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In der Woche nach dem abgebrochenen Gespräch vor dem Net Loft hatte Tiff Dirk mehrmals gesehen.
Aber beim Sehen war es dann auch geblieben, sie hatten kein Wort miteinander gewechselt. Tiff versuchte ihn zu meiden, um sich von ihren Gefühlen zu kurieren. Was aber überhaupt nicht funktionierte – jedes Mal, wenn sie ihn irgendwo zufällig sichtete, wurde ihr Verlangen nach ihm noch heftiger.
Am Vortag war sie Dirk sogar dreimal begegnet: vor der Rettungsstation (womit immer zu rechnen war), in der Post und dann merkwürdigerweise in einer Boutique neben dem Hafencafé. Tiff sprach gerade mit der Besitzerin, die in der Zeitschrift einen Werbetext veröffentlicht haben wollte, als Dirk schnurstracks in den hinteren Teil des Ladens marschierte. Tiff schien er nicht bemerkt zu haben, und sie fragte sich, was er wohl bei der hochpreisigen Damenbademode verloren hatte. Der Mann war wirklich immer für eine Überraschung gut.
Zwei Wochen nach der Begegnung vor dem Net Loft, an einem regnerischen Freitagabend, betrat Tiff die Chough Gallery, die in dem Gewirr von Gassen hinter dem Hafen lag. Dort fand eine Vernissage einer einheimischen Künstlerin statt, und Tiff sollte für Cream of Cornwall darüber berichten.
Als Tiff eintraf, waren in der Galerie bereits Freunde und Familie der Künstlerin, Stammkunden, Presseleute und Mitglieder des Festivalkomittees versammelt.
Tiff begrüßte die Leute, die sie kannte, und wurde herzlich willkommen geheißen. Da sie keine Zeit zum Abendessen gehabt hatte, verputzte sie möglichst unauffällig etliche der angebotenen Kanapees und trank dazu ein Glas Prosecco.
Die Künstlerin war eine Frau um die Siebzig, bekannt für ihre Aquarelle und Ölbilder mit Motiven rund um Cornwall. Sie hatte rosafarbene Strähnen im silbrigen Haar und trug eine Vintage-Lederjacke.
Tiff hatte Spaß an dem Interview und nahm sich vor, auch ein Bild zu kaufen. Allerdings wurde ihr bei der Gelegenheit bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wann sie in ihre eigene Wohnung zurückkehren würde.
Nachdem die Künstlerin eine kurze Rede gehalten hatte, wurde es wieder lauter. Die Leute schlenderten durch die Galerie, betrachteten die Kunstwerke und gaben erste Angebote ab.
Tiff trat zu einem Gemälde in zarten Pastelltönen, auf dem eine Morgenstimmung bei Ebbe am Pedn Vounder Beach dargestellt war. Den weißen Sand und das leuchtend türkise Wasser an diesem Strand im Westen von Cornwall hatte Tiff selbst schon mehrmals bewundert. Immer wenn sie in der Nähe war, legte sie dort einen Zwischenstopp ein. Sie beschloss, dieses Gemälde für sich zu kaufen, und überlegte, ob sie Marina zum Geburtstag einen kleineren Druck schenken sollte.
»Ja, das Bild ist ein echter Hingucker.«
Tiff fuhr herum und sah sich Dirk gegenüber, der in seinem weißen Hemd zur schwarzen Jeans auch keinen schlechten Hingucker abgab.
»Ähm … ja. Stimmt.« Tiff atmete tief durch und sagte dann: »Gibt es eigentlich eine Erklärung, warum ich dir ständig über den Weg laufe? Oder vielmehr du mir?«
»Weiß nicht, was du meinst. Wir sind schließlich fast Nachbarn, falls du das vergessen hast.«
»Wohl kaum«, erwiderte Tiff zuckersüß. »Natürlich habe ich volles Verständnis dafür, dass du plötzlich in der Post auftauchst, wenn ich gerade da bin. Zweimal übrigens«, fügte sie hinzu. »Oder dass dein Auto genau zur selben Zeit vollgetankt werden muss wie meines. Mir leuchtet sogar ein, dass du heute bei dieser Vernissage vorbeischaust. Ich weiß, dass du kunstinteressiert bist, wobei es ja hier auch abstrakte Bilder gibt, und du kannst abstrakte Kunst nicht ausstehen …«
»Das hab ich so nicht gesagt.«
»Hm, ich meine mich aber an den Satz ›Mit diesem modernen Scheiß kann man mich jagen‹ zu erinnern.«
»Schsch«, machte Dirk und sah sich betreten um. »Das war doch ironisch gemeint.«
Tiff verkniff sich mühsam das Lachen und zog eine Augenbraue hoch. »Aber was um alles in der Welt hattest du gestern in der Quayside Boutique verloren? Wolltest du dir ein Paar Designer-Pantoletten gönnen? Oder einen schicken neuen Bikini? Man könnte geradezu auf die Idee kommen, dass du mich stalkst …«
»Ähm … ach, was soll der Quatsch. Okay, ich wollte mit dir reden.«
»Aha.« Tiff beäugte ihn skeptisch. »Und weshalb hast du’s dann nicht getan?«
Dirk seufzte ergeben. »Also schön, ich geb’s auf. Es ist so: Ich wollte die ganze Zeit mit dir darüber sprechen, was sich nach dem Übungstag mit dem Rettungsboot zwischen uns abgespielt hat. Aber dann war ich im Net Loft, in der Boutique und bei all den anderen Gelegenheiten zu feige dazu.« Er verstummte und schien seinen ganzen Mut zusammenzunehmen. »Dann also jetzt.« Er holte tief Luft. »Könntest du mir vielleicht verzeihen für das, was ich zu dir gesagt habe?«
Tiff sah ihn mit großen Augen an, aufrichtig erstaunt. »Hm, also … Das würde voraussetzen, dass ich so was wie ein Herz habe, was du ja ziemlich deutlich angezweifelt hast.«
»Ich war grob und habe vorschnelle Schlüsse gezogen. Aber ich würde dich gern näher kennenlernen, um ehrlich zu sein. Die echte Tiff.«
»Und wieso hast du nicht einfach mal bei mir vorbeigeschaut, um mir das zu sagen? Oder angerufen? Oder eine Nachricht geschrieben?«, fragte Tiff.
