Wenn wir einander wirklich nahekommen, dann über die Haut, unsere bis zu zwei Quadratmeter große und bis zu zehn Kilogramm wiegende Hülle – und damit unser schwerstes Organ. Mit ihm treten wir in Kontakt zur Außenwelt. Die Haut sei ein »Kommunikationsmedium ersten Ranges« und ihr Zustand ein sichtbares Zeichen dafür, wie es einem Menschen gehe, befindet der österreichische Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut Manfred Stelzig, Chefarzt der Abteilung für Psychosomatische Medizin der Uni-Klinik Salzburg. »An der Haut kann man Entspannung und Wohlbefinden ablesen, aber auch Wut, Ärger und Scham.«23
Sieben bis fünfzig Rezeptoren pro Quadratzentimeter Haut empfangen Sinneseindrücke wie Kälte, Wärme, Schmerz und Druck. In gewissem Sinne sind diese Sinneszellen die Vorposten des Hirns, mit dem die Haut ohnehin mehr gemeinsam hat als den gleichen Anfangsbuchstaben. »Die Kommunikation der Haut mit dem Gehirn und den Nerven des Menschen wird dadurch gewährleistet, dass sowohl die Haut als auch die Nerven und das Gehirn während der Embryonalentwicklung aus dem gleichen Keimblatt entspringen, dem sogenannten Ektoderm«, berichtet der Hautarzt Uwe Gieler, der die Abteilung Psychosomatische Dermatologie an der Uni-Klinik Gießen leitet. Deshalb sei es »verständlich, warum nicht selten Krankheiten beide Organsysteme betreffen: das Zentrale Nervensystem und die Haut«.24 Die allseits bekannte Gänsehaut – auslösbar durch Kälte oder einen Windhauch, aber eben auch durch Angst und andere Formen innerer Erregung – bezeichnet Gieler als »schönes Beispiel« für die »enge Verknüpfung« der Haut mit unserer Psyche.
So wird unsere Körperhülle zum Spiegel der Seele. Bei Menschen mit psychischen Problemen kommen Hautkrankheiten deutlich öfter vor als bei Gesunden.25 »Bei etwa 30 Prozent der Hautpatienten spielen seelische Faktoren eine Rolle«, sagt Wolfgang Harth, Chefarzt der Klinik für Dermatologie und Allergologie am Vivantes-Klinikum in Berlin-Spandau. Auch bei Gesunden drückt die Haut viel über das Wohlbefinden oder den Körperzustand aus. Ungeschminkt sagt sie die Wahrheit – oder verrät doch wenigstens einen Teil davon.
Kein Wunder auch, dass die Haut ähnlich wie das Herz in etlichen psychosomatisch geprägten oder sinnbildlich gemeinten Redensarten auftaucht. Peinlichkeiten treiben dünnhäutigen Menschen die Schamesröte ins Gesicht, Ärger geht unter die Haut, außer wir sind dickfellig genug, Verstörendes an uns abprallen zu lassen – wenn auch nicht selten um den Preis, dass alles Verdrängte uns verspannen lässt und chronische Rücken-und Nackenschmerzen verursacht. Das wiederum kann uns so wütend machen, dass wir am liebsten aus der Haut fahren würden. Viele Menschen fühlen sich tatsächlich so unwohl in ihrer Haut, dass sie sich gerne schlangengleich häuten würden; sie wollen raus aus ihrer Haut.
Dass wir, vom Verdauungstrakt einmal abgesehen, mit keinem anderen Organ so intensiv mit unserer Umwelt in Kontakt kommen wie mit unserer Außenhülle, zeigt der Wunsch, etwas Schönes hautnah zu erleben – vielleicht ja einen Menschen, den man mit Haut und Haar lieben kann.
Bisweilen wird uns auch bewusst, wie wichtig dieses oft ruppig behandelte Organ ist – so etwa bei Bränden: Dann wollen wir nur noch unsere Haut retten und hoffen, mit heiler Haut davonzukommen. Werden wir hingegen tätlich angegriffen, müssen wir uns unserer Haut erwehren – meist natürlich im übertragenen Sinne. Erst danach können wir wieder entspannt auf der faulen Haut liegen.
Fachleute wundern sich nicht über diesen schon im Mittelalter aufgekommenen Hang des Volksmundes zur Leibeshülle — und zwar aus zwei Gründen. Erstens: »Die Haut steht in diesen Redensarten als Teil für ein Ganzes, für die gesamte Persönlichkeit; der Mensch wird als gute, böse, schäbige, brave oder ehrliche Haut bezeichnet«, meint der Dermatologe Klaus-Michael Taube, leitender Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Hautkrankheiten der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Und wenn man die eigene Haut zu Markte trägt — noch im frühen 19. Jahrhundert gleichbedeutend damit, etwas auf eigenes Risiko zu tun26 –, »geht mit ihrem Verlust sozusagen gleich das ganze Leben oder das Wesen der jeweiligen Person verloren.« Hoffentlich hat man dann wenigstens seine Haut teuer verkauft, sich also nach Kräften gewehrt.
Der zweite Grund: »Die Haut ist das Abgrenzungsorgan zur Umwelt – jenes Organ also, an dem das Ich seine Grenze zur Außenwelt zieht«, sagt Taubes Fachkollege Uwe Gieler. »Alle anderen Organe sind versteckt, nicht sichtbar.« Deshalb hätten die Menschen schon früh versucht, Erklärungen für augenfällige Vorgänge auf der Haut zu finden. Oder sie empfanden ihre Grenze zur Außenwelt als nicht schützend genug. Die noch nie oder nicht mehr verlässliche Schutzschicht kommt sehr deutlich in Ausdrücken wie »dünnhäutig« oder »es geht mir unter die Haut« zum Vorschein. »Die schützende Grenze hält in diesen Fällen der Außenwelt nicht mehr stand«, fügt Gieler hinzu.
Doch mit der Haut ziehen wir – bildlich gesprochen – nicht nur eine Grenze zur Außenwelt; wir kommunizieren über sie auch mit dieser. Begegnen wir einem Menschen zum ersten Mal, bestimmt vor allem die Körperhülle darüber, wie unser erster Eindruck ist – wobei wir ein sehr vordergründiges Urteil fällen. »Die Schönheit der Haut ist nichts mehr und nichts weniger als die Gesundheit der Haut, eine reine Anspiegelung der inneren Harmonie des Körpers in seine Oberfläche«, schrieb bereits der deutsche Mediziner Christoph Wilhelm Hufeland (1762 — 1836) im Jahr 1789 und nannte die Körperhülle kurzerhand die »sichtbare Gesundheit«.27
Für den Wissensstand zur Zeit der Französischen Revolution ist das ein bemerkenswerter Befund des Leibarztes von Preußens König Friedrich Wilhelm III. Noch heute gilt eine makellose, laut Werbung am besten »porentief reine« Haut als ungeheuer erstrebenswert – und sei sie am Ende das Ergebnis einer Retusche. Nicht umsonst gaben die Bundesbürger im Jahr 2009 rund 12,8 Milliarden Euro für Körperpflegemittel aus, gut 156 Euro pro Kopf. Nimmt man nur die reinen Hautpflegemittel, waren es immer noch rund 3 Milliarden oder fast 37 Euro pro Kopf, wobei spezielle Pflege-Cremes für die Männerhaut nicht mitgezählt sind.28
Während eine glatte und schön anzuschauende Haut als Ausdruck allgemeiner Gesundheit und Attraktivität gilt, werde eine erkennbar leidende »oft mit Krankheit und Attraktivitätsverlust verbunden und löst somit Gefühle von Ablehnung, Unsicherheit und Ekel aus«, urteilen die Psychologen Franz Petermann, Petra Warschburger und Judith Bahmer in einem Fachbeitrag.29 Für die Träger der geschmähten Haut ist das nicht selten ein schweres Los.
Beim früher üblichen Hallo bleibt es heutzutage oft nicht, wenn Menschen – jüngere zumal – einander begegnen. Ein Küsschen links, ein Küsschen rechts, und manchmal folgt auch noch ein drittes. Doch wirklich herzlich sehen solche Begrüßungen eher selten aus. Ob sich Menschen hierbei wirklich näher kommen, statt nur ein modisches Ritual zu pflegen, ist in vielen Fällen mehr als fraglich.
Die gesunde Wirkung wirklich liebevoller Hautkontakte hingegen ist längst erwiesen. Sie beruhigen und stehen im Ruf, die Abwehrkräfte zu stärken. »Durch Berührungen werden sowohl das Bindungs- und Wohlfühlhormon Oxytocin als auch körpereigene Opiate vermehrt ausgeschüttet«, sagt Konrad Stauss, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrie und Neurologie. Zudem setze die Nebennierenrinde dann deutlich weniger von dem Stresshormon Cortisol frei.
Womöglich sind Massagen in einer eher berührungsarmen Kultur wie der unsrigen auch deshalb so beliebt. Und auch Körpertherapien, die »mit behutsamen Berührungen arbeiten, haben einen positiven Einfluss – speziell bei Hautkranken, die oft über einen Mangel an Körperkontakt zu anderen Menschen klagen und sich auch selbst nur noch wenig berühren mögen«, kann der Hautmediziner Uwe Gieler immer wieder feststellen. In seinem Stationsbereich arbeiten Körpertherapeuten deshalb mit sanften Berührungen und mobilisieren dadurch bisweilen »alte Erfahrungen mit Berührungsmangel, die so überhaupt erst besprechbar werden«.
Dass ein Zuwenig an Berührungen in früher Kindheit lebenslänglich unter die Haut gehen kann, deuten auch Befragungen der Gießener Dermatologen bei über 2.000 Bundesbürgern an, unter ihnen rund 200 Hautkranke. Letztere konnten sich auffallend seltener an Berührungen durch ihre Eltern erinnern. Zudem geht aus den Fragebogen-Analysen hervor, dass Menschen mit einem solchen Hautkontaktmangel häufiger sexuelle Probleme beklagen. Für Gieler ist das kein Wunder, denn »nur durch die Berührung der Haut erlangen wir sexuelle Stimulation« – vom Hirn und seiner berührungslosen Vorstellungskraft einmal abgesehen. Zwar gibt der Hautmediziner zu bedenken, dass Fragebögen nur subjektive Hinweise lieferten, doch die Zusammenhänge von Berührungsmangel und dessen Folgeschäden erscheinen ihm plausibel.
Und nicht nur ihm. »Der Tastsinn entwickelt sich von allen Sinnen als erster, bereits wenn der Embryo noch keine drei Zentimeter groß ist«, berichtet Claudia Benthien in ihrem Buch über die Haut. Für den Säugling wie auch für das Ungeborene sei die Haut das »wichtigste Kommunikations- und Kontaktorgan«. Mit ihr entdecke der neue Erdenbürger seine Grenzen. »Diese primären Erfahrungen begründen die enge Verbindung von Hautempfindungen und emotionalen Zuständen. « 30 Sie bleibe ein Leben lang bestehen und spiegele sich in Wörtern wie fühlen, berühren, antasten und begreifen wider, aber auch in Ausdrücken wie ergriffen, angerührt oder betroffen sein.
Was aber, wenn nichts und niemand uns äußerlich anfasst und so im Innersten rührt? Völlig zu entbehren sei die Berührung »nur um den Preis, körperlich und seelisch auszudörren und zu verwelken«, schreibt Wilhelm Schmid in seinem Buch über die Kunst des Lebens.31 Von Geburt an sei das Berührtwerden derart entscheidend, »dass Säuglinge mit viel Hautkontakt wacher und physisch aktiver sind und schneller an Gewicht zunehmen«.
Der Berliner Philosoph berichtet von US-amerikanischen Waisenhäusern des frühen 20. Jahrhunderts, in denen sich gezeigt habe, »dass ein Mangel an Berührung ... für Kleinkinder tödlich sein kann«. Dazu, dass sich diese Grausamkeit überhaupt erweisen konnte, hätten offenbar die damaligen Vorstellungen von Sterilität und Hygiene geführt, aber wohl auch schiere Körperfeindlichkeit.
Unter dem Ausbleiben von Berührungen leiden auch viele Hautkranke. Gerade Neurodermitis- oder Schuppenflechte-Patienten beklagen die häufig stark eingeschränkten Zärtlichkeiten durch ihre Partner. »Ihnen geht es dabei im Wesentlichen gar nicht um Sex, sondern um Hautkontakt«, betont Uwe Gieler. Auch berührten sich diese Menschen weniger selbst, beispielsweise indem sie vorm Spiegel ihr Gesicht oder ihren Oberkörper streichelten, etwa beim Eincremen – buchstäblich eine Form der Selbstbehandlung.
In diesem Sinne therapieren sich praktisch alle Menschen intuitiv selbst, vor allem wenn sie müde oder angespannt sind oder Schmerzen verspüren: Sie reiben sich die Augen oder stimulieren eigene Akupressur-Druckpunkte, indem sie ihre Nasenwurzel, die Schläfenknochen oder die Ohrläppchen massieren.
Erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde Juckreiz im 17. Jahrhundert, und zwar von Samuel Hafenreffer (1587 — 1660). Der Arzt und Autor des ersten deutschsprachigen Buchs über Hautleiden nannte ihn schnöde eine »unangenehme Empfindung, die den Wunsch zu kratzen weckt«.
