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Im Gedenken an Nathan Hudson,

für immer in unseren Herzen,

von seiner Ehefrau Marina, in Liebe,

und den Einwohnern von Porthmellow

Marina betrachtete stirnrunzelnd die Gedenktafel und rieb mit dem Ärmel darüber. Es gab nur wenige Materialien, die dem Wetter hier trotzen konnten, deshalb hatte sie sich damals für die teure Bronze entschieden. Aber sogar die war inzwischen salzverkrustet und fleckig.

Sie holte Lappen und Eimer von drinnen und bearbeitete die Tafel, merkte aber irgendwann, dass man sie abschrauben und einer gründlichen Reinigung unterziehen musste.

Plötzlich hörte Marina jemanden pfeifen.

»Hi, ich bin’s«, rief Lachlan. Als er Marina an der Tafel sah, sagte er rasch: »Oh, tut mir leid.«

Marina trat auf ihn zu, den Lappen noch in der Hand. »Die Tafel muss dringend mal gereinigt werden …« Warum tauchte Lachlan nur gerade jetzt auf?

»Ich geh dann mal wieder, ich störe sicher.« Hastig wandte er sich zum Gehen.

»Lachlan!« Sie fasste ihn am Arm. »Bitte lauf nicht weg.«

Er warf einen Blick auf die Tafel. »Will ich ja auch gar nicht.«

»Dann … lass uns doch reingehen.«

Lachlan folgte ihr in die Wachstation. »Ich bin hergekommen, um mit dir über etwas zu sprechen … nach dem Abend am Strand habe ich viel über dich nachgedacht … über uns.«

»Ich auch«, erwiderte Marina. »Und was immer du sagen willst: Lass dich bitte nicht davon abhalten, nur weil ich gerade an der Gedenktafel für Nathan stand. Das ist nur eine Tafel, kein Schrein, verstehst du? Das sollte deine Gefühle nicht beeinflussen …«

»Meine Gefühle? Ich …« Statt weiterzusprechen, zog Lachlan Marina an sich, und im nächsten Moment küssten sie sich. Es war ein wunderbarer Kuss, zärtlich und leidenschaftlich zugleich. Und er fühlte sich ganz natürlich an, obwohl Marina so lange aus der Übung gewesen war. Es kam ihr vor, als betrete sie ein Land voller Wunder.

Als der Kuss endete, hielten sie sich weiter in den Armen, ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, ihre Wange berührte den weichen Stoff seines T-Shirts. Marina genoss in vollen Zügen Lachlans frischen Duft, das Gefühl seiner Hände in ihrer Taille. Sonnenstrahlen schienen in ihre vormals schattige Welt zu dringen, ein neuer Tag brach an, der Freude und Glück versprach.

Lachlan löste sich behutsam. »Wow, das kam jetzt überraschend«, murmelte er. »Für mich selbst auch, ich hatte das nicht geplant … war es dir überhaupt recht?«

»Hast du das nicht gespürt, Lachlan? Es war mir sehr recht! Allerdings hatte ich nicht mehr damit gerechnet, nachdem du gesagt hast, du siehst uns als gute Freunde … ich muss gestehen, dass ich schon länger gehofft habe, wir seien vielleicht … mehr als nur gute Freunde?«

»Ja, ich will dich auch schon seit Wochen küssen, aber ich wollte dich zu nichts drängen … Ich habe mich wegen der Geschichte mit Nate zurückgehalten, ich wollte dir nicht das Leben zusätzlich schwermachen. Weil du dich doch jetzt mit diesen ganzen juristischen Sachen herumschlagen musst.«

»Du machst mir nicht das Leben schwer – im Gegenteil.« Marina lächelte. »Und ja, im Moment ist es nicht einfach für mich, aber das Ganze bringt auch die Chance eines Neuanfangs mit sich. Deshalb habe ich an unserem Strandabend verschwiegen, dass es der Jahrestag von Nates Verschwinden war. Aber Craig hat mir dann ja einen Strich durch die Rechnung gemacht …«

»Ja, war schon ein Schock, als ich das von dem Jahrestag mitbekommen hab …« Lachlan ergriff ihre Hand. »Ich mag dich sehr, Marina. Dir ist es gelungen, mich aus meinem Schneckenhaus zu locken, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte.«

Marina zuckte zusammen. »Ich wollte dich aber auf keinen Fall zu etwas drängen …«

»Ich brauchte wirklich einen Tritt in den Hintern. Und es gibt niemandem, von dem ich den lieber bekommen hätte …«

Marina lachte lauthals. Dann sagte sie: »Na ja, vielleicht hab ich dir den Tritt verpasst, weil ich wusste, wie es ist. Ich musste mein Schneckenhaus ja nach Nates Tod auch irgendwann verlassen.«

»Du hast das genau richtig gemacht«, versicherte Lachlan ihr. »Genau dich habe ich gebraucht. Ich wünschte nur, ich hätte dir das schon längst gesagt, anstatt mir nächtelang den Kopf darüber zu zerbrechen.«

»Ich freue mich sehr, dass du es jetzt getan hast«, sagte Marina. »Und auch über das, was gerade passiert ist …«, fügte sie ein wenig verlegen hinzu.