»Ich hab nicht den richtigen Moment dafür gefunden. Und ich wusste nicht genau, wie ich mich ausdrücken soll. Ich hab mich auch etwas vor deiner Reaktion gefürchtet, offengestanden.« Leise fügte er hinzu: »Tiff, ich weiß, dass ich dich gelegentlich zum Wahnsinn treibe, aber ich mag dich wirklich gern. Du bringst mich zum Lachen, du hältst mich auf Trab, und du regst mich zum Nachdenken an. Apropos denken: Ich denke ständig an dich.«
Tiff lief ein wohliger Schauer über die Haut. Sie beugte sich zu Dirk, atmete seinen wunderbaren Duft ein und raunte: »Ich denke nie an dich.«
Er grinste. »Na klar … ich für meinen Teil krieg dich jedenfalls nicht mehr aus dem Kopf. Außer bei der Arbeit natürlich, da konzentrier ich mich. Aber ansonsten … Ich fände es wirklich toll, wenn wir Frieden schließen könnten. Und uns wie zwei erwachsene Menschen benehmen, die sich nicht mehr länger nur zanken wollen, sondern Lust haben, einen Schritt weiter zu gehen …«
Tiff musste sich an ihrem Prosecco-Glas festhalten. Seine Worte hatten ein Feuer weit unten in ihrem Bauch entfacht.
Jetzt beugte Dirk sich vor und flüsterte in Tiffs Ohr: »Wie wär’s, wenn wir uns hier verdrücken und mit den Waffenstillstandsverhandlungen beginnen? Vorzugsweise im Bett …«
»Hmmm …« Tiff kam es vor, als seien seine Worte warmer Honig, der auf ihre Haut tröpfelte. Oh Gott, sie geriet offenbar in so eine Art Shades-of-Grey-Modus … es war ihr schon beinahe egal, was die Leute hier dachten. Als Evie Carman interessiert herüberschaute, lächelte Tiff ihr möglichst harmlos zu.
»Bitte etwas Geduld. Ich schau mal, was ich tun kann«, sagte Tiff und flüsterte dann: »Wir treffen uns in fünf Minuten vor dem Net Loft.«
Und damit ließ sie Dirk stehen, schlenderte zu der Künstlerin, bedankte sich für das Interview und erklärte, es würde voraussichtlich in der Septemberausgabe von Cream of Cornwall erscheinen. Dabei achtete Tiff angestrengt darauf, nicht zu Dirk hinüberzuschauen.
Draußen spazierte sie zum Hafen und tat dann so, als studiere sie die Speisekarte am Net Loft. Wobei Tiff nicht einmal aufgefallen wäre, wenn man dort Tarantelbraten angeboten hätte, denn sie war in Gedanken dabei, sich Dirk zum Abendessen, als Schlummertrunk und zum Frühstück einzuverleiben.
Es dauerte allerdings an die zehn Minuten, bis das Objekt ihrer Begierde eintraf.
»Wo warst du so lange?«, fragte Tiff.
»Evie hat mich angesprochen, und ich wollte nicht einfach davonrennen. Musste doch die Fassade wahren.« Dirk grinste. »Wieso? Hast du gedacht, ich hätte es mir anders überlegt?«
»Ich wollte schon nach Hause gehen«, erwiderte Tiff pikiert.
»Ob ich dich wohl trotzdem zu mir locken könnte?«, fragte Dirk und zog gespielt ernst die Augenbrauen hoch.
Tiff musste wider Willen lachen. »Na okay …«
Wenig später flog sie die Treppen zu den Cottages förmlich hinauf. Sie hatte mittlerweile ein bisschen Übung und fühlte sich fitter als seit Jahren, aber heute Abend brach sie ihren eigenen Rekord, beflügelt von dem Verlangen, Dirk die Kleider vom Leib zu reißen.
Er hatte sie an der Hand gefasst, und gemeinsam hasteten sie die Stufen hinauf und stürmten lachend und außer Atem in Dirks Haus. Wo sie sofort aufs Sofa fielen und versuchten, so schnell wie möglich ihre Kleidung loszuwerden. Ein Hemdknopf flog an den Kamin, und Dirk fluchte, hielt aber nicht inne. Während er mit seinen Manschettenknöpfen rang, machte Tiff seine Jeans auf, und dann dauerte es nicht mehr lang, bis sie sich splitternackt in den Armen hielten, seine Hände über ihre Haut strichen und Tiff seinen fantastischen Körper an ihrem spürte. Sie schloss die Augen und gab sich hin.