Den Magen haben wir ja noch vergleichsweise gern, auch wenn uns das nicht davon abhält, ihn immer wieder zu mästen. Nicht nur Eintopf und Vanille-Eis, auch Liebe geht angeblich durch den Magen. Wir können sogar Schmetterlinge im Bauch haben, und jemanden, in den wir vernarrt sind, haben wir zum Fressen gern, würden uns ihn oder sie also gerne einverleiben – eine kulinarische Form der Symbiose, die jedoch ebenso zwiespältig ist wie die neurotische Abhängigkeit zweier Menschen im Allgemeinen. Denn ohne jemanden nicht mehr leben zu können, sollte nicht unser Ziel sein – auch wenn es sich kurz nach einer schmerzhaften Trennung exakt so anfühlen mag.
Der Darm aber könnte den meisten Menschen gestohlen bleiben, obwohl er weitaus mehr ist als ein hinter den Magen geschaltetes Abflussrohr. Die Wahl zum ekligsten Organ würde der Gewundene jedenfalls locker gewinnen. Was soll man auch halten von einem vier bis sechs Meter langen Schlauch, der pausenlos und auf rätselhafte Weise Kartoffeln und Bratwurst, Nudeln und Pflaumenkuchen verwertet und dabei notgedrungen Abfälle erzeugt, die man klammheimlich an stillen Örtchen entsorgt – wobei man obendrein zweifelhafte Gerüche hinterlässt? Lange her, dass Respektspersonen wie der Reformator Martin Luther ohne Verlust des Ansehens ausrufen konnten: »Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz!«
In einer Welt, die auf keimfreie Hygiene und Wohlgerüche aus Deo-Rollern und Toilettensteinen versessen ist, musste der Darm zum Tabu werden. Schon das Wort Kot ist verpönt. Lieber sagt man verschämt »Stuhl«, und ein Mensch, der beim Essen stolz verkünden würde, er habe soeben seinen Darm mal wieder so richtig entleeren und die Toilettenschüssel recht ordentlich füllen können, dürfte künftig eher selten eingeladen werden. Wohl wahr: Unser Verdauungstrakt beschert uns manche Peinlichkeit. Kein Wunder, dass er auch von sich reden macht.
Häufig fällen wir Entscheidungen ohne jedes Zögern — aus dem Bauch heraus eben, ein Graus für eingefleischte Kopfmenschen. Doch das viel gerühmte Bauchgefühl sollte man lieber bildhaft verstehen und schon gar nicht mit Intuition gleichsetzen, denn unsere Entscheidungen werden immer noch im Hirn gefällt. Und dennoch ist es gut möglich, dass die Meldungen aus der Tiefe des Bauches im Hirn Resonanz finden und das, was wir für verstandesbetonte Beschlüsse halten, gefühlig einfärben. Manche Forscher nehmen sogar an, dass Erfahrungen des Bauchhirns (offiziell: des enteralen Nervensystems) in der vorderen Hirnrinde des Kopfhirns gespeichert werden.
Nicht nur das Deutsche beschreibt Bauchentscheidungen. So nennen Angelsachsen die Weisheit aus dem Unterleib »gut feeling«, also Darmgefühl. Und wenn US-amerikanische Feuerwehrleute ein hilfloses Kind aus einem schon arg brennenden Haus retten, könnte am Tag darauf in der Zeitung stehen: »It took guts for them to rescue it.« Was nicht heißen soll, dass Därme nötig waren, um Menschenleben zu retten, sondern dass die Helfer dabei gegen das Angstgefühl in ihren Bäuchen angehen mussten.
Heute wissen wir, dass die Darmwand tatsächlich eine Art zweites, stammesgeschichtlich älteres Hirn birgt, das mit seinen rund hundert Millionen Nervenzellen die Verdauung fast im Alleingang regelt – weitgehend unabhängig vom Gehirn im Kopf. Während es von dort oben eher wenige Signale empfängt, meldet das Darm- oder Bauchhirn seinerseits sehr viel hinauf. Etwa 90 Prozent der Nervenbahnen zwischen beiden – nun ja – Hirnen verlaufen von unten nach oben.
