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An diesem Samstagmorgen gönnte sich Tiff auf der Terrasse des Net Loft einen Eiskaffee anstatt des üblichen Cappuccino. Es war ein strahlender Sonnentag, und sie trug ein ärmelloses Sommerkleid und Ballerinas. Am Wochenende war immer das ganze Dorf auf den Beinen, und viele Urlauber spazierten am Hafen entlang und besuchten die Cafés, Galerien und kleinen Geschäfte. Fischer luden ihren Fang aus, und Tiff entdeckte einige Bekannte. Ellie und Drew arbeiteten auf dem historischen Segelboot, Chloe Farrow fütterte in Begleitung eines kleinen Mädchens, ihrer Enkelin vielleicht, Wasservögel, Troy Carman schwatzte mit ein paar Leuten vor dem Fischerhaus. Tiff fühlte sich schon wie ein Teil von Porthmellow … oder vielleicht wurde Porthmellow ein Teil von ihr …

Seit dem Streit über Amira und die Pressewelt in der letzten Woche hatte Tiff mit Dirk nicht mehr als ein flüchtiges »Hallo« gewechselt, wenn sie sich zufällig begegneten. Sie hatte sich wieder schlaflos herumgewälzt, hin- und hergerissen zwischen ihrem Ärger über seine Vorurteile und wilden Fantasien, nachdem er sein Interesse an Sex mit ihr bekundet hatte. In jedem Fall konnte Tiff Dirk nach diesem Streit besser verstehen. Wenn er es bislang nur mit Presseleuten wie Esther Francois zu tun gehabt hatte, war es kein Wunder, wenn er alle in Bausch und Bogen verdammte.

»Sieh an«, murmelte Tiff nun, als sie bemerkte, dass Dirk just in diesem Augenblick im Anmarsch war. Sie legte die Saturday Post beiseite und fächelte sich mit der Speisekarte Luft zu. Gleich würde es bestimmt hoch hergehen, denn Dirks Miene nach zu urteilen schien er innerlich zu kochen. Der Grund dafür war nicht schwer zu erraten: Dirk hielt eine Zeitschrift in der Hand, bei der es sich wohl um die neueste Ausgabe von Cream of Cornwall handelte. Die lag nämlich seit heute Morgen in Hotels, Cafés und Geschäften aus.

Tiff widmete sich gelassen ihrem Eiskaffee und wappnete sich gegen das Donnerwetter. Dirk war wohl so ziemlich der einzige Mann, der auch mit Flip-Flops, Shorts und T-Shirt noch gut aussah, stellte sie fest. Und ihr fiel auf, dass er so zerzaust war, als habe er sich entnervt die Haare gerauft.

Ohne zu fragen, nahm er ihr gegenüber Platz und legte die Zeitschrift auf den Tisch. »Mir ist das hier in die Hände gefallen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Vermutlich bemerkte er die neugierigen Blicke der Leute auf der Terrasse und vor der fahrbaren Fischbude am Kai. »Und ich hab ein Wörtchen mit dir zu reden.«

»Nur eins? Wow. Geht klar. Aber ob du wohl so nett sein würdest, vorher in dieses Glas zu pusten?«

Er sah sie verständnislos an. »In das Glas pusten? Wieso das denn?«

»Das Eis schmilzt, und so frostig, wie du gerade drauf bist, kannst du das bestimmt verhindern«, antwortete Tiff leichthin.

Dirk schüttelte den Kopf. »Du kannst einen wirklich …«

»Ja?«

»Auf die Palme bringen.« In seiner Stimme schwang ein Hauch Amüsiertheit mit.

Tiff trank einen Schluck. »Solltest du nicht an Schiffsschrauben rumbasteln oder so?«

»Das hab ich auch getan … bis jemand einen Stapel von denen hier«, er klopfte auf die Zeitschrift, »in der Rettungsstation abgelegt hat. Ist dir klar, wie die anderen im Team darauf reagiert haben? Hast du eine Ahnung, was du angerichtet hast?«

Tiff trank in aller Ruhe einen Schluck Eiskaffee, bevor sie sagte: »Du hast also meinen Artikel über mein Erlebnis auf dem Rettungsboot gelesen?«

»Ja, hab ich.«

»Und?«

Eine junge Kellnerin trat an den Tisch. »Was kann ich Ihnen bringen?«, fragte sie gelangweilt.

»Eigentlich … na gut, einen Espresso, Martha, danke«, sagte Dirk.

»Sonst noch etwas?«, fragte Martha hartnäckig weiter.

»Für mich bitte ein Wasser mit Eis«, sagte Tiff, die das Bedürfnis hatte, sich noch weiter abzukühlen.

»Still oder mit Kohlensäure?« Tiff gewann den Eindruck, dass Martha nicht gerade ein Fan von ihr war.

»Mit Kohlensäure, bitte.«

Nachdem Martha die Bestellung auf ihren Block gekritzelt hatte und abgerauscht war, wandte Tiff sich erneut Dirk zu.

»Also: ›Hinter dem nüchternen Auftreten der Teammitglieder verbirgt sich eine eiserne Entschlossenheit, Leben zu retten, auch wenn sie dabei das eigene aufs Spiel setzen‹?«, zitierte Dirk.

