36

Normalerweise vergeht in unserem Viertel ein Tag wie der andere. Der Wind trägt das vorsichtige Lachen und das gelegentliche Weinen der Kinder durch die Ruinen. Vor meinem Haus ziehen hoffnungsvoll plaudernde Demonstrierende vorbei und ihre Schritte hallen auf dem Kies nach. Ein Vater tröstet seine Tochter und teilt sein Essen mit ihr. Jasminblumen strecken ihre Köpfe der Sonne entgegen. Sie blühen dort, wo das Blut unserer Heldinnen und Helden vergossen wurde. Für eine Weile leben wir.

Dann sind die Kampfflieger durch die Wolken zu hören und die Kieselsteine auf dem Gehweg beben. Wir schalten vom Leben in den Überlebensmodus.

Auch heute ist es nicht anders. Aber heute verabschiede ich mich von mir selbst. Von meinem alten Selbst.

Kenan und seine Geschwister warten bereits mit ernsten Gesichtern an der Tür. In einer halben Stunde treffen wir Am. Während ich in der Tür zu meinem Schlafzimmer stehe, überkommt mich Wehmut. Egal wie traurig und leer es auch aussieht – das war für eine Weile mein Zuhause.

Es wird nicht lange leer bleiben. Eine Familie, die ihr eigenes Haus verloren hat, wird vielleicht hier Unterschlupf suchen. Falls das Militär die Altstadt von Homs stürmt, werden stattdessen die Soldaten alles hier plündern. Ich versuche, diesen Gedanken zu verdrängen.

Ich schlendere durch das Wohnzimmer und bleibe vor Laylas Gemälde stehen. Im Schatten sehen die Wellen echt aus, als schlügen sie gegen die Ränder des Rahmens, und mir kommt eine Geschichte in den Sinn.

»Lasst uns gehen«, sage ich und drehe mich auf dem Absatz um, ehe mein Mut mich verlässt.

Wir gehen nach draußen, unseren gesamten Besitz in unseren Rucksäcken, und ich schließe die Tür.

»Leb wohl«, flüstere ich und drücke einen Kuss auf das blaue Holz.

Kenans Hand gleitet in meine. »Wir werden zurückkommen.«

Ich nicke.

Lama geht zwischen Kenan und Yusuf, und gemeinsam folgen wir der Straße, begleitet vom Abschiedsgruß der Vögel.

Die Khalid-Moschee ist zehn Minuten entfernt. An der zweiten Kreuzung biegen wir in die Straße ein, die weg vom Krankenhaus führt, und ich versuche, mir jeden Baum und jedes verlassene Haus genau einzuprägen. Ab und zu ist die Flagge der Revolution zu sehen, die jemand auf die Metallpfeiler einer Garage oder auf eine Mauer gesprüht hat. Die friedliche Stille dieser letzten Momente wird nur durchbrochen von den Gesprächen der Menschen vor dem Supermarkt und der FSA-Soldaten, die durch die Straßen patrouillieren. Ihre Anwesenheit beruhigt mich, und ich murmle ein Gebet für sie – für ihren Mut, ihre Tapferkeit, ihre Liebe zu ihrem Land – und bitte darum, dass Gott ihnen den Sieg schenken möge.

Zwischen zahlreichen eingestürzten Gebäuden steht die Khalid-Moschee, und wir treten vorsichtig näher, über rissigen Asphalt und lose herumliegende Kabel. Aus der Nähe erkenne ich die angesengten Wände und zerbrochenen Scheiben der Moschee ebenso wie die kaputten Stufen vor dem Eingang. Die Tür ist leicht angelehnt, und im Inneren sind die grünen, dick verstaubten Teppiche zu sehen, auf denen sich ein paar Männer zum Gebet niedergelassen haben.

»Wie spät ist es?«, fragt Kenan. Yusuf und Lama sitzen auf den Stufen und lassen die Beine baumeln. Yusuf flüstert seiner Schwester etwas zu, und sie rückt näher an ihn heran, um ihn zu verstehen, und nickt dann.

