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In ihren finstersten Momenten, in der Dunkelheit der Nacht, hatte Marina manchmal den Wunsch verspürt, sich ins Meer zu stürzen und unterzugehen. Das war in den Wochen und Monaten nach Nates Verschwinden gewesen.
Als sie jetzt auf die tosenden Wellen blickte, die Lachlan verschlungen hatten, verspürte sie diesen Wunsch erneut.
Der Helikopter positionierte sich näher an den Klippen. Vielleicht sahen die Rettungsleute dort etwas, das Marina nicht erkennen konnte. Sie schrie unwillkürlich, hoffte, dass sie Lachlan doch gefunden hatten.
Der Mann an der Winde war jetzt dicht an den Klippen … und plötzlich sah Marina, warum. Lachlan war von den Wellen auf das Plateau geschleudert worden, auf dem Nate zuvor gestanden hatte, und klammerte sich an den Felsen fest. Doch der nächste Brecher erfasste ihn und trug ihn wieder ins Meer zurück.
Der Hubschrauber änderte die Position, der Seenotretter an der Winde flog direkt über den Wellen, war immer wieder dicht bei Lachlan und erreichte ihn schließlich, schien ihn aber nicht festhalten zu können.
Lachlan schlug um sich – hatte er eine Panikattacke wegen des Hubschraubers?
Schließlich gelang es dem Seenotretter, Lachlan in den wogenden Wellen einen Gurt überzustreifen. Marina fürchtete immer noch, dass etwas schiefgehen würde, und wagte nicht zu hoffen, bevor die beiden im Helikopter ankamen …
Doch jetzt wurden die zwei Männer nach oben gezogen, kreiselten wie Marionetten in einem Tanz um Leben und Tod, und der Hubschrauber entfernte sich von den drohenden Klippen und verharrte über dem tosenden Meer.
Freudentränen liefen Marina übers Gesicht, als sie sah, wie der Seenotretter und Lachlan in dem Helikopter verschwanden, der bald darauf schnell weiterflog. Sie blieb zurück, alleine mit Sturm und Wellen, umklammerte den Felsen und sprach ein stummes Gebet.
»Marina!«, schrie plötzlich jemand aus der Bucht unterhalb der Wachstation. Das kleine Rettungsboot schaukelte auf den Wellen, und zwei Leute kletterten zu ihr herauf. »Bleib, wo du bist!«, riefen sie.
Als sie bei ihr ankamen, instruierten sie Marina, mit ihnen ins Wasser zu kommen, um das Boot zu erreichen. Ihr war alles einerlei. Sie wollte nur wissen, ob der Mann, den sie früher geliebt hatte, und der Mann, den sie jetzt liebte, am Leben und unversehrt waren.
Nachdem sie mit den Helfern durchs Wasser gewatet und ins Boot gestiegen war, das von Rachel gesteuert wurde, gab man Marina trockene Kleider und hüllte sie in Decken, aber sie zitterte noch immer wie Espenlaub. »Ist Nate am Leben? Geht es Lachlan gut?«, fragte sie mehrmals, aber niemand konnte ihr Antwort geben.
Marina litt Höllenqualen, bis sie in der Rettungsstation ankamen, wo Dirk nach seinem Einsatz auf dem anderen Boot auf sie wartete. Er hatte Neuigkeiten aus der Klinik: Lachlan war wohlauf, von ein paar Schürfwunden und Schnitten abgesehen.
Marina schluchzte vor Erleichterung, während Dirk sie ins Krankenhaus chauffierte. Unterwegs berichtete er von Nate. Für ihn war es knapp gewesen, er hatte viel Wasser geschluckt und war unterkühlt gewesen, jetzt aber bei Bewusstsein.
Vor der Notaufnahme angekommen, fragte Marina eine Schwester, wo man Lachlan hingebracht hatte.
»Er wurde bereits entlassen«, erklärte die Schwester.
»Was, jetzt schon?«
»Ja, er hat Glück gehabt. Die kleineren Verletzungen wurden verarztet. Und dieser Mann ist von der zähen Sorte, würde ich meinen.«
»Ich weiß«, sagte Marina, erleichtert und enttäuscht zugleich. Sie wollte ihm danken – und ihn in den Armen halten, um sich davon zu überzeugen, dass es ihm gut ging.
Marina griff nach ihrem Handy, aber in diesem Moment trat der Arzt zu ihnen.
»Sie können Ihren Mann jetzt sehen, Mrs Hudson«, sagte er.
»Er ist nicht mehr mein Mann«, erwiderte Marina. »Aber ich möchte zu ihm, ja.«
Nate saß aufrecht im Bett. Er hatte einige Blutergüsse im Gesicht, schien aber ansonsten wohlauf zu sein.
»Das war knapp«, sagte er.