Seine Augen leuchteten. »Dann wiederholen wir es doch einfach …« Er beugte sich vor, um sie zu küssen.

»Hallihallo!«

Die beiden sprangen hastig auseinander.

»Trevor und Doreen!«, flüsterte Marina. Lachlan griff nach einem Fernglas und hielt es an die Augen, aber seine Schultern zuckten vor unterdrücktem Lachen. Marina nahm das weniger locker, sie wollte auf keinen Fall beim Knutschen in der Wachstation ertappt werden.

»Hallo!«, sagte sie übertrieben munter, als die beiden hereinkamen, die heute die erste Schicht übernehmen sollten. »Ich hab alles schon vorbereitet, und Lachlan kam gerade vorbei.«

»Hi.« Lachlan nickte den beiden zu, die sich zu Marinas Entsetzen einen bedeutungsvollen Blick zuwarfen. Ahnten sie etwas? Marinas Gesicht fühlte sich heiß an …

Lachlan verabschiedete sich. Marina sprach noch kurz mit den beiden und verließ dann auch die Wachstation.

Unten auf dem Weg wartete Lachlan auf sie. Marina strahlte, als sie ihn sah.

»Wollen wir zu unserer Bank gehen? Da sind wir sicher ungestört«, fragte er.

Dass er von »unserer Bank« sprach, gefiel Marina, aber sie bezweifelte, dass sie dort ungestört sein würden, trotz der Ginsterbüsche. Und als sie sich niedergelassen hatten, hörten sie prompt all die Familien, die heute auf dem Küstenpfad unterwegs waren.

»Hier haben wir keine Ruhe«, stellte Lachlan fest.

»Nee, wirklich nicht …« Plötzlich kam Marina eine kühne Idee. »Vielleicht sollten wir einfach mal ganz aus Porthmellow verschwinden?«

»Für einen Tag, meinst du?« Lachlan warf ihr einen Blick zu, bei dem ihr die Knie weich wurden. »Oder länger?«

»Auch länger, wenn wir das hinkriegen.« Marina überlegte fieberhaft. »An einen Ort, der für uns beide ganz neu ist, ein Ort ohne Erinnerungen.«

Lachlan überlegte kurz. »Schöne Idee. Ich kann nicht ewig wegbleiben, aber über ein langes Wochenende kann Aaron bestimmt mal auf mich verzichten.«

»Ich hab nächsten Freitag und Montag frei, und meine Schichten in der Wachstation könnte ich tauschen.«

»Hast du schon einen Ort im Sinn?«

Marina erinnerte sich an eine Anzeige in Tiffs Zeitschrift. »Ja, hab ich tatsächlich. Ist nicht weit weg, und vielleicht bekommen wir da auf die Schnelle noch was. Tiff war zur Besichtigung einiger Luxus-Cottages auf den Scilly-Inseln eingeladen, hatte aber keine Zeit. In den Cottages war früher die Küstenwache untergebracht, und sie wurden diese Woche erst eröffnet, auf St Agnes, der einsamsten der bewohnten Inseln. Es soll wunderschön dort sein, und ich wollte immer schon mal dahin.«

»Einsam klingt ganz wunderbar.« Lachlan küsste sie. »Vorausgesetzt natürlich, du kannst es mit mir alleine aushalten …«

»Ich denke, das ist genau das, was wir brauchen, und …« Marina dachte nach. »Man kann mit dem Boot hinfahren, soll ich mich darum kümmern? Und ich könnte Tiff hinterher von den Cottages berichten, dann kann sie vielleicht sogar noch darüber schreiben.«

»Okay, ich rede mit Aaron. Wir könnten Freitag früh losfahren und Montagabend zurückkommen, was meinst du? Dann hätten wir fast vier Tage.«

»Klingt super. Ich rede mal mit Tiff.«

»Und ich sag dir Bescheid, sobald ich mit Aaron gesprochen hab.«

Auf dem Heimweg unterhielten sie sich so aufgeregt wie Kinder über ihre Pläne und waren voller Vorfreude. Endlich würden sie die Vergangenheit hinter sich lassen und zur Abwechslung mal ungestört sein können. Außerdem gehörten zu den vier Tagen auch drei Nächte, auf die Marina nach diesem vielversprechenden Kuss sehr gespannt war.