»Noch eine Viertelstunde«, antworte ich. Ich bin nervös und versuche, mich auf Kenans Gesicht zu konzentrieren und seine blauen Flecke zu zählen. Es sind ungefähr sieben und sein linkes Auge hat die Farbe einer Pflaume angenommen. Seine Schultern sind gebeugt, und sein Blick wandert unruhig hin und her, als präge er sich das Blau des Himmels ein.

»Kenan.« Ich greife nach seiner Hand und ziehe ihn zu mir heran.

Die Traurigkeit und Verzweiflung stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihn trösten soll. Ich fühle denselben Schmerz, also umarme ich ihn einfach nur und schmiege meinen Kopf unter sein Kinn.

»Syrien wird in unserem Herzen weiterleben«, flüstere ich. »Für immer.«

Er drückt mich und küsst meinen Hijab.

Wir bleiben eine ganze Weile so stehen und starren auf unsere Stadt. Die fünfzehn Minuten verstreichen langsam. Männer gehen in der Moschee ein und aus, und mit jeder Minute werde ich angespannter. Was, wenn Am nicht auftaucht? Was, wenn ihm etwas passiert ist?

Wenn er nicht kommt, können wir vier auch gleich hier unser eigenes Grab schaufeln.

Doch all meine Befürchtungen lösen sich in Luft auf, als ich das leise Geräusch eines herannahenden Autos höre. Es ist ein alter grauer Toyota, über und über mit Schlamm bespritzt, dessen Scheiben dringend gewaschen werden müssten. Selbst aus der Entfernung kann ich Am hinterm Steuer erkennen. Er fährt auf uns zu und hält an.

»Rein mit euch.« In seinem Mund hängt eine Zigarette. »Wir haben nicht viel Zeit, und wir sind schon fünf Minuten zu spät dran.«

»Du meinst, du bist fünf Minuten zu spät dran«, gebe ich zurück und verschränke die Arme.

Er funkelt mich an. »Willst du dich beschweren oder willst du los? Steigt hinten ein, und …« Er hält inne und zählt nach. »Wo ist Layla?«

Meine Augen brennen, und mit einem flauen Gefühl im Bauch weiche ich seinem Blick aus. Ams Gesichtsausdruck verdüstert sich.

»Also eine Überfahrt und Bezahlung weniger«, sagt er. Auch wenn keinerlei Vorwurf in seiner Stimme liegt, würde ich ihm trotzdem am liebsten ins Gesicht schlagen.

Kenan legt mir die Hand auf die Schulter und nickt mir zu. Vorsichtig öffne ich die Tür. Yusuf steigt als Erster ein, dann Lama, dann Kenan. Ich quetsche mich dazu, und Lama setzt sich auf Kenans Schoß, um mir Platz zu machen. Wir lassen den Beifahrersitz leer, um möglichst nah zusammenzubleiben.

Am setzt den Wagen zurück und schaut in den Rückspiegel. Er fährt los, und während ich aus dem Fenster schaue, zittert mein ganzer Körper aufgeregt und traurig zugleich. Wir kommen durch enge Gassen und nähern uns der Grenze des Territoriums der FSA.

»Hast du dir die blauen Flecken eingefangen, als das Militär das Krankenhaus gestürmt hat?«, fragt Am Kenan und wirft ihm einen Blick über den Rückspiegel zu.

»Ja«, antwortet Kenan und klingt schuldbewusst.

»Ist das ein Problem?«, frage ich und drücke Kenans Hände ganz fest.

Am lenkt mit einer Hand und ascht mit der anderen ab. »Wäre besser, wenn er sie nicht hätte, aber solange sie ihr Geld bekommen, werden die Grenzposten keine Probleme machen. Der erste Grenzübergang kommt in ein paar Minuten.«

Meine Muskeln spannen sich an und mein Herz schlägt schneller. Ich schaue zu Kenan und sehe die gleiche Angst in seinen Augen. Selbst wenn Am noch nie zuvor angehalten wurde, heißt das noch lange nicht, dass es heute nicht doch passiert. Menschen ändern ihre Meinung. Vielleicht hat der Soldat, mit dem Am eine Vereinbarung hat, keine Lust mehr auf den Deal.

