasend komisch … ein Truthahn-Gutschein im Mai … und ein g-grausiger Haarschnitt für eine bedauernswerte Töle, von einer Person namens Bryony … Wie ich Porthmellow liebe! Fantastische Vorstellung, hier zu leben!«

»Ja, aber du würdest doch bald durchdrehen, wenn du für immer hier leben müsstest, oder nicht?«, wandte Marina ein.

Tiff wischte sich die Augen. »Nee, ernsthaft, vieles hier finde ich echt hinreißend. Aber auf Dauer wäre es wahrscheinlich wirklich nichts für mich. Obwohl … einige Aspekte des Landlebens finde ich schon sehr verlockend …«

Marina kapierte sofort. »Einen gewissen Dirk Meadows vielleicht?«

»Hey, hab ich irgendwas von dem gesagt?«

»War nicht nötig.« Marina schmunzelte. »Aber ich bin sicher, dass er sehr dankbar sein wird, wenn du uns bei der Spendenaktion hilfst.«

»Meinst du?« Tiff strahlte. »Okay, mach dir keine Gedanken, ich werd richtig schöne Sachen für die Auktion besorgen. Überlass das ruhig mir.«

Der Rest der Schicht verlief ohne weitere Vorfälle. Marina erklärte Tiff die Bedienung des Radargeräts, und sie behielten einige Jugendliche im Auge, die auf einem gesperrten Teil des Küstenwegs herumstrolchten. Ansonsten gab es nur die Flugkünste der Wanderfalken an den Klippen und die Stippvisite einer Seehundfamilie zu beobachten.

»Oh süß, die sehen ja aus wie nasse Labradore!«, rief Tiff kichernd aus, während sie die Robben beobachtete, die am Porthmellow Point immer wieder aus dem Wasser spähten.

Marina lächelte. Die Seehunde kamen fast täglich in die Bucht, aber sie fand Tiffs kindliche Begeisterung rührend, vor allem weil ihre Cousine ihr ansonsten so verhärtet und frustriert vorkam. Hoffentlich würde Tiff sich irgendwann weiter öffnen und mehr über sich erzählen.

Vorerst freute sich Marina auf das Zusammenleben mit ihr und war dankbar für den Beitrag zu den Haushaltskosten. Aber irgendwann würde Tiff sich überlegen müssen, wie es für sie weitergehen sollte. Und das galt auch für Marina.

Sie blickte übers Meer zum Horizont. Im Laufe der Jahre war es ihr gelungen zu akzeptieren, dass Nate tot war. Sie hatte den Trauerprozess so weit durchlaufen, wie das möglich war, wenn man jemanden nicht bestatten konnte. Es hatte eine Trauerfeier für Nate gegeben, bei der die Gäste Blumen ins Meer gestreut hatten.

In diesem Sommer jährte sich nun der Tag von Nates Verschwinden zum siebten Mal, und Marina würde die rechtlichen Schritte einleiten können, um ihn offiziell für tot erklären zu lassen. Die Vorstellung dieser Endgültigkeit machte ihr aber immer noch zu schaffen.

»Marina?«

Sie drehte sich um. Tiff hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. »Du warst meilenweit entfernt.«

»Ach ja?«

»Oder vielleicht doch nicht so weit?« Tiff schien Marinas Gedanken erraten zu haben und wies mit dem Kopf in Richtung Bucht.

»Ja, stimmt.« Marina warf ihrer Cousine ein Lächeln zu. »Aber weißt du … Wenn ich bald einen rechtlichen Schlussstrich unter das alles ziehen kann, wird das ein wichtiger Schritt sein. Natürlich werde ich Nate immer lieben, auch wenn er mir so ein Chaos hinterlassen hat …«

Marina merkte, dass sie unwillkürlich mit ihrem Ehering gespielt hatte. Sie war schmaler geworden in den letzten Jahren, weil sie mehrere Jobs angenommen hatte und die Sorgen an ihr gezehrt hatten. Irgendwann hatte sie sogar ihren Verlobungsring und eine heiß geliebte Kette verkaufen müssen, die Nate ihr geschenkt hatte. Ihre finanzielle Lage war schlecht gewesen, und Marina wäre damals beinahe mit den Raten für die Hypothek in Rückstand geraten. Aber sie hatte um keinen Preis noch einmal Geld von der Familie leihen wollen.

Immer wieder hatte sie auch darüber nachgedacht, wie es ihr ergangen wäre, wenn Nate und sie Kinder gehabt hätten. Finanziell hätte sie sicher noch mehr zu kämpfen gehabt, aber dafür hätte ein Teil von Nate weitergelebt und Marina hätte einen anderen Lebensinhalt gehabt. Doch dafür hatte sie jetzt die Wave Watchers.

Auf dem Heimweg trennten sich die Cousinen, weil Tiff unbedingt Wein im Dorf kaufen wollte, um ihren Einstand in Porthmellow zu feiern. Ob sie diese Idee nach dem steilen Aufstieg zurück zum Cottage immer noch so toll finden würde, wagte Marina zu bezweifeln.

Gemächlich schlenderte sie nach Hause und grüßte dabei Dirk, der sogar ein kleines Lächeln zustande brachte. Und da war noch ein anderes bekanntes Gesicht: Der Schwimmer aus der Bucht, jetzt in Kapuzen-Shirt und Jeans, stand doch tatsächlich vor Coastguard Terrace eins und schloss die Tür auf. Als er Marina entdeckte, nickte er knapp und ohne zu lächeln. Er schien nicht erfreut zu sein, ihr schon wieder zu begegnen.

Marina lächelte in sich hinein. Es würde ihm kaum gelingen, sie zu meiden, wenn er quasi direkt nebenan wohnte. Was er vermutlich noch nicht wusste.

Trotz seiner abweisenden Art hoffte sie, bald mehr über den interessanten neuen Nachbarn zu erfahren.