Marina hielt so viel Abstand, dass er sie nicht berühren konnte. »Kann man wohl sagen.«
»Danke für die Rettung. Der Typ, der mich rausgezogen hat, sagte, du seist selbst fast abgeschnitten worden.«
»Du solltest lieber diesem ›Typ‹ danken statt mir. Das war Lachlan, und er hat für dich sein Leben aufs Spiel gesetzt. Großer Gott, Nate, ihr wärt um ein Haar beide umgekommen!«
»Ich weiß …«, murmelte er. »War nicht meine Absicht …«
»Ach ja? Ich weiß nicht mehr, was ich dir noch glauben kann.«
»Dieser Lachlan. Ich hab gehört, wie er im Hubschrauber die Crew angefleht hat, jemanden zu dir zu schicken. Ihr seid euch wohl recht nah?«
»Ja, sind wir.« Marina sah Nate mit festem Blick an. »Er ist ein ganz besonderer Mann, und ich liebe ihn.«
Nate starrte sie mit offenem Mund an, dann schnaubte er. »Wusste ich’s doch. Ich wusste, dass du nicht lange alleine bleiben würdest.«
»Nicht lange? Es hat sieben Jahre gedauert, bis ich jemanden gefunden habe, den ich lieben kann!«
»Und jetzt?«
»Werde ich mein Leben genießen. Und da ist für dich kein Platz mehr, Nate, so leid es mir tut. Ich bin froh, dass du überlebt hast, möchte aber ab jetzt keinerlei Kontakt mehr mit dir haben.«
Nate blieb stumm und wich ihrem Blick aus.
»Ich habe dich früher geliebt«, fuhr Marina fort, »aber es ist unverzeihlich, was du mir und anderen Menschen angetan hast. Ich habe nicht allzu viel Hoffnung, dass du dich bessern wirst, aber es soll ja immer mal Wunder geben.«
Jetzt sah er Marina an, als sei sie nicht recht bei Trost. »Süße, ich versteh ja, dass du für klare Verhältnisse sorgen willst – aber bist du dir ganz sicher, dass das wirklich das Richtige für uns ist?«
»Uns?«, versetzte Marina aufgebracht. »Es gibt kein ›Uns‹ mehr, Nate. Wir sind ab jetzt geschiedene Leute. Ich will nie wieder etwas mit dir zu tun haben. Ich wünsche dir alles Gute.«
Und damit wandte sie sich ab und ging zur Tür.
»Warte, Marina!« Er stieg aus dem Bett. »So soll es mit uns nicht enden!«
Doch Marina marschierte schnurstracks zum Ausgang, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Die Dämmerung hatte eingesetzt, und Marina nahm sich ein Taxi. Was sie zu sagen hatte, war zu wichtig, sie wollte Lachlan persönlich sprechen.
Als er ihr die Tür öffnete, sprudelte Marina los wie ein Wasserfall. »Lachlan! Ich dachte, du seist noch in der Klinik, aber die haben mir gesagt, du seist entlassen worden, und ich habe nichts von dir gehört und wollte dich gerade anrufen, als der Arzt sagte, ich könne zu Nate … Oh Gott, du hast ja Schnitte im Gesicht!«
Lachlan hörte sich ihre Tirade ruhig an, bis Marina die Puste ausging.
»Nur ein Kratzer«, sagte er. Seine Stimme klang rau vor Erschöpfung. »Komm doch rein.«
»Ich hab mich nicht gemeldet, weil ich dachte, du hast genug Sorgen mit Nate«, sagte Lachlan, als sie im Wohnzimmer saßen. »Wie geht es ihm?«
»Nate wird’s überleben. Er … ist vor diesem ganzen Drama unangekündigt bei mir in der Wachstation aufgetaucht, und es gab Streit zwischen uns.«
»Ach, großer Gott, so was habe ich mir fast gedacht«, erwiderte Lachlan. »Im Helikopter hat er irgend so was gemurmelt, aber ich dachte, er hat Halluzinationen. Nate hat es wirklich gewagt, dich dort zu überfallen?«
»Er wollte angeblich erklären, warum er verschwunden ist.«
»Erklären? Dieser Mann ist …« Lachlan brach ab. »Nein, das werde ich nicht aussprechen.«
»Du kannst nichts über ihn sagen, was ich nicht schon selbst gedacht hätte, Lachlan. Ich hab ihm dann quasi gesagt, er soll verschwinden, und er ist rausmarschiert. Und dann ist er aus irgendeinem Grund in die Bucht gegangen und dort von der Flut überrascht worden.« Marina schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob er so mein Mitleid erregen wollte oder so. Ich kann nur hoffen, dass es nicht so war. Um ein Haar hätte ich euch beide verloren. Das werde ich ihm nie verzeihen. Und du … tu so was nie wieder!«
»Ich hatte keine andere Wahl, Marina«, erwiderte Lachlan ruhig.