Endlich verlassen wir die Altstadt von Homs und passieren auf dem Weg einen Panzer, der mit der Flagge der Revolution dekoriert ist. Ein paar Meter weiter taucht der Grenzübergang auf, erkennbar an den vielen Soldaten und der langen Autoschlange davor. Je näher wir kommen, umso lauter werden die Stimmen. Schreie sind zu hören und vorsichtig schaue ich mich um. Ich habe Angst, dass selbst die kleinste Bewegung verdächtig wirken könnte. Am reiht sich am Ende der Schlange ein, und durch das Fenster kann ich beobachten, wie drei Soldaten auf einen Mann eintreten, der am Boden liegt. Jeder Tritt versetzt mir einen Schreck, und auch der Druck von Kenans Hand wird fester.

»Guck nicht hin«, flüstert er, und ich reiße meinen Blick los. Meine Augen bohren förmlich Löcher in meine Knie. Ich kann den Mann noch immer schreien hören, und meine Kehle schnürt sich zu.

Bitte, Gott, wenn wir es nicht hier rausschaffen, mach, dass sie uns nicht verhaften. Bitte, lass sie uns umbringen, bete ich.

Am hält vor einem Soldaten mit dunkler Sonnenbrille an. Seine schwarzen Haare sind nach hinten gekämmt, und er sieht gelangweilt aus. Am rollt das Fenster herunter. »Morgen, wie läufts?«, sagt er.

»Ganz okay«, antwortet der Soldat, legt den Kopf zur Seite und schaut zu uns auf die Rückbank.

Ich kann seinen Blick spüren und starre auf meine Knie. Ich traue mich nicht, zu Kenan und seinen Geschwistern hinüberzuschauen, um zu sehen, ob auch sie nur nach unten starren.

»Mach das hintere Fenster auf«, sagt der Soldat, und Am lacht nervös.

»Ist das wirklich nötig? Wir …«

»Aufmachen!«, keift der Soldat. Langsam lässt Am das Fenster herunter.

Mein Herz schlägt mir bis in den Hals. Der Soldat legt beide Arme auf dem geöffneten Fenster ab. Ich kann hören, wie sein Gewehr gegen das Dach klopft, und der Schnitt an meinem Hals beginnt zu brennen.

»Wo wollt ihr hin?«, fragt er, und wir alle erstarren.

Ich räuspere mich, und noch ehe ich antworten kann, sagt er: »Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche.«

Seine Stimme klingt ruhig, doch die Aggression ist deutlich zu spüren. Langsam wende ich mich zu ihm.

»Tartus«, antworte ich mit brüchiger Stimme.

Er grinst belustigt. »Tartus? Und was wollt ihr da?«

Er spielt Katz und Maus mit uns und beobachtet, wie der Schweiß mir über die Schläfen rinnt.

»Familienbesuch«, sage ich und hoffe, dass er meine Lüge nicht durchschaut.

Er entblößt die weißen Zähne in einem hämischen Grinsen. »Familienbesuch also«, sagt er, als teilten er und ich ein Geheimnis. Er starrt mir direkt in die Augen und wartet darauf, dass ich zusammenzucke. Doch ich halte seinem Blick stand. Endlich richtet er sich an Kenan. »Und was ist mit dir passiert?«

Ich schließe kurz meine Augen. Bitte, mach, dass sie uns töten.

Kenan hebt stolz den Kopf. Ich drücke seine Hand und flehe ihn stumm an, nichts zu sagen. »Wurde überfallen«, sagt er mit gezwungener Höflichkeit.

»Haben dich ganz schön erwischt«, sagt der Soldat.

Kenans Kiefer krampft sich zusammen. »Ja.«

»Bist du sicher, dass du nicht demonstrieren warst und bekommen hast, was du verdienst?«, fragt der Soldat unvermittelt, und beinahe bleibt mein Herz stehen. Auch Yusuf und Lama sind nun völlig erstarrt. Selbst Am hat sich aufgesetzt.

»Ich würde niemals Kriminelle in meinem Auto mitfahren lassen«, sagt er, als sei der Gedanke allein eine Beleidigung.

Kenans Gesichtsausdruck ist völlig leer, doch ich kann seine Anspannung fühlen. »Ja, ich bin sicher.«

»Wie wäre es, wenn ich eure Taschen durchsuche, um sicherzugehen, dass ihr keine Staatsfeinde seid?«, fragt der Soldat.

Wir haben nichts dabei, was uns verdächtig macht, doch das spielt für ihn keine Rolle. Wenn er will, kann er behaupten, die Zitronen seien Handgranaten. Oder auf dem USB-Stick mit den Familienfotos wären geheime Dokumente.

Aber ich weiß genau, was er da tut. Folter ist nicht immer nur körperliche Gewalt.

Mit zitternder Hand hebe ich meine Tasche hoch und überlasse mich meinem Schicksal.

Ich werde das Mittelmeer nie zu Gesicht bekommen.

Er nimmt mir die Tasche ab, öffnet den Reißverschluss und schüttelt den gesamten Inhalt zu Boden. Zum Glück sind mein Pass, mein Zeugnis und das Gold in der kleinen Innentasche verstaut. Er kommentiert nicht, wie seltsam mein Gepäck für einen Familienbesuch ist. Er weiß genau, wohin wir fahren.

»Alles in Ordnung«, sagt er gelangweilt und lässt die Tasche auf den Boden fallen. »Sammel deinen Kram ein.«

Ich werfe Kenan einen Blick zu, öffne die Tür und beuge mich hinunter, um meine verstreuten Sachen aufzuheben.

Die Erniedrigung brennt auf meinem Körper. Meine Jeans ist dreckig und die Kiesel bohren sich in meine Hände. Eine Zitrone ist unter das Auto gerollt. Ich greife danach, richte mich auf und versuche fieberhaft, den Hass in meinen Augen zu unterdrücken. Der Soldat legt einen Arm auf die offene Tür und mustert mich von Kopf bis Fuß. Übelkeit kriecht mir die Kehle hoch.

Vorsichtig setze ich mich zurück ins Auto, woraufhin er die Tür so laut zuschlägt, dass wir alle zusammenzucken.

»Gib mir das Geld«, fordert er Am auf, und der lässt sich nicht zweimal bitten.

Der Soldat zählt die Scheine und steckt sie sich in die Brusttasche. Er greift mit der Hand durch das offene Fenster und zupft an meinem Hijab, bis meine Ponyfransen herausfallen.

»Ohne würdest du hübscher aussehen.« Er grinst, legt den Kopf zur Seite und wartet auf meine Antwort. Ich kann spüren, wie Kenan sich windet, und weiß, dass ihm gleich der Kragen platzt, wenn ich nicht sofort etwas unternehme.

»Danke«, sage ich einfach nur, obwohl ich dem Soldaten am liebsten die Augen ausgekratzt hätte.

»Viel Spaß bei eurem … Familienbesuch.« Und damit klopft er auf das Autodach und lässt uns fahren. Am tritt aufs Gas, die Reifen quietschen und wirbeln hinter uns Staub auf. Sobald wir uns weit genug entfernt haben, atmen wir allesamt auf, und zitternd schiebe ich meine Ponyfransen wieder unter meinen Hijab.

»Geht es dir gut?«, fragt Kenan sofort. Ich nicke mit geschlossenen Augen und lege den Kopf an seine Schulter.

»Alles okay«, flüstere ich. »Hauptsache, wir sind bald hier weg.«

»Das war knapp«, sagt Am und zieht eine weitere Zigarette aus der Tasche.

»Wie viele Grenzübergänge sind es noch?«, frage ich und sauge Kenans Zitronengeruch ein.

»Fünfzehn oder zwanzig.«

Kenan atmet hörbar ein, und ich stöhne.

»Keine Sorge. Das hier ist normalerweise der Schwierigste, weil es der Erste hinter der Stadtgrenze ist. Die anderen sind näher beieinander und … etwas lockerer.«

Beinahe hätte ich seinen wenig überzeugenden Ton mit einem Schnaufen kommentiert, kurble dann jedoch nur das Fenster hoch, um keine Erkältung zu riskieren.

»Warum hast du nie versucht, zu fliehen?«, frage ich Am ganz direkt.

»Geht dich nichts an.«

Ich starre ihn durch den Rückspiegel an, und er starrt zurück.