Nun gibt es leider juckende Krankheiten – darunter Neurodermitis, Hautpilz-Befall oder Schuppenflechte –, die besonders arg Betroffene an den Rand des Wahnsinns treiben können. »Juckreiz ist schlimmer als Schmerzen«, urteilt Uwe Gieler und erinnert an eine dies ausnutzende mittelalterliche Foltermethode: das Belecken von befeuchteten und dann mit Salz bestrichenen Füßen durch Ziegen. Der dabei auflodernde Juckreiz sei »so unerträglich« gewesen, »dass manches Pseudo-Geständnis erfolgte«.32
Von den Qualen des Juckens hätte Jean-Paul Marat (1743 – 1793) vermutlich ein tief unter die Haut gehendes Lied singen können. Der französische Arzt und Revolutionsführer verbrachte viele Stunden seines späten Lebens und seinen letzten Lebensmonat fast komplett im Badezuber, weil ihn starker Juckreiz peinigte – vermutlich als Folge von Neurodermitis oder sogenannter Skrofulose, einer inzwischen sehr seltenen chronischen Entzündung von Haut oder Lymphdrüsen. »Seit frühester Kindheit muss es ihn derart entsetzlich gejuckt haben, dass er sich nächtelang im Bett wälzte und die Haut aufkratzte, bis er blutete«, schreibt der Schweizer Schriftsteller Alex Capus in einem lesenswerten Porträt über den Leidgeprüften.
Wer an göttliche Gerechtigkeit glaubt, mag in Marats Schicksal einen Beleg dafür erkennen. Denn der Hautkranke hatte durch seine Gewaltbereitschaft selbst großes Unglück und vielfachen Tod über seine Gegner gebracht33, bevor er – im lindernden Bade hockend – von einer politischen Gegnerin ermordet wurde. Die Liebe seiner Anhänger jedoch war so weit gegangen, dass sie sich – in vollendeter Solidarität — genau wie ihr Vorbild immer wieder kratzten.34 Ob das den radikalen Revolutionär irgendwie gejuckt hat?
Diese Redensart deutet an, dass unsere seelische Befindlichkeit mit darüber entscheidet, ob und wie stark uns Juck-Attacken plagen können. »Durch eine psychische Belastung wird der Juckreiz verstärkt, typischerweise bei der Neurodermitis, deren Name schon sagt, dass bei diesem Hautleiden auch die Nerven eine Rolle spielen«, sagt der Hautmediziner Klaus-Michael Taube. »Viele davon betroffene Menschen sagen, dass ihre Haut schlechter wird, wenn sie sich unter Druck fühlen.« Umgekehrt fördern Entspannung und psychische Entlastung die Heilung der Haut. Das stimmt auch für die Akne: »Bei seelischer Anspannung treten mehr Pickel hervor«, merkt Taube an.
Vor allem Jugendliche wissen das aus leidvoller Erfahrung, denn wenige Leiden piesacken Pubertierende so sehr wie »Akne vulgaris«. Gegen deren Auftreten ist insofern kein Kraut gewachsen, als wichtige Akne-Auslöser erblich sind: einmal die hormonell verursachte Neigung zu übereifrigen Talgdrüsen, zum anderen eine Verhornungsstörung an den Haarbalgen – auch Haar-Follikel genannte Einstülpungen der Oberhaut, in welche Talgdrüsen münden und aus denen die Körperhaare hervorsprießen.
Akne juckt die ohnehin ständig um ihre Attraktivität ringenden Heranwachsenden nicht nur körperlich, sondern auch seelisch durch die empfundene Scham. »Die Haut als Visitenkarte nach außen zeigt sich von ihrer widerspenstigen Seite«, beschreibt der Salzburger Mediziner Manfred Stelzig das Akne-Ärgernis. »Sie tut nicht das, was der Hautträger sich wünscht, sie zeigt rote Flecken, Hautunreinheiten, Pusteln und eitrige Veränderungen.«35
Nicht nur können seelischer Druck und innere Konflikte die Akne aufblühen lassen oder zumindest begünstigen; die so entstehenden Pickel lädieren das Selbstwertgefühl des Betroffenen zusätzlich – ein nerviger Teufelskreis. Denn das Kratzen verschafft bekanntlich nur vorübergehend Linderung. Dem kleinen Zwischenhoch des Befindens folgten bald wieder »Schmerzen, Schuld- und Schamgefühle wegen der selbst verursachten Verschlimmerung des Hautzustandes, was wiederum einen Stressfaktor darstellt«.36
Vorsicht ist geboten, wenn im Juckreiz pauschal der Wunsch gesehen wird, Verdrängtes »endlich an die Oberfläche zu lassen«, wie es der frühere Unternehmer und Unternehmensberater Kurt Tepperwein ausgedrückt hat, eigenen Angaben nach Heilpraktiker und Lebenslehrer.37 »Wir kratzen uns am Kopf, wenn wir eine Lösung auftauchen lassen wollen, und so fordert uns der Juckreiz auf, Ungewolltes endlich zuzulassen«, urteilt der Autor zahlreicher Lebenshilfe-Ratgeber. Tepperwein zufolge steht das Kratzen »symbolisch für Graben oder Scharren, mit dem man etwas an die Oberfläche holt«. Der Juckreiz lasse nicht nach und werde »sogar noch schlimmer, wenn ich ihm nur auf der körperlichen Ebene entgegentrete«. Die Lösung müsse über das Bewusstsein erfolgen.
Natürlich kann das Jucken den davon Geplagten nicht wirklich, sondern allenfalls symbolisch dazu auffordern, sich seiner zu entledigen, indem das zugrunde liegende oder mitverantwortliche psychische Problem gelöst wird — falls es denn ein solches gibt. Seelische Konflikte können allerdings in der Tat »somatisiert« werden, sich »als körperliche Symptome darstellen« und sich »durch Juckreiz manifestieren«, sagt der Hautmediziner Wolfgang Harth. Doch sei dies stets individuell abzuklären.
Wohl wahr: Die Krätzemilbe (Sarcoptes scabiei) aus der Gattung der Grabmilben ist kein possierliches Tier; ihr Liebreiz hält sich in engen Grenzen. Wie sollte es auch anders sein bei einem nur etwa 0,4 Millimeter kleinen, schildkrötenförmigen Parasiten, dessen Weibchen mit großem Eifer seiner einzigen Bestimmung folgt: Es knabbert sich zwei bis drei Zentimeter weit durch die Oberhaut von Säugetieren und legt in dem Bohrtunnel seine Eier ab, damit seine 50 bis 170 Larven-Kinder es möglichst nicht schlechter haben als das Muttertier.
Für den Besitzer der durchlöcherten Haut hat das insofern eine Schattenseite, als die Milbenmutter nicht nur Eier, sondern auch Kot absondert, der zu allergischen Reaktionen in der Haut führt, insbesondere zu argem Juckreiz. Dieser verstärkt noch das Jucken als Folge des Tunnelbaus. Vor allem nachts, wenn die Spinnentiere bei wohliger Bettwärme am liebsten bohren und unter sich lassen, kratzt sich der Geplagte im Schlaf automatisch und erwacht morgens nicht selten mit Striemen auf der Haut.
Das treffend »Krätze« genannte Leiden ist hierzulande mitnichten historisch überwunden, sondern tritt wieder häufiger auf – schon weil die Bundesbürger von Urlaubsreisen nicht nur erwünschte Souvenirs mit nach Hause bringen. Doch auftreten kann die Krätze »überall, wo Menschen unter schwierigen hygienischen Bedingungen zusammenleben, beispielsweise in Ferienlagern oder in Pflegeheimen«, sagt Klaus-Michael Taube. Befalle haben sehr darunter zu leiden: »Der Juckreiz bei Krätze ist extrem stark«, weiß der leitende Oberarzt.
Seit Jahrtausenden gilt unreine Haut als ekelerregendes Warnzeichen für Aussatz und Geschlechtskrankheiten. Als Aussätzige wurden im Mittelalter und der frühen Neuzeit Leprakranke sowie Menschen mit Schuppen- und stark ansteckender Grindflechte (Impetigo contagiosa) bezeichnet. Wer an Kopfgrind litt, musste sich als »Grindkopf« verspotten lassen.
Doch dahinter steckt mehr als die verquere Lust, Andersartige zu verhöhnen. Die meisten Menschen ekeln sich vor Zeitgenossen mit abstoßend wirkenden Hautleiden, verziehen in deren Anwesenheit das Gesicht und rümpfen die Nase. Solche Reaktionen sind für die Betroffenen seit jeher schlimm und eine Quelle tiefer Scham gewesen.
So anziehend Ausgezogene selbst nach Jahrzehnten freizügiger Reklame noch immer wirken: Tatsächlich entblößtes Fleisch kann Grauen erregen. Denn die Bilder stark entstellter, kohlrabenschwarzer Brandopfer sind kaum zu ertragen: In Fetzen hängt hier die Haut herunter, dort schimmert blutrot das rohe Fleisch. Kein Mensch kann ohne seine Pelle überleben. »Wenn mehr als 20 Prozent der Haut beispielsweise durch eine Verbrennung zerstört sind, lässt sich diese Schutzschicht nicht schnell wiederherstellen, und der Mensch gerät durch Bakterien und den Verlust von Flüssigkeit schnell in einen lebensbedrohlichen Zustand«, berichtet der Gießener Dermatologe Uwe Gieler.48
Meist weniger drastisch sind die sichtbaren Folgen eines zu intensiven Sonnenbades, doch zerstörerisch kann auch der Sonnenbrand sein – der gängigste und gesellschaftlich weithin akzeptierte Weg, um jeden Sommer aus Teilen der Haut zu fahren. Allerdings auch ein sehr törichter, denn »zu starke UV-Bestrahlung und ein heftiger Sonnenbrand führen zu Nekrosen, einer brutalen Form des Zelltods, bei dem Narben entstehen und die betroffene Haut vorzeitig altert«, warnt der Berliner Photodermatologe Hans Meffert, ein Spezialist für Leiden, die von Licht ausgelöst oder durch Licht geheilt werden können. Ein einziger schwerer Sonnenbrand kann zu bleibenden Schäden führen. Doch für Warnungen wie diese stehen die Ohren der schmorenden Strandurlauber meist auf Durchzug.
Evolutionsbiologisch betrachtet ist die Abscheu vor Hautkranken allerdings sinnvoll gewesen. Denn viele ansteckende Krankheiten teilen sich durch Pusteln, Quaddeln, Blasen und Hautgeschwüre mit – so etwa die Pest. Im 14. oder 17. Jahrhundert war es für Gesunde lebensgefährlich, mit Aussätzigen in Berührung zu kommen. Dass diese – auch als angeblich von Gott bestrafte Sünder — lange Zeit ausgegrenzt, in die Wälder oder in Siechenhäuser vor die Stadtmauern verbannt wurden, sollte man vor diesem Hintergrund sehen.
Die eine oder andere Ekel-Reaktion mag anerzogen sein; doch ein Teil unserer Abscheu ist angeboren und lässt uns auch heute noch angewidert dreinschauen. »Das sind eindeutig Schutzreaktionen«, sagt der Spandauer Hautarzt Wolfgang Harth. »Man starrt solche Hautkranken ganz natürlich erst mal an, um zu klären, mit wem man es da zu tun hat. Oder man macht sofort einen Schritt zurück, wenn einem jemand mit Läusen oder Krätze begegnet.«
Für die Betroffenen ist das schmerzlich. »Selbst heute noch berichten Menschen mit Schuppenflechte, dass sie beim Gang ins Schwimmbad immer vom Bademeister angesprochen werden«, weiß Harth aus Erfahrung. »Auch als Fleischverkäufer sind solche Patienten wahnsinnig gestraft.« Obendrein habe sich herausgestellt, »dass Menschen mit Akne öfter arbeitslos sind also solche ohne«. Wenigstens könnten Dermatologen ihren Patienten heute deutlich besser helfen, »sodass ihre psychischen Folgeleiden – etwa Scham und Selbstvorwürfe – nicht mehr so ausgeprägt sind«.
Bleibt die Frage, ob die Haut eine Reaktion zeigen kann, wenn ihr Besitzer sich ekelt, wie es der Spruch »Da kriege ich die Krätze« nahelegt. Wolfgang Harth bejaht das, wenn auch mit gebührender Zurückhaltung. »Bei einem Test hat man Menschen, die von sich sagten, sie kriegten manchmal Ekelbläschen an der Lippe, dreckige Teller gezeigt, und tatsächlich bekam etwa die Hälfte von ihnen Herpes-Bläschen.« Doch sei das eine »sehr kleine Studie« gewesen – wie es überhaupt zu Hautreaktionen als Folge emotionaler Einflüsse nicht viele Untersuchungen gibt.
»Komm mir nur nicht zu nah!« – Wer so etwas zu hören bekommt oder wem es durch Gesten verdeutlicht wird, sollte den Hinweis sehr ernst nehmen. Denn mit Sicherheit hat der Ermahnte eine unsichtbare Grenze überschritten. So etwas kann, je nach persönlichem Distanzbedürfnis, nicht nur verärgern; es kann einem förmlich unter die Haut gehen.
»Über diese werden häufig Nähe-und-Distanz-Konflikte ausgetragen«, sagt Wolfgang Harth. Mancherlei kann hier als Ursache eine Rolle spielen: die scheiternde Abgrenzung eines Menschen von anderen, die fehlende Bereitschaft zum sexuellen Kontakt und zu Berührungen im Allgemeinen, ein mangelndes Urvertrauen sowie das Unvermögen, enge Bindungen einzugehen.
Harth zufolge drückt sich das Nähe-Problem im ungünstigen Fall dadurch aus, dass die Betroffenen engen Kontakt meiden, »weil sie schnell das Gefühl bekommen, dass ihnen jemand buchstäblich zu nah auf die Pelle rückt«. Ob die Haut eines derart Gestressten mit Krankheitsanzeichen reagieren wird, lässt sich kaum vorhersagen. Ebenso schwer ist der Beweis zu führen, ob umgekehrt ein tatsächlich ausgebrochenes Hautleiden die Folge einer missachteten Distanzschwelle sein könnte. Seelisch Belastbare und Sensible reagieren nun mal auf psychische Belastungen individuell verschieden.
»Normalerweise lässt kaum jemand zu viel Nähe zu und hält sie dann aus«, befindet Wolfgang Harth. Um herauszufinden, ob ein Hautgesunder oder ein Hautkranker auf zu viel Nähe regelmäßig mit Hautausschlägen reagiert, wäre ein provozierendes Experiment nötig. »Man müsste dazu ja einen Menschen, der eine bestimmte Distanz braucht oder zeitweise gerne alleine ist, permanent unter Druck setzen, etwa indem er ständig jemanden in nur zwanzig Zentimeter Entfernung an seiner Seite hätte«, gibt der Vorsitzende des Arbeitskreises »Psychosomatische Dermatologie« der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft zu bedenken. Ein solches Experiment ist ihm jedoch nicht bekannt.
Dennoch machen psychosomatisch orientierte Hautärzte immer wieder eindrucksvolle Beobachtungen. Hautbläschen im Genitalbereich (Herpes genitalis) zum Beispiel, die meist von Herpes-Simplex-Viren des Typs 2 ausgelöst werden, sind bisweilen Ausdruck einer inneren Abwehr. Sie könnten eine Reaktion des Körpers sein, »um drohendem Geschlechtsverkehr aus dem Weg zu gehen – oder jedenfalls einem, der von der Betroffenen – meist der Ehefrau — als zu nah empfunden wird«, berichtet Harth auch von eigenen Beobachtungen. »So kann Sex durch ein Symptom auf der organischen Ebene vermieden werden, ohne dass der dahinter steckende emotionale Konflikt, für den die Herpes-Bläschen ja nur ein Symbol sind, zum Thema gemacht wird.«
Das im Körper stets schlummernde Hautleiden (einmal im Körper, bleiben die Viren dort lebenslang) dient quasi als körperliche Ausrede für den unerwünschten Kontakt. Wer es lieber weniger psychoanalytisch mag, für den reicht es zu sagen: Stress und die durch ihn ins Blut ausgeschütteten Botenstoffe können — bildhaft formuliert — die schlafenden Herpes-Viren aufwecken.
Vor lauter Scham im Boden versinken würde fast jeder Mensch bisweilen gerne – zum Beispiel nach einem als peinlich empfundenen Missgeschick vor den Augen anderer oder einem beherzten Tritt in einen prall gefüllten Fettnapf. Das Schamgefühl zeichnet sich dadurch aus, »dass es durch bewusste Anstrengung nicht vermieden werden kann, egal wie vorsichtig man ist«, hat der Erziehungswissenschaftler Alfred Schäfer von der Universität Halle-Wittenberg selbst erfahren können. »Der Scham ist man ausgeliefert.«38
Und keiner ist davor gefeit. »Einen klassischen Scham-Typ gibt es nicht«, so Wolfram Kölling, leitender Psychologe an der psychosomatischen Hochgrat-Klinik im Allgäu. »Scham ist ein urmenschliches Gefühl, auch wenn wir heute in einer Zeit scheinbarer Schamlosigkeit leben, in der viele meinen, sich frei von Scham öffentlich inszenieren zu müssen.«
Zu unterscheiden ist jedoch zwischen gesunder und krankhafter Scham. Wer sich schämt, nachdem er von anderen bloßgestellt oder bei einem dummen Fehler ertappt worden ist, reagiert völlig normal. Gut, wenn er sich darüber offen ärgern oder mit Humor darauf reagieren kann. Wird zum Beispiel jemand in der Oper auf einen großen Kaffeefleck auf dem weißen Oberhemd aufmerksam gemacht, könnte er mit einer launigen Bemerkung den Wechsel der Waschmittel-Marke ankündigen – eine souveräne Reaktion.
Doch viele Menschen leiden unter krankhafter Scham. »Sie sind oft schon als Kinder zu sehr beschämt worden«, sagt Kölling, der sich intensiv mit Schamgefühlen beschäftigt hat.39 Sie wurden zum Beispiel geschlagen, sexuell missbraucht, von engen Bezugspersonen häufig gedemütigt, kleingehalten oder ständig beschimpft. »So entsteht allmählich eine schamhafte, traumatisierte oder selbstunsichere Persönlichkeit«, erklärt der Psychologe den seelischen Prozess.
Oft zeigt sich schamhafte Unsicherheit auch an nervöser Gesichtsröte – nicht zu verwechseln mit rötlichen Flecken am Hals, die bei Stress auftreten. Doch das ist nur eine mögliche Ursache, keine zwingende. Denn erstens sind nicht alle Erdenbürger, die leicht rot werden, schamhaft, und zweitens wird nicht jeder, dem ein übertriebenes Schamgefühl anerzogen worden ist, leicht rot. »Es gibt Menschen, die sich sehr gut im Verborgenen schämen können«, sagt der Hallenser Hautmediziner Klaus-Michael Taube.
Leicht Errötende neigen jedenfalls »zu einer schnellen Erweiterung der Hautgefäße«, fügt Taube hinzu – wohinter der sympathische Zweig des vegetativen Nervenssystems steckt. Das habe »zunächst nichts mit einer speziellen psychischen Auffälligkeit zu tun, sondern ist eine angeborene Eigenart – ebenso wie jemand etwas mehr oder weniger Haare hat oder eine fettigere Haut als andere«. Doch natürlich spüren die Betroffenen ihr Erröten auch selbst, und es entsteht eine Art Teufelskreis, sodass sie im ungünstigsten Fall nach einer Weile jedes Mal vor Scham erröten, wenn sie in eine für sie peinliche Lage geraten oder dies schon vorausahnen.
In seiner 1788 verfassten »Doktorarbeit über den Einfluss der Leidenschaft auf Körperstörungen« schrieb William Falconer (1744 — 1824) aus dem englischen Kurort Bath einen bemerkenswerten Satz: »Kummer führt zu geringerem Schwitzen und lässt die Haut erblassen, was, wie man hört, auch für Neid gilt.«40 Das hatte der Bäderarzt fein beobachtet, ohne das vegetative Nervensystem auch nur ansatzweise gekannt zu haben.
Dabei, dass jemand vor Schreck oder Neid blass um die Nase oder im ganzen Gesicht käseweiß wird, mischt das Hormon Adrenalin mit. In besonderen Stress- oder Schrecksituationen wird es vom Nebennierenmark automatisch vermehrt ins Blut ausgeschüttet, um den Kreislauf zu zentralisieren, wie Mediziner es nennen. »Das Blut zieht sich ins Körperinnere zurück, wodurch die Haut blasser wird«, erklärt Klaus-Michael Taube die Abfolge. Dies geschieht, indem sich die Gefäße der Haut, aber auch jene der Niere zusammenziehen, so dass akut dort nicht benötigtes Blut in wichtigeren Körperregionen zusätzlich zur Verfügung steht — beispielsweise in den Muskeln, die jetzt zum Kampf oder zur Flucht befähigen sollen. Im Körperzentrum steigt dadurch – und wegen des kräftigeren Herzschlags – der Blutdruck, und der Mensch atmet schneller.
Es klingt banal: Wann immer wir uns nicht gut fühlen, geschieht das in unserer Haut, also innerhalb unseres Grenzorgans – wo auch sonst? Und doch steckt mehr hinter dieser Redensart, die man ansonsten rasch als eine verbuchen könnte, bei der die Haut einmal mehr nur als Teil für den ganzen Körper steht. Denn ob wir uns wohl in unserer Hülle fühlen, kann sehr davon abhängen, wie sehr wir meinen, in uns selbst geborgen zu sein. Und das wiederum setzt voraus, dass unsere engsten Bezugspersonen der ersten Lebensjahre, meist also unsere Eltern, uns Geborgenheit vermittelt haben.
In seinem Buch »Die Sprache der Haut« berichtet Uwe Gieler von einer sich unzulänglich fühlenden Frau, die mit einem depressiven, selbstbezogenen Vater aufgewachsen war und sich in ihren Beziehungen zu Freunden und möglichen Partnern kurioserweise ähnlich verhielt wie dieser – und zwar obwohl sie eigentlich mit einem solchen Mann nichts hatte zu tun haben wollen. Sie hatte offenbar nicht gelernt, sich selbst wertzuschätzen, und wählte einen Mann zum Partner, dessen hohen Erwartungen sie unmöglich entsprechen konnte – bis sie die Beziehung schlussendlich abbrach.
»Es gelang ihr nicht, sich in ihrer Haut richtig zu Hause zu fühlen«, zieht Gieler als Fazit – und so sei es letztlich »gar nicht so merkwürdig« gewesen, dass die Haut der Frau eine Neurodermitis entwickelt habe. Diese verschwand erst, als die Patientin in einer Gesprächstherapie gelernt hatte, ihre überzogenen Erwartungen an sich abzulegen und sich nicht länger selbst abzuwerten. Zudem schätzte sie ihre Haut von da an als wertvollen Hinweisgeber, der ihr verlässlich zeigte, ob sie sich unsicher oder ungeliebt fühlte. Dann galt es, sich selbst jene Liebe und Fürsorge angedeihen zu lassen, die von der Außenwelt gerade nicht zu bekommen war.41
Manche Menschen haben ein dickes Fell, und zwar ausdrücklich auch Frauen, die außer auf dem Kopf jedem Körperhaar den Garaus machen. Der Volksmund versteht unter einem dickfelligen Menschen allerdings auch keinen dicht behaarten, sondern jemanden, an dem vieles abprallt, was anderen unter die Haut geht, sie innerlich bewegt oder gar aufregt. Sowohl bei eher Dünnhäutigen als auch bei Dickfelligen ist die Haut – je nach Körperstelle — weniger als einen oder gleich mehrere Millimeter dick, nämlich an den Augenlidern beziehungsweise an den Fußsohlen.
Ob Beleidigungen und andere Anwürfe an ihr abprallen, hat nichts mit der Zähigkeit der Haut, aber viel mit der Psyche des von ihr umhüllten Menschen zu tun. Diese wiederum wird von genetisch fixierten Eigenarten oder Anfälligkeiten mitbestimmt, aber in hohem Maße auch von Erfahrungen in frühester Kindheit und selbst schon im Mutterleib. Entscheidend ist hier die teils angeborene, großenteils jedoch in frühen Jahren erst erworbene biochemische Stress-Regulation, mithin die Reaktionsweise des Körpers auf belastende Außenreize.
Wenn es von jemandem heißt, er habe eine Elefantenhaut, dann ist dieser Mensch im günstigen Fall ungewöhnlich gut und sicher im Leben verankert, weil er oder sie das Glück hatte, schon als Ungeborenes und dann als Kind ausreichend Liebe, Zuwendung und Geborgenheit erfahren zu haben. Das scheinbar so dicke Fell kann aber auch trügen, weil ein äußerlich ausgeglichen wirkender Mensch bloß gelernt haben mag, seine Regungen geschickt zu verbergen: Nach außen ein ruhender Fels kann dieselbe Person innerlich in heller Aufregung sein.
Das ist auch bei Elefanten so. In Wahrheit sind diese nämlich seelisch »sehr dünnhäutig«, sagt Wolfram Rietschel, Tierarzt in der Stuttgarter Wilhelma. Dort leben vier asiatische Elefantenkühe, darunter die 1948 geborene Vilja, weltweit das älteste Rüsseltier in einem Zoo. »Man kann einen Elefanten in Panik versetzen, wenn man ihn mit einer Reißzwecke piekst«, weiß der Veterinär zu berichten. Die grauen Riesen umhülle nämlich eine ausgesprochen sensible, stark durchblutete Haut, die sogar über feine Tasthaare verfügt. »Wenn sich eine Mücke auf den Hintern eines Elefanten setzt, wischt er sie sofort mit seinem Schwanz weg«, sagt Rietschel. Einem seelisch eher unempfindlichen Menschen nachzusagen, er habe eine Elefantenhaut, sei als Sprachbild deshalb »völlig falsch«.
Ohnehin ist es mit der Elefantenhaut so eine Sache. Deren Träger sind nicht wirklich Dickhäuter – zumindest nicht überall. Am Rücken, an den Beinen und am Rüsselansatz erreicht die Haut von Elefanten in der Tat stolze zwei bis vier Zentimeter Stärke, was nicht nur einen gewissen Schutz gegen Stacheln, Baumrinde und die Krallen angreifender Raubkatzen bietet, sondern auch dem Druck der schweren inneren Organe Widerstand leistet. Doch hinter den Ohren sowie an Achseln, Brust und Augen ist selbst ein Elefant sehr dünnhäutig – von einem dicken Fell also auch hier keine Spur.
Auch bei den einzelnen Menschenrassen schwankt die Stärke der Haut etwas. »Japaner und Chinesen haben eine empfindlichere und dünnere Haut, während man der farbigen Rasse eine etwas stabilere Haut nachsagt, weil diese mehr Licht absorbieren muss«, sagt der Hautarzt Uwe Gieler.
Krankhafte Dickhäuter unter den Menschen sind hingegen solche, deren Oberhaut (Hornhaut) teilweise massiv verstärkt ist – zum Beispiel durch die Fischschuppenkrankheit (Ichthyosis vulgaris), die ungefähr bei jedem Tausendsten auftritt. Die Verhornungsstörung gilt als häufigstes Erbleiden der Haut und bildet sich meist schon im ersten Lebensjahr heran. Betroffene haben eine sehr trockene Haut mit grauen bis dunkelgrünen, pulverartigen Schuppen, die größer sind als bei Hautgesunden – ein dickes Fell der überaus lästigen Art.
Selbst wer das versuchen wollte, müsste scheitern. Denn graue Haare gibt es gar nicht. Der Haarschopf – oder was von ihm übrig ist – erscheint bloß zunehmend grau, wenn mehr und mehr Haare ihre frühere Farbe eingebüßt haben, aber immer noch zwischen den bereits weiß gebleichten Haaren durchscheinen. Haben schließlich alle Hornfäden ihre Pigmente verloren, strahlt das Kopfhaar schlohweiß.
Entscheidend für dessen ursprünglichen Farbton sind Melanine – jene rötlich-gelben, braunen oder schwarzen Substanzen, die in unsere Haare eingelagert werden und auch unsere Haut tönen. Produziert werden die Haarfarbstoffe fortwährend in den sogenannten Melanozyten – Pigmentzellen, die in den Haarwurzeln sitzen. »Früher oder später hören die Melanozyten allerdings auf, Melanin zu produzieren, insbesondere durch Verlust an Tyrosinase, einem wichtigen Baustein in der Synthese des Melanins«, sagt Ingrid Moll, Direktorin der Klinik für Dermatologie und Venerologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. »Der Zeitpunkt ist genetisch bedingt. Manche Menschen bekommen schon mit 30 Jahren die ersten grauen Haare, andere erst mit 60.«42 Umwelteinflüsse oder die jeweiligen Ernährungsgewohnheiten spielten hingegen kaum eine Rolle
Wie Wissenschaftler der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und der University of Bradford in Großbritannien herausgefunden haben wollen, sei es oxidativer Stress, also ein Überschuss an Molekülen mit leicht reagierenden SauerstoffAtomen, der unseren Haaren mit zunehmendem Alter die Farbe raube. »Ausgangspunkt des gesamten Prozesses ist Wasserstoffperoxid, das wir auch als Bleichmittel kennen«, sagt Heinz Decker, Leiter des Instituts für Molekulare Biophysik der Universität Mainz. Wasserstoffperoxid (H2O2) hemme die Wirkung des Enzyms Tyrosinase, das — wie erwähnt — nötig ist, um Melanine herzustellen. Je älter der Mensch wird, desto mehr H2O2 wird in den Haaren gebildet, wodurch sich am Ende überhaupt keine Melanine mehr bilden können.43 Das mag man bedauern, doch es soll Menschen geben, die gerne weißhaarig wären – Glatzköpfe vor allem, zumindest alte.
Fragt sich nur, ob unsere Kopfhaare durch Ärger oder Kummer schneller weiß werden. Über Nacht schaffen sie das jedenfalls nicht. »Aber bei manchen Menschen kann das sehr rasch passieren; die sind innerhalb eines Monats deutlich ergraut«, sagt der Hautmediziner Dirk Eichelberg, ärztlicher Leiter der privaten Hansaklinik für Haut, Haare, Venenleiden und Ästhetik in Dortmund.
Die Ursache schnellen Farbverlusts ist eine archaische, also urtümliche Stressreaktion. »Wenn wir unsere Kraft zum Kämpfen oder Fliehen brauchen, werden die dafür nötigen Muskeln und die Lunge besonders gut durchblutet, weniger wichtige Körperteile schlechter«, sagt Eichelberg. Bei akutem Stress – etwa durch eine körperlich oder seelisch schlauchende Operation – werden die vom Stoffwechsel vorübergehend vernachlässigten Wurzelzellen von Haaren und Nägeln quasi auf Diät gesetzt und erhalten weniger Nährstoffe. »Da sie träge reagieren, wirkt sich dies nicht schon in den ersten Tagen danach aus«, sagt Eichelberg. »Doch typischerweise fallen zwei bis drei Monate später außergewöhnlich viele Haare aus.«
Durchlebt ein Mensch sogar über Wochen, Monate oder gar Jahre eine schwere Zeit, kann dies die melaninbildenden Haarwurzelzellen nachhaltig schädigen, sodass viele Haare weiß werden. »Hier können immer auch genetische Faktoren eine Rolle spielen«, merkt Dirk Eichelberg an. »Aber wenn jemand nach einem schweren seelischen Schlag innerhalb eines Jahres deutlich graueres Haar bekommt, liegt der Schluss sehr nahe, dass dies eine Reaktion auf den erlittenen Kummer ist.«
Irgendwann erleben wir es alle: Wir gehen gebückter als früher, die Haut legt sich in Falten und in den Ohrmuscheln der Männer sprießen Haare, die auf dem immer lichteren Kopf weitaus willkommener wären. Dann sehen wir wirklich alt aus, auch wenn die Redensart eher jenes lange und erschlaffte Gesicht von Menschen meint, die gerade von anderen — nicht immer jüngeren — übertrumpft, ausgebootet oder verraten worden sind.
Doch scheint es kein Zufall zu sein, dass jemand, der bedröppelt aus der Wäsche schaut, nicht gerade jung wirkt. Denn es sind nicht nur Runzeln, Falten und weißes Haar, die unser Haupt alt aussehen lassen; die formgebenden Gesichtsknochen wirken dabei entscheidend mit. Das konnten Forscher der US-AMERIKANISCHEN Universitäten Rochester, Stanford und Harvard belegen.44
Messungen an 60 weiblichen und 60 männlichen Schädeln haben ergeben, dass Knochenmasse und Volumen des Unterkiefers mit dem Alter deutlich abnehmen – »und damit auch das Gerüst für das Weichgewebe von unterem Gesicht und Hals«, berichtete Howard N. Langstein von der Universität Rochester im März 2010 auf der Jahrestagung der Amerikanischen Vereinigung plastischer Chirurgen. Der Kieferwinkel wird flacher, weil der Unterkiefer nach vorne wandert. Auch die Augenhöhlungen werden größer, weil die Wangenknochen sich etwas nach unten zurückziehen. All das lässt die Weichteile des Gesichts erschlaffen, was vor allem am Unterkiefer zu sehen ist: Durch den Verlust an Knochenmasse kann er das Gewebe der Kinnpartie nicht mehr so straff aufspannen – die Haut dort hängt durch wie die Plane eines Zeltes, dessen Gestänge eingeknickt ist.