Von dem eher einseitigen Signalaustausch spüren wir zum Glück im Normalfall wenig. Doch wenn es im Magen oder Darm rumort oder gar riskant wird — ausgelöst etwa durch Gifte oder verdorbenes Essen –, dann werden wir dessen stärker gewahr, als uns lieb ist. Denn weitaus schneller als der Wind hat das Darmhirn die Gefahr ans Oberstübchen gemeldet, das nun zusehen muss, welche Abhilfe infrage kommt – beispielsweise Durchfall oder Erbrechen.
Auch im Wohl und Wehe des Alltags beeinflusst der Magen-Darm-Trakt unser seelisches Erleben beträchtlich. »Viel körperlich und seelisches Weh hat seine Ursache meist im Bauch«, befand schon der naturheilkundige Pfarrer Sebastian Kneipp (1821 – 1897).
Allerdings erzeugt der Darm nicht nur Gefühle, er reagiert auch auf sie. Sind Kinder traurig oder haben sie vor etwas Angst, leiden sie nicht selten unter schwer erklärlichem Bauchweh. Der Schuh drückt sie gewissermaßen im Magen – und natürlich im Darm. Und wer einen nervösen Magen oder Darm sein Eigen nennt, zeigt damit nur deutlicher als robustere Naturen, dass – außer dem Herzen – kein anderes Organ so sensibel auf Stress, Wut und Trauer reagiert.
Obendrein ist das wirre Geschlängel im Bauch ein wahres Chemielabor für seelisch wirksame Substanzen. In ihm lassen sich drogenähnliche Substanzen wie der Nervenbotenstoff Dopamin, Opiate und beruhigende Benzodiazepine nachweisen — und zwar dort hergestellte. Ein entzündeter Darm produziert zudem selbst Cannabinoide, eine Art körpereigenes Haschisch. Spezielle Zellen der Dünndarm-Schleimhaut schütten über 90 Prozent des im Körper gebildeten Serotonins aus — eines Nervenbotenstoffs, der die Stimmung aufhellt, im Darm aber vor allem dessen Muskelzellen dazu anstachelt, den Verdauungsbrei Richtung Enddarm und schließlich After weiterzuleiten.
Da sich an den Nervenzellen des Bauchhirns auch die entsprechenden Andockstellen (Rezeptoren) für das sogenannte Glückshormon finden, »kann man bei einem Mangel an Serotonin – oder umgekehrt bei einem Überschuss – ganz ähnliche negative beziehungsweise positive Folgen spüren wie bei einem hormonellen Ungleichgewicht im Hirn«, sagt die Internistin und analytische Psychotherapeutin Gabriele Moser, die an der Wiener Uni-Klinik, dem Allgemeinen Krankenhaus, die gastroenterologische Psychosomatik-Ambulanz leitet. Mangelanzeichen können Krämpfe, Magenschmerzen (»Bauchgrimmen«) oder Übelkeit sein. Doch wenn der Magen-Darm-Trakt quasi im Glück badet, flattern dort Schmetterlinge, oder es düsen völlig abgasfreie Flugzeuge im Bauch herum, wie sie schon Herbert Grönemeyer besungen hat.
»Iss und trink! Mit einem vollen Magen ist jedes Übel leichter zu ertragen!« – so steht es geschrieben, wenn auch nur an der Fassade einer Weinstube im rheinland-pfälzischen Braubach nahe Koblenz. Und Weinstuben sind bekanntlich eher selten Vereinslokale von Kostverächtern.