»Na ja, bisschen pathetisch vielleicht, aber …«

»Siehst du das wirklich so?«

»Ja, Dirk, das tue ich tatsächlich. Manchmal schreiben wir die Wahrheit, weißt du … Ich wollte den Leuten begreiflich machen, warum eine Truppe Ehrenamtlicher für wildfremde Menschen das eigene Leben aufs Spiel setzt.«

»Und?«

»Na, du hast es doch gelesen«, antwortete Tiff. »Ich bin auf ganz unterschiedliche Beweggründe gestoßen, einige naheliegender als andere. Manchen von euch geht es darum, die eigene Herde schützen zu wollen, in einer kleinen Kommune füreinander einzustehen, weil es jeden treffen könnte. Einige aus dem Team haben selbst Angehörige an den Ozean verloren, bei anderen haben die Großeltern den Job auch schon gemacht, zu Zeiten, als man noch mit einer Korkweste aufs Meer hinausruderte.«

»Und was sind deiner Ansicht nach meine Beweggründe?«, fragte Dirk.

»Ich weiß noch nicht genug über dich, um das einschätzen zu können. Würde aber eine Wette eingehen, dass du dich gerne in einem Kampf bewährst … und je aussichtsloser er ist, desto verlockender für dich.«

»Gegen das Meer ist ohnehin jeder Kampf aussichtslos, es gewinnt immer.«

»Aber kleine Siege sind möglich. Jedes Mal, wenn ihr jemanden aus dem Wasser fischt, der mit der Luftmatratze abgetrieben ist. Oder eine defekte Jacht in den Hafen schleppt. Oder jemanden bei Flut vom Felsen rettet.«

»Das ist nun mal mein Job«, erwiderte Dirk achselzuckend.

»Genau. Und ich habe meinen erledigt«, entgegnete Tiff, fest entschlossen, sich zu behaupten. Dirk saß so dicht neben ihr, dass ihre nackten Beine sich unterm Tisch fast berührten, und ihr wurde wieder abwechselnd heiß und kalt. Dirk hatte einfach diese Wirkung auf sie. »Aber es war doch eine ganz gute Reportage, nicht wahr?«, sagte Tiff lässig.

»Ich glaube, dein Ego braucht keine Bestätigung von mir«, erwiderte er.

»Na los, gib’s zu.«

»Okay, sie ist gut geschrieben … ziemlich fesselnd tatsächlich … aber ich kann es nun mal nicht ertragen, zur Schau gestellt zu werden. Nicht mal, wenn es unsere Kasse füllt. Ich bin kein Held. Und die anderen aus dem Team legen auch keinen Wert auf so eine Darstellung.«

»Aber ich war doch freundlich und hab dich als ›schweigsam‹ bezeichnet und nicht als grob und unhöflich.« Tiff hielt einen Moment inne und fügte dann etwas milder hinzu: »Ich wollte ein realitätsnahes Porträt von dir zeichnen. Du hättest doch bestimmt nicht als Heiliger rüberkommen wollen, oder?«

»Natürlich nicht!«, explodierte er, sagte dann aber ruhiger: »Hör zu … der Text ist gut. Er ist aufrichtiger als die meisten, authentischer … aber ich steh nun mal nicht gern im Scheinwerferlicht.«

»Zu spät«, konstatierte Tiff trocken. »Mit diesem Foto wirst du garantiert jede Menge Heiratsanträge kriegen.«

Er lachte. »Das hast du mir versaut, indem du einen schlecht gelaunten Fiesling aus mir gemacht hast.«

Martha brachte die Getränke, und Tiff griff nach ihrem Wasser, aber Dirk rührte den Espresso nicht an.

»Trinkst du den nicht?«, fragte Tiff.

»Ich will eigentlich gar nichts.«

»Warum hast du ihn dann bestellt?«

»Weiß ich auch nicht.« Dirk beugte sich vor, und der dezente holzig-würzige Duft, der Tiff in die Nase stieg, versetzte ihren Körper in Aufruhr.

»Du scheinst allgemein nicht so recht zu wissen, was du willst, Dirk.« Ihre Stimme klang etwas schrill, und sie umklammerte ihr Glas, um sich abzukühlen.

»Doch, bei einer Sache, die ich haben will, bin ich mir ganz sicher«, erwiderte er.

Bevor Tiff etwas erwidern konnte, ging die Sirene der Rettungsstation los.

»Oh nein, nicht jetzt«, stöhnte Dirk.

Und dann rannte er auch schon los, was Tiff ungeheuer frustrierte. Zugleich empfand sie aber einen Anflug von Stolz auf Dirk, und dabei wurde ihr etwas klar: Sie lebte zwar erst zwei Monate in Porthmellow, hatte sich emotional aber schon auf ziemlich vieles eingelassen – sowohl was das gesamte Dörfchen anging, als auch diesen einen ziemlich verwirrenden Mann …

Sie stöhnte leise. Gegen diese Gefühlsduselei musste etwas unternommen werden. Dennoch fragte sich Tiff, was denn wohl diese eine Sache war, die Dirk unbedingt haben wollte …