37. KAPITEL

Delilah

Zwei Monate später …

Ich klappe meinen Laptop zu und schließe mein Lehrbuch. Ich habe fünf Stunden durchgehend an dieser Facharbeit gesessen, und langsam wird mein Blick verschwommen von zu viel Zeit vor dem Bildschirm.

Es sind sechs ganze Schritte durch meine Einzimmerwohnung, dann bin ich bei dem Fenster der Kitchenette und öffne es, um etwas frische Luft hereinzulassen. Ich sehe ein paar Studenten über den Gehweg schlendern, Taschen über der Schulter, lachend und plaudernd. Es ist nicht richtig, dass ich mich in diesem kleinen Apartment verkrieche, wenn es Herbst ist in Chicago und das Wetter wunderbar schön ist.

Ich sollte ein wenig frische Luft schnappen. Vielleicht hilft mir das dabei, mich zu konzentrieren. Und mich wieder wie ein Mensch zu fühlen.

Ich schnappe mir eine Flasche Wasser, meine Sneaker und das Handy, und dabei sehe ich eine verpasste Textnachricht von meiner älteren Schwester Demi, zusammen mit einem Screenshot ihres Fernsehers. Es ist verschwommen, und ich kann das Foto kaum erkennen, aber es sieht aus, als würde sie ESPN schauen.

Ich tippe auf den Bildschirm, rufe sie an, und sie hebt schon beim zweiten Läuten ab.

»Oh mein Gott, Delilah. Hattest du nicht einige Dates mit Zane de la Cruz?« Demi spricht schnell und aufgeregt.

»Es waren keine Dates «, antworte ich. »Aber was ist mit ihm?«

»Schalte ESPN ein«, sagt sie. »Da läuft ein Special über Lokalhelden oder so. Ich saß hier mit Royal und habe bei Sports Center weggehört wie immer, doch dann hörte ich, wie sie seinen Namen nannten. Wusstest du, dass er jetzt in Chicago ist? Er spielt für die Chicago Thunder.«

Ich bin zu Stein erstarrt und stehe einfach nur da, unfähig, mich zu rühren. Das Handy gleitet mir aus der Hand, aber ich kann es noch auffangen, bevor es auf den Boden fällt.

»Schalte den Fernseher an«, drängt Demi. »Die Sendung hat erst vor etwa fünf Minuten angefangen.«

Mit schwitzenden Händen und Herzklopfen werfe ich die Sofakissen auf meiner Couch hin und her, bis ich die darunter vergrabene Fernbedienung finde. Ich weiß nicht einmal, auf welchem Kanal ESPN läuft, oder ob ich den Sender überhaupt empfange, aber ich zappe durch die Kanäle, als würde mein Leben davon abhängen.

Gefunden.

Die Kamera schwenkt über ein Footballfeld, auf dem Männer in Schwarz und Grau Trainingsübungen machen, und richtet sich dann auf Kopf und Schultern von Zane, der gerade interviewt wird.

Er lächelt, und seine Grübchen sind so deutlich wie zuvor, und alles um mich herum verschwindet in weite Ferne. Ich sehe ihn, und nur ihn.

Ich drücke meine Schwester weg, und im Lauf der nächsten Stunde verliebe ich mich wieder von Neuem in ihn. Und als die Sendung vorbei ist, tut mir das Herz weh. Aller Schmerz, den ich in den letzten zwei Monaten mühsam verarbeitet und verdrängt habe, ist jetzt wieder aufgewühlt und an die Oberfläche gekommen.

Die Tatsache, dass er in derselben Stadt ist wie ich …

»Es ist gut, zu Hause zu sein.« Seine Stimme erfüllt mein Apartment, und er blickt direkt in die Kamera.

Ich schaue die Doku zu Ende, merke dann erst, dass ich das ganze Ding auf der Sofakante balancierend gesehen habe, völlig verkrampft, und als der Abspann kommt, sinke ich rücklings in die Kissen.

»Er ist hier«, flüstere ich laut, denn offenbar muss ich es hören, um es wirklich zu glauben. Es fühlt sich alles unglaublich surreal an.

An dem Tag, als Daphne und ich Tante Rues Sachen umzogen, hat sie mir ein Blatt Papier zugesteckt, das Zane ihr offenbar gegeben hatte. Zu dem Zeitpunkt war ich zu verletzt, um es mir anzusehen, also legte ich es achtlos auf Rues Geschirrschrank im Esszimmer. Später am Nachmittag, als die Möbelpacker weg waren, war die Nachricht verschwunden.

Ich hatte nie die Chance, sie zu lesen.

Und die folgenden Wochen hatte ich damit verbracht, mir einzureden, dass es sowieso nichts geändert hätte.

Ich machte weiter.

Wir waren Geschichte.

Ich hole mein Handy heraus und starte eine schnelle Suche. Es gibt nicht viele detaillierte Informationen, aber soweit ich erkennen kann, haben die Cougars irgendeinen Anfänger aus Texas als Runningback unter Vertrag genommen und Zane kurz nach Beginn der Trainingssaison aus dem Vertrag entlassen. In letzter Minute hatte der Runningback der Thunder einen Kreuzbandriss beim Training, und sie nahmen Zane.

Ich lege mich hin, rolle mich mit einem Kissen ein, schließe die Augen und spiele im Geiste jede Erinnerung durch, die ich festgehalten habe. Die bitteren. Die süßen. Das herzzerreißende Ende, das ich so gar nicht hatte kommen sehen.

Hier in Chicago fühlte ich mich sicher. Ich dachte, ich sei Welten entfernt … von ihm. Und jetzt werde ich bei jedem Schritt über die Schulter blicken, mich fragen, ob ich ihm vielleicht begegne, und wie besessen darüber nachdenken, was ich wohl sage, sollten wir uns je wiedersehen.

Ich wälze mich in einem hemmungslosen Pool bittersüßer Erinnerungen, kneife fest die Augen zu und rufe dann ein Selfie auf meinem Handy auf. Es stammt von dem Abend, als wir uns in seinem Garten das Feuerwerk zum Vierten Juli ansahen. Wir lächeln, glücklich und in seliger Unwissenheit dessen, was kommen sollte.

Es war einmal, dass wir im Moment lebten.

Und ich will zugeben, dass ich von Zeit zu Zeit durchaus an die Zukunft dachte.

Aber nicht einmal in meinen wildesten Träumen hätte ich mir ausgemalt, dass alles in Flammen aufgehen würde.

Mit jeder Sekunde treibe ich in etwas, von dem ich hoffe, dass es ein wohltuendes Nickerchen ist. Ich muss allem ein wenig entfliehen. Meinen Verstand zur Ruhe bringen. Meine Gedanken zum Schweigen bringen. Und ich bin fast schon so weit …

Klopf, klopf, klopf.

Ein kurzes Zischen durchfährt mich, jagt durch meinen Oberkörper und breitet sich bis in meine Fingerspitzen aus. Ich bekomme keine Luft.

Leise durchquere ich auf Zehenspitzen mein winziges Apartment, spähe durch den Türspion …

… und öffne die Tür.

»Hey, Hayden«, sage ich. »Komm rein.«