»Doch, hattest du. Du wärst fast selbst ums Leben gekommen!« Marina schauderte, sie sah wieder vor sich, wie Lachlan von der Welle mitgerissen wurde.
»Ich war joggen …«, begann Lachlan. »Nein, ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, dich draußen zu treffen und mit dir sprechen zu können. Ich habe die ganze Zeit nicht den Mut aufgebracht, zu dir zu kommen, weil du ja Abstand haben wolltest. Und als ich dann dich auf den Felsen gesehen habe und Nate – ich hab ihn gleich erkannt – auf der anderen Seite, dachte ich, du wärst vielleicht so verrückt, dich ins Wasser zu stürzen, um ihn zu retten.«
»Nein, das hätte ich nicht getan«, sagte Marina, froh darüber, dass Lachlan mit ihr Frieden schließen wollte. Sie sehnte sich so sehr nach einem Neuanfang zwischen ihnen beiden. »Das hätte ich nie gewagt.« Jedenfalls nicht, um Nate zu retten …
»Aber das konnte ich nicht wissen«, wandte Lachlan ein. »Und ich hätte das sowieso für jeden getan, und Nate war ja immerhin mal dein Mann. Er hätte nicht mehr lange durchgehalten. Ich hab einfach instinktiv gehandelt.«
»Und wenn ich dich verloren hätte?« Marina ergriff seine Hände, wie um sich zu versichern, dass er wirklich bei ihr war. »Wie hätte ich weiterleben sollen mit dem Wissen, dass du dich für Nate geopfert hast?«
»Ich habe wirklich geglaubt, du würdest dich für ihn in die Wellen stürzen.«
»Für dich hätte ich das vielleicht getan.«
Lachlan starrte sie fast erschrocken an. »Das hätte ich nicht verdient, Marina. Ich bin in deine Privatsphäre eingedrungen, habe deine Welt zum Einsturz gebracht …«
»Bitte hör mir gut zu«, sagte Marina. Er musste jetzt erfahren, wie wichtig er für sie war. »Diese letzten Wochen, seit ich weiß, was Nate getan hat, waren für mich fast genauso schlimm wie die Zeit nach seinem Verschwinden – weil ich befürchtet habe, dich zu verlieren. Dazu noch das ganze Gefühlschaos wegen Nate … Ich war so furchtbar verwirrt und verstört, dass ich dich weggestoßen habe. Vielleicht hattest du das Gefühl, ich gebe dir die Schuld an dieser ganzen Entwicklung. Das tut mir leid, und ich habe es nicht so gemeint.«
Marina holte tief Luft und fuhr fort: »Ich weiß inzwischen, dass du die ganzen Leute zusammengetrommelt hast, damit ich wieder bei den Wave Watchers anfange. Mir ist klar geworden, dass ich mein Leben zurückerobern muss. Ich danke dir sehr dafür.«
»Na ja, ich wollte dir helfen, so gut ich konnte … ohne dass du den Eindruck hattest, ich mische mich ein. Ich dachte mir, es wäre gut für dich, wieder das zu tun, was dir immer wichtig war …« Lachlan nahm Marina behutsam in die Arme. »Aber ich konnte ja nicht wissen, ob du nicht doch wieder mit Nate zusammen sein wolltest … noch seid ihr nicht offiziell geschieden, und ich dachte, vielleicht sind Gefühle von früher wieder aufgekommen …«
»Wie kommst du denn auf diese absurde Idee?«
Er legte seine Stirn an die ihre, und Marina hielt ihn ganz fest, immer noch zittrig bei der Vorstellung, ihn um ein Haar verloren zu haben.
»Ich wollte einfach nicht nur ein Ersatz für dich sein, weil die Liebe deines Lebens verschollen war«, flüsterte Lachlan. »Deshalb war ich innerlich ein wenig auf der Hut, auch bevor Nate gefunden wurde. Ich habe mich so mit der Entscheidung gequält, ob ich dir überhaupt sagen soll, was mit ihm passiert ist. Weil ich – verzeih mir bitte – der Meinung war, dass es dir ohne ihn besser geht. Und weil wir beide uns so gut verstanden haben.«
Er küsste sie, und Marina floss fast das Herz über vor Freude.
Als sie sich voneinander lösten, strich sie zärtlich über sein Gesicht. »Weißt du noch, damals, als ich dich in der Bucht angesprochen habe … du konntest gar nicht schnell genug Reißaus nehmen«, sagte sie lächelnd.
»Na ja, das war aber zu der Zeit allgemein so. Mir ging es einfach nicht gut. Aber jetzt fühle ich mich in Porthmellow zu Hause. Und ich liebe dich, Marina. So, jetzt ist es endlich raus.«
»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie. »Ich liebe dich, und ich bleibe bei dir.«