In Wahrheit ist der volle Magen eher ein zusätzliches Übel, mit dem sich die ohnehin schon vorhandenen keineswegs verkleinern lassen. Es fängt schon damit an, dass oft nicht gut schläft, wer eine größere, vor allem fettreiche Mahlzeit erst spätabends verzehrt. Kein Wunder, denn Hirn und Darm sind auch beim Träumen innig verbunden: Durchlebt die obere Schaltzentrale zum Beispiel traumintensive Phasen des Schlafs (sogenannten REM-Schlaf, der sich durch schnelle Augenbewegungen auszeichnet), kurbelt das die Serotonin-Produktion in der Darmwand an, und die Innereien zucken munter mit.49 Der Darm träumt also quasi gemeinsam mit dem Hirn; warum also sollte nicht auch umgekehrt der Schlaf gestört sein, wenn sich im überforderten Magen und im Darm kaum etwas regt?
Fachleute wie der Darmhirn-Forscher Emeran Mayer von der Universität von Kalifornien in Los Angeles nehmen das stark an. »Der Magen-Darm-Trakt beginnt sich rhythmisch zusammenzuziehen, wenn er völlig leer ist«, erklärt der deutschstämmige Mediziner jenen Vorgang im Bauch, der sich im Wachzustand als Hungergefühl und Magengrummeln bemerkbar macht. Die wellenartigen Kontraktionen ereignen sich auch nachts, doch erstens spüren wir sie dann nicht, und zweitens halten wir sie im Schlaf nicht an, indem wir etwas essen.
Sinnvoll sind sie jedoch auch dann. Sie befördern nämlich rund um die Uhr – etwa alle 75 bis 90 Minuten – unverdauliche Speisereste wie Knöchelchen und Fremdkörper in Richtung Enddarm, aber auch Bakterien vom Dünn- zum Dickdarm. »Der Rhythmus wird vom Nervensystem der Eingeweide gesteuert und wirkt ganz offensichtlich auch auf unser Hirn«, fügt Mayer hinzu. »Eine üppige Mahlzeit zu verdauen, die wir am späten Abend oder gar nachts zu uns nehmen, kann mehrere Stunden dauern, wodurch das Hirn später als sonst von dem rhythmischen Zusammenziehen des Darms erfährt.« Möglicherweise stört das Ausbleiben dieser Botschaft den Schlaf – bei manchen Menschen mehr, bei anderen weniger.
Selbstbewusste Frauen nehmen sich im Streit auch mal ihre Männer zur Brust, als Mütter hingegen – und dann tatsächlich – ihr Baby. Stille und gestillt zu werden, ist in aller Regel für die Mutter beziehungsweise das Neugeborene pures Glück — nicht nur, weil der neue Erdenbürger auf diese Weise optimal ernährt wird. Das Kind an der Brust erfährt die Mutter obendrein als Spenderin von Nahrung und Zuwendung; die Mutter wiederum erlebt sich selbst als Quelle wonniger Zufriedenheit.
»Liebe geht schon früh durch den Magen«, sagt Joachim Bauer von der Uni-Klinik Freiburg. »Schon als Säugling hat unser Organismus gelernt, dass uns Saugen an der Mutterbrust beruhigt.« In dieser »Ur-Situation der ersten anlehnenden, abhängigen Liebe« lerne schon das Neugeborene, dass es »etwas in Gegenwart von jemand anderem genießen« darf.
Unentwegt schreibt unser Hirn eine Art Logbuch sowohl über Erlebnisse im Kontakt mit der Außenwelt, als auch über die begleitende Befindlichkeit unseres Organismus. »Dadurch werden äußere, vor allem zwischenmenschliche Situationen mit dem inneren Zustand unseres Organismus verknüpft«, erklärt der Psychosomatik-Fachmann den Effekt. Beim Stillen lerne das Hirn des Babys auf diese Weise: »Wenn ich mich bei jemand Starkem anlehnen und von ihm versorgen lassen kann, brauche ich mich nicht zu fürchten.« Stark verängstigte Erwachsene in Lebenskrisen suchen bisweilen instinktiv die körperliche Nähe der Brust einer mitfühlenden Frau, den Kopf nah an deren – dann freilich meist bedeckten – Brüsten.