Neben der Spannkraft der Haut verrät auch ihre sonstige Beschaffenheit viel über ihr physiologisches Alter – welches das tatsächliche übersteigen kann. So sind zum Beispiel Freunde und Freundinnen des blauen Dunstes nicht gerade für eine besonders rosige, glatte Gesichtshaut bekannt. »In Bezug auf die Hautalterung ist – neben ausgiebigen Sonnenbädern – Rauchen definitiv die Todsünde Nr. 1!«, urteilt ein Haut-Ratgeber. 45 Der Zug am Glimmstängel verlangsamt den Aufbau neuen Bindegewebes (Kollagen-Biosynthese), wodurch die Raucherhaut dünner und weniger elastisch wird. Außerdem wirkt sie fahl und leicht ergraut, weil Nikotin die Blutgefäße verengt, wodurch obendrein weniger Nährstoffe und weniger Sauerstoff die Haut versorgen können.
Ganz schön alt – und das auch noch vorzeitig – wirken allerdings oftmals auch jene Menschen, die schon seit geraumer Zeit unter großer seelischer Anspannung stehen, etwa dadurch, dass sie einen nahen Angehörigen pflegen und dafür einen erheblichen Teil ihrer Energie opfern, folglich ein Stück Lebenskraft. Dadurch verausgaben sich auch ihre Körperzellen – und das hängt mit den sogenannten Telomeren (griechisch für »Endstück«) zusammen, die für die Stabilität unseres Erbguts enorm wichtig sind.
Mit ihnen beschäftigen sich nicht nur Genetiker, also Erbgut-Spezialisten, sondern seit dem späten 20. Jahrhundert zunehmend auch sogenannte Epigenetiker: Das sind Fachleute für die Wechselwirkung des menschlichen Erbguts mit Lebens-und Umwelteinflüssen, die unsere keineswegs allmächtigen Gene aus- und anschalten können und so darüber entscheiden, ob gewisse Erbanlagen überhaupt zum Tragen kommen. Wenn die Gene die Tasten eines Klaviers sind, dann sind es äußere Einflüsse wie Sport, Nahrungsmittel, Stress oder empfangene Liebe, die darauf herumklimpern. Ohne Pianist bleibt schließlich auch der kostbarste Flügel stumm.
Die Telomere bilden die Enden jener 46 Chromosomen, auf die unser Erbgut (DNA) verteilt ist und die sich als gewundene Doppelspirale im Kern jeder Körperzelle befinden. Jedes Telomer besteht aus dem Chromosomen-Endstück und einer komplexen Ansammlung von Eiweißverbindungen (Proteinen), die das Endstück umgeben, als wollten sie es schützen – und genau das sollen sie auch. Die Eiweißkappen der Telomere könne man sich so ähnlich vorstellen »wie die Plastikkappen an den Enden von Schürsenkeln«; ihre Aufgabe sei es, die verschlungenen DNA-Fäden im Zellkern »fest an sich binden und vor ungewollten chemischen Reaktionen schützen«, schreibt der Hamburger Neurobiologe und Wissenschaftsautor Peter Spork in seinem eindrucksvollen Buch über Epigenetik.46 In gewissem Sinne halten die Telomere unser Leben zusammen – zumindest mehrere Jahrzehnte lang.
Spork nennt sie deshalb nicht umsonst »eine Art Lebensuhr«. Denn wann immer sich unsere Körperzellen teilen, verlieren die Telomere »ein kleines Stückchen DNA samt Proteinkappe«, werden also etwas kürzer. Je stärker sie verschleißen, desto näher rückt der Tod der betreffenden Körperzelle, und wenn die Telomere aufgebraucht sind, kann sich diese nicht mehr teilen und stirbt einen programmierten Tod.
Damit die Zell-Uhr – und letztlich auch die des jeweiligen Menschen – nicht zu schnell abläuft, gibt es in den Eiweißkappen zum Glück ein Enzym namens Telomerase, das so etwas wie ein biochemischer Jungbrunnen ist, wenn auch kein ewiglich sprudelnder. Es kommt längst nicht in allen Körperzellen vor, aber in einigen der besonders wichtigen Zelltypen sehr wohl – so etwa in Stammzellen, den Multi-Talenten unseres Körpers, außerdem in den Keim- oder Geschlechtszellen sowie in den Immunzellen des Knochenmarks.
Dass die Telomerase auch fast alle Krebszellen vor Alterung schützt und dadurch so bösartig macht, ist die fatale Schattenseite dieses Enzyms. Seine Aufgabe besteht jedenfalls darin, nach jeder Zellteilung die verkürzten Erbgutfäden zu reparieren, indem es sie wieder verlängert und ihnen ein neues Protein-Mützchen aufsetzt. Wie viel von dem Jungbrunnen-Enzym eine Zelle erzeugt, hängt davon ab, wie gesund, ausgeglichen und liebevoll der betreffende Mensch lebt – insofern können wir unser eigenes Erbgut und dasjenige unserer Kinder günstig oder ungünstig beeinflussen.
Und damit sind wir endlich bei Elissa Epel. Die Psychologin von der Universität San Francisco in Kalifornien hat etwas Beklemmendes herausgefunden. Spork zufolge untersuchte sie Menschen, die »über einen längeren Zeitraum hinweg allein einen dementen Angehörigen oder ein chronisch krankes Kind pflegen mussten«. Und siehe da: »Im Vergleich zu gewöhnlich belasteten Gleichaltrigen hatten diese Menschen deutlich erhöhte Stresshormonspiegel im Blut. Und ihre Zellen zeigten eine verringerte Menge des zellverjüngenden Enzyms Telomerase sowie verkürzte Chromosomenenden.«
Elissa Epel hält den Unterschied zur Niedrigstressgruppe in ihrem Test für so beträchtlich, dass er »ungefähr einer um zehn Jahre beschleunigten Alterung entspricht«.47 Und dabei spielte es keine Rolle, ob und wie gestresst die Probanden sich empfanden. Deren Blut jedenfalls war es, sozusagen. Stress lässt uns also nicht nur alt aussehen – er macht uns auch älter. Und auf den Magen schlägt er uns obendrein.