»Ich verdiene hier gutes Geld, okay? Das Fluchtgeschäft boomt.«

Ich werfe ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Mir egal«, murmelt er. Er weiß genau, was ich von ihm halte. »Denk, was du willst, aber es ist nun mal die Wahrheit.«

Je mehr Grenzen wir passieren, umso nervöser werde ich. An einem Übergang müssen wir fast zwei Stunden warten. An einem anderen tasten sie Am nach Waffen ab und belästigen mich. Später wird auch Kenan beleidigt. Und am letzten Grenzübergang deutet der Soldat an, dass er Lama, und nur Lama, mitnehmen wird.

»Sie ist sehr hübsch für so ein junges Mädchen«, sagt er und Kenans Gesicht wird kreidebleich.

Lama drückt sich an Kenan und ihre dünnen Ärmchen zittern.

Am gelingt es, den Soldaten mit ein paar Fragen zur syrischen Wirtschaft abzulenken, und schließlich lässt er uns durch. Am schaut durch den Spiegel auf die Rückbank.

»Alles okay?«, fragt er Lama, die sich in Kenans Schoß zusammenrollt und sich fest an ihn drückt. Er zittert und umarmt sie so fest, als hinge sein Leben davon ab. In Ams Blick liegt Mitleid. Lama ist ungefähr so alt wie Samar.

Nach dieser letzten Grenze fahren wir noch eine Stunde ohne Unterbrechung, bis wir endlich Tartus erreichen. Durch das offene Fenster kann ich das Meer riechen, noch ehe ich es sehe.

Das Mittelmeer.

Und auf der anderen Seite: Sicherheit. Keine Freiheit. Die Freiheit lasse ich hier zurück. Als ich aus dem Auto steige, kann ich die Trauer der Erde spüren. Die traurigen Gräser umschlingen meine Knöchel und wollen mich zum Bleiben zwingen. Sie murmeln Geschichten über meine Vorfahren. Die genau hier standen, wo ich jetzt stehe. Die Entdeckungen gemacht haben, die die ganze Welt geprägt haben. Deren Blut durch meine Adern rinnt. Meine Fußabdrücke sinken tief in den Boden ein, in dem die meiner Vorfahren schon längst vom Meer weggespült worden sind. Sie flehen mich an: Dies ist dein Land. Dieses Land gehört zu mir und meinen Kindern.

Ich gehe ein paar Schritte auf das Meer zu, atme tief die salzige Luft ein und spüre, wie sie mich reinigt.

Das Mittelmeer ist heute wütend. Ein Sturm braut sich über den Wellen zusammen. Ich kann sehen, wie er sich windet, und höre sein Grollen. Die Stimmen derjenigen dringen an mein Ohr, die vor mir an dieser Küste entlanggegangen sind, die Steine in die Fluten geworfen und versucht haben, zu verstehen, was hier seit mehr als fünfzig Jahren passiert.

»Das Boot ist gleich dahinten«, sagt Am und ich folge seinem Blick. Hätte ich irgendwelche Erwartungen gehabt, wären sie genau jetzt in sich zusammengefallen.

Diesen Witz ein Boot zu nennen, wäre mehr als übertrieben. Irgendwann muss es mal weiß gewesen sein, aber jetzt ist es schmutzig und zerbeult. Rostige Flecken verschleiern seine echte Farbe. Es schaukelt unschuldig am Ufer vor sich hin. Und auch wenn ich keine Expertin bin, so klingeln doch längst sämtliche Alarmglocken. Zuallererst ist da die riesige Menschenmenge, die sich bereits auf dem Boot befindet. Ich kann ein Baby schreien hören und ein anderes stimmt mit ein. Eine falsche Bewegung, denke ich, und es kippt um.

»Gerade noch rechtzeitig«, sagt Am, öffnet den Kofferraum und holt vier Rettungswesten heraus. Sie sind identisch mit denen, die die anderen Leute auf dem Boot tragen. Orange, sodass wir gut sichtbar sind. Er wirft sie den Kindern zu.

»Was zum Teufel ist das, Am?«, frage ich, als ich meine Stimme wiederfinde.

Kenan steht vollkommen still neben mir, den Blick auf das Boot geheftet.

»Was denn?« Er schnallt Lamas Schwimmweste fest zu.

»Was soll das heißen, was denn?«, stoße ich wütend hervor. »Das ist ein verdammtes Fischerboot, oder?«

»Ja und?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Fischerboote nicht dafür gedacht sind, ein kleines Dorf zu transportieren! Da sind viel mehr Menschen drauf, als das Boot tragen könnte!«

»Hast du ein Kreuzfahrtschiff erwartet?« Er dreht sich zu mir um und wirft mir die Schwimmweste zu. »Tut mir leid, wenn das deinen Ansprüchen nicht genügt, Eure Majestät!«

»Du weißt genau, was ich meine! Das Boot ist eine tickende Zeitbombe!«

»Keine Sorge, das geht schon«, sagt er mit fester Stimme. »Das ist nicht die erste Überfahrt, die es macht. Es ist schon unzählige Male hin- und hergefahren.«

Hilflos schaue ich Kenan an. Was sollen wir tun?

Hinter ihm erstrecken sich die Berge von Tartus. Und dahinter? Die Hölle. Und der Tod.

»Wenn wir bleiben, sterben wir«, sagt Kenan leise. »Und wenn wir gehen, sterben wir vielleicht.«

Wir können nicht bleiben. Womöglich kommen wir nicht einmal nach Homs zurück.

Lieber ertrinke ich.

»Das Boot wird ohne euch ablegen«, sagt Am.

Ich schaue meine Schwimmweste an, ehe ich sie überstreife und dann Kenan helfe, seine anzuziehen. Er drückt seine Stirn gegen meine und legt mir die Hand in den Nacken.

»Hab Vertrauen, mein Liebling«, flüstert er.

Ich umklammere seine Handgelenke und nicke. Kenans Augen füllen sich mit Tränen, als er ein letztes Mal auf die Berge von Tartus schaut.

»Wir sind so weit.« Ich wende mich an Am und atme hörbar ein.

»Das Geld und das Gold«, sagt er. Ich nehme es aus der Tasche und überreiche es ihm, jedoch ohne den Ring.

Leise zählt er das Geld und steckt es dann in seine Brieftasche.

»Also gut, geht.« Er scheucht uns in Richtung Boot.

»Einfach so?«, frage ich.

»Ja.« Er steigt zurück in sein Auto und lässt den Motor an. »Der Kapitän hat mich gesehen, und ihr kommt nicht mit mir zurück, also weiß er, dass ihr bezahlt habt. Los!«

Ich versuche, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Das alles klingt zu … einfach?

Als wir uns nicht rühren, seufzt Am und murmelt ein Gebet, dass Gott ihm Geduld schenken möge. »Salama, vertrau mir. Ich verspreche dir beim Leben meiner Tochter, dass das Boot euch nach Europa bringt. Los!«

Wenn ich Am irgendetwas glaube, dann einen Schwur auf das Leben seiner Tochter.

»Natürlich gäbe es fast keine Tochter mehr, auf die ich hätte schwören können, weil du sie beinahe hättest sterben lassen. Gott bewahre, dass sie dich je wieder arbeiten lassen«, murmelt er, doch ich höre ihn trotzdem. Ich schließe die Augen und atme tief ein.

Dann drehe ich mich um und marschiere direkt auf ihn zu. Er hält inne.

»Ich weiß, dass ich fast dein Leben zerstört hätte«, sage ich. »Aber du hast mich bis aufs Blut ausgesaugt. Du bist kein Heiliger und ich auch nicht. Aber wenigstens bereue ich, was ich getan habe.«

Ohne seine Antwort abzuwarten, wende ich mich wieder von ihm ab. Wenige Sekunden später höre ich den Wagen wegfahren.

»Lasst uns gehen«, sage ich zu Kenan, Yusuf und Lama. Kenan fährt sich mit der Hand über die Augen und wendet den Blick von den Bergen ab. Weg von Laylas Grab. Von Mama und Baba und von Hamza.

Ich nehme Lama bei der Hand und Kenan greift nach Yusufs. Die Wellen schlagen gegen unsere Waden, während wir auf das Boot zugehen, als wollten sie uns warnen. Aber wir hören nicht auf sie. Wir weigern uns, auf sie zu hören.