Beim Stillen und Saugen wird jedenfalls ein Teil dessen geknüpft, was man Mutter-Kind-Bindung nennt — ein wichtiges Fundament für ein gelingendes Leben. »Die frühe Berührung ist eine Grunderfahrung des Kindes, mit der es Urvertrauen lernt — vor allem durch den Hautkontakt zur Mutter, auch und gerade beim Stillen«, sagt der Psychoanalytiker Günter Heisterkamp, der bis zur Pensionierung an der Universität Essen-Duisburg lehrte. Durch zu wenig Körperkontakt in früher Kindheit könne ein Mensch »nicht den nötigen Halt entwickeln und unsicher werden«.
Allerdings droht auch hier ein Zuviel durch »Mütter, die ihre Säuglinge an der Brust – bildlich gesprochen – ersticken, sie also vereinnahmen und zum Stillen ihrer eigenen Bedürfnisse nach Nähe missbrauchen«, berichtet Heisterkamp. Daraus könne eine zu große Abhängigkeit von der nährenden Mutter oder auch ein Widerwillen gegenüber nahen Bezugspersonen entstehen. »Ein solches Kind distanziert sich oftmals als Erwachsener in seinen Beziehungen zu anderen Menschen, vor allem zu möglichen Lebenspartnern, und fürchtet ein Zuviel an Nähe.«
Auch später im Leben stellen wir Bindungen zu anderen Menschen über das Essen her – über das für andere zubereitete Mittagessen wie auch über das gemeinsam bei Tisch eingenommene Abendmahl. Ursprünglich sogar in feindlicher Umwelt, zeigt das Mahl im Beisein anderer Menschen noch heute allen Beteiligten, dass man zusammengehört und seinen Platz auf der Welt gefunden hat. Auch der Spruch »Essen hält Leib und Seele zusammen« spielt darauf an – in einer Welt einander fremder Singles wäre er nicht entstanden.
Es passierte früher beim Räuber-und-Gendarm-Spiel ausgerechnet dann, wenn die Fahnder sich dem Versteck des Gejagten bedrohlich näherten. Plötzlich drückte ihn die Blase – zum Glück nur sie. Auch vielen Prüflingen, Sportlern oder Bewerbern dürfte das Phänomen des plötzlichen Harndrangs bekannt sein: Kurz bevor es ernst wird, muss man »schnell noch mal« zur Toilette – ein klarer Fall von Nervosität.
Die Harnblase, ein Zwischenspeicher für Urin, befindet sich im kleinen Becken und wird über die Harnleiter von den Nieren nach und nach befüllt. Sie liegt unmittelbar auf dem Beckenboden, einer Muskel- und Sehnenplatte. Haben sich beim Mann mindestens etwa ein Drittel-, bei der Frau ein Viertelliter Urin in der Blase angesammelt, kommt der Drang auf, sie zu leeren. »Stress und emotional bedingte Anspannung (Angst, Ärger, Wut) führen schon bei einer geringeren Befüllung als 300 Milliliter zum Harndrang und lösen das Signal für die willkürliche Leerung aus«, schreibt der Psychotherapeut Hans Morschitzky.50 Er wagt auch eine Vermutung, wozu der nervöse Drang gut sein könnte: »Darm- und Blasenentleerungen bei Angst und Gefahr sind im Rahmen der Evolution zu verstehen: Durch den Gewichtsverlust wird die Flucht erleichtert.« Eine Sichtweise, die auch Gabriele Moser, teilt: »Auch flüchtende Tiere, zum Beispiel Vögel, lassen hinten noch schnell ein Batzerl los« — eine kleine Menge also.
Der Freiburger Mediziner Kurt Fritzsche ist anderer Ansicht: »Normalerweise sollte man auf der Flucht ja gerade keinen Durchfall bekommen, weshalb es eine nützliche Antwort des Körpers auf Angst wäre, die Darmtätigkeit zu verringern«, gibt der Psychosomatik-Experte zu bedenken. Schließlich wolle man ja »abhauen oder kämpfen, und zwar unbehindert durch Stuhlgang oder Blasenentleerung«. Den Beweis dafür, was nun der wahre biologische Sinn der Reaktion ist, wird niemand führen können, sodass es hier nur um mehr oder minder plausible Erklärungen gehen kann.
Jedenfalls wird wenig mitfühlend »Schisser« genannt, wer vor Angst oder Aufregung den Eindruck erweckt, nicht an sich halten zu können. Die Österreicher gestehen: »Ich scheiß mich an«, wenn ihnen der Arsch auf Grundeis geht und dabei schlimmstenfalls so poltert wie ein Schiff, das über ein Flussbett schrammt, auf dem in harschen Wintern Wasser festgefroren ist. Auch im angelsächsischen Sprachraum gibt es entsprechende Metaphern: »He scared the shit out of me« meint in etwa: »Ich habe mir seinetwegen vor Angst in die Hosen geschissen.«
Doch wie kommt es soweit? »Angst aktiviert das autonome Nervensystem und beschleunigt die Darmpassage«, erklärt Fritzsche die nervöse Reaktion. Stress lässt den Darm hochaktiv werden, »sodass er sich stark bewegt und sich sogar krampfartig entleeren kann«, fügt Gabriele Moser als Spezialistin für die enge Verzahnung von Verdauung und Seele hinzu. Vor allem bei Menschen, die akut um ihr Leben fürchten, macht der Schließmuskel schlapp, und alles geht buchstäblich in die Hose – oder ins Hemd, falls es denn lang genug dazu ist.
Joachim Bauer, der am Freiburger Uniklinikum die Psychosomatik-Ambulanz leitet, spricht in diesem Fall von einer »überschießenden Aktion« des vegetativen Nervensystems. Der unwillkürliche Vorgang nehme seinen Lauf, »wenn weder Kampf noch Flucht Aussicht auf Erfolg haben«. Die Folge sei »eine Art Ohnmacht-Reaktion« mit Schwindelgefühl, Blutdruck-Abfall und der beschriebenen regen Darmaktivität als Ausdruck der Ausweglosigkeit. »Früher wäre man dann wohl von einem Raubtier gefressen worden«, vermutet der Mediziner. Vorausgesetzt freilich, der Höhlenlöwe oder ein anderer Beutegreifer der Eiszeit haben sich vom üblen Geruch ihrer zitternden Beute nicht den Appetit verderben lassen.
Bei manchen Menschen ist das Gefühl, schon wieder zu müssen, längst ein lästiger Begleiter geworden, wenn auch zum Glück nur in ganz bestimmten Lebenslagen und in aller Regel auf die Blase beschränkt. »Bei Patienten, die häufig über plötzlichen Harndrang klagen, steckt oft eine Angst-Symptomatik dahinter«, hat Kurt Fritzsche feststellen können. Er denkt zum Beispiel an den Fall eines Referendars im Schuldienst, »der immer Harndrang-Attacken hatte, wenn er vor einer Klasse Unterricht hielt«. Am schlimmsten plagte ihn die Blase, wenn der Vertreter des Oberschulamts anwesend war. »Dann hat er es nicht mehr ausgehalten«, berichtet Fritzsche.
Später zeigte sich, dass der Referendar eigentlich eine ganz zwiespältige Einstellung zum Lehrerberuf hatte und zudem eine Wut auf das Oberschulamt – und auf den Schulleiter. »Am liebsten würde ich ihm ans Bein pinkeln!«, hat er Fritzsche gegenüber gestanden. Dessen Fazit: »Er wollte sich also einerseits quasi verpissen, aber auch aggressiv sein« – wobei verpissen hier auf die ängstliche Flucht anspielt, ganz wie es der höhnische Ausruf »Verpiss dich!« deutlich macht, der ja im Grunde bedeutet: Du hast doch Angst, also hau ab!
Menschen mit wiederkehrendem plötzlichem Harndrang sind nicht etwa inkontinent, können also ihren Harnfluss grundsätzlich gut kontrollieren. Lediglich in bestimmten Auslöse-Situationen müssen sie unweigerlich zur Toilette. »Manchmal kommt dann gar nicht viel Harn, weil sie vorher schon zur Toilette gewesen sind. Und dennoch müssen sie«, sagt Fritzsche. Dies könne man als eine Variante der sogenannten schwachen Blase bezeichnen, unter der viele Menschen, insbesondere Frauen, leiden.
Bleibt erstens noch das Rätsel, warum man in Sichtweite der rettenden Autobahnraststelle oder beim Erspähen einer öffentlichen Toilette während des Stadtbummels kaum noch an sich halten kann, während der Drang noch wenige Sekunden vorher beherrschbar erschien. »Dann lässt der Wille nach, dem Harndrang zu widerstehen«, meint Fritzsche. Die nahe Toilette ist dann buchstäblich erlösend. Und wehe, sie ist besetzt!
Und zweitens harrt noch die Sextanerblase einer Erklärung, deren Träger sich bei der Lehrerin etwa einmal pro Stunde durch wildes Aufzeigen bemerkbar machen. Doch vermutlich sind die frischgebackenen Gymnasiasten (und Realschüler wohl auch) einfach nur etwas aufgeregter als die schon viel abgebrühteren Zehntklässler – vor allem während der ersten Schultage. Ohnehin habe der wiederholte Wunsch nach einer Pinkelpause »weniger mit dem Lebensalter zu tun, sondern eher mit dem persönlichen Reaktionstyp«, befindet Roland Reinehr, Oberarzt der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Infektiologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. »Die einen müssen vor einer Prüfung oder einer Operation noch schnell zur Toilette, um sich buchstäblich zu erleichtern; anderen schlägt Aufregung eher auf den Magen.«
Täglich sondert der menschliche Magen 1,5 bis 2,5 Liter Magensaft ab, dessen Hauptaufgabe darin besteht, die aus der Speiseröhre kommende Nahrung zu desinfizieren und zu durchmischen. Dank seines rund 0,5 prozentigen Gehalts an Salzsäure weist der Magensaft je nach Befüllung des Nahrungsspeichers einen pH-Wert (»Säurewert«) von 1 bis 3 auf; im geleerten Zustand ist er damit deutlich saurer als Zitronensaft (ph-Wert 2 bis 2,5). Das reicht, um viele Bakterien, die wir uns mit Brathähnchen, Kopfsalat und Eisccreme einverleiben, unschädlich zu machen – doch längst nicht alle.
US-Forscher der kalifornischen Universität Stanford um die Mikrobiologin Elisabeth Bik fanden im Magen fast 130 Bakterienarten – ausgerechnet dort, wo man in den Jahrzehnten zuvor von einem für Keime absolut oder zumindest nahezu lebensfeindlichen Milieu ausgegangen war.51 Bestimmte Menschen neigen genetisch dazu, vermehrt Magensäure zu produzieren. Unklar sei zwar, ob, wann und wie diese Besonderheit auch das emotionale Befinden beeinflusse, räumt der Freiburger Psychosomatiker Michael Wirsching ein. »Wir wissen aber, dass emotionaler Stress, insbesondere Aggression und Zuwendungswünsche, die Säureproduktion antreiben.«52 Dadurch könne das gesundheitsbedenkliche Bakterium Heliobacter pylori »in der ihres Schutzmantels beraubten Schleimhaut sein Zerstörungswerk beginnen und aus eigenem Vermögen fortsetzen«.
Bei Menschen mit normaler Magensäure-Produktion kann Dauerstress, wie er zum Beispiel »durch massive Belastungen nach schweren Traumen« auftrete, die Durchblutung der Magenschleimhaut drosseln, wodurch diese anfällig für Säure und Bakterien werde. Auf beide Weisen begünstigt seelische Anspannung also in der Tat ein Magengeschwür.
Mehr Magensäure bei Stress und Ärger: In diesem Sinne kann man im wahrsten Sinne des Wortes sauer werden – und auf Dauer womöglich zu einem säuerlichen Menschen. »Beim Sodbrennen, das ja ebenfalls oft als psychosomatische Reaktion auf innere Anspannung auftritt, haben die Menschen vielleicht schon vor langer Zeit bemerkt, dass der Atem des Betroffenen auf einmal säuerlich roch«, vermutet Wirschings Freiburger Fachkollege Kurt Fritzsche. »Deshalb könnte der Begriff des Sauerseins durchaus so entstanden sein.« Umso mehr, weil manchen verärgerten Menschen ein Zuviel an Magensäure als Folge ihres Unmuts übel aufstößt. Und das spüren – und riechen – sie am heftigsten selbst.
Wer weiß, vielleicht widerfuhr das sogar dem ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, über den nach seinem überraschenden Rücktritt am 31. Mai 2010 in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war: »Er geht, weil er auf Deutsch gesagt stinksauer ist, was bei seinem letzten Auftritt nicht allzu schwer zu erkennen war.«53 Ob man es auch riechen konnte, ist nicht überliefert, denn ein Staatoberhaupt wahrt bei Verlautbarungen stets gebührenden Abstand zur Pressemeute. Im Dunstkreis Köhlers stand nur seine Frau.
»Mami, ich habe so ein komisches Gefühl im Bauch«, klagen kleine Kinder, wenn ihr Magen sich seltsam flau anfühlt. Irgendwie scheint dieser sich selbstständig gemacht zu haben und nicht mehr an der richtigen Stelle zu sitzen – ein Missempfinden, das auch Erwachsene kennen, bloß geben sie es selten zu. »Seelische Irritationen des Magens erfolgen über den Vagus-Nerv, der zum vegetativen Nervensystems gehört«, sagt der Psychosomatiker Joachim Bauer. »Er entspringt dem Stammhirn und kann den Magen in Aufruhr versetzen, wenn wir uns ängstigen oder überfordert fühlen.«
Der Vagus ist der größte Nervenstrang des für Ruhe und Schlaf sorgenden parasympathischen Nervensystems. Er führt aus dem stammesgeschichtlich alten Nachhirn im Hinterkopf in den Körper hinab, verzweigt sich dort vielfach und mischt bei der Regulation nahezu aller inneren Organe mit. Häufig revoltiere der Magen (oder vielmehr der Vagus-Nerv), »wenn wir gezwungen sind oder uns selbst zwingen, selbstständig zu werden, etwa indem wir uns von Menschen lösen oder gar trennen, bei denen wir uns geborgen gefühlt haben«, erklärt Bauer das Zustandekommen des flauen Gefühls im Bauch. Krank davon könne ein Magen aber nur bei jemandem werden, »der sich aus biografischen Gründen übermäßig vor dem Aufgeben beschützender Bindungen fürchtet«.
Ein Austauschstudent, der von Oldenburg oder Erlangen für ein Jahr ins australische Sidney geflogen ist und beim ersten Erwachen in der Fremde meint, sein Magen rotiere in der Bauchhöhle wie ein Brummkreisel, braucht sich also nicht zu fürchten. Zum außerordentlichen Glück des Irritierten dreht sich sein Magen nicht wirklich um die eigene Achse.
Cholerisch veranlagte Menschen machen ihrem Ärger durch Brüllen und Toben meist rasch Luft, wenn auch zum Leidwesen ihrer davon betroffenen Mitmenschen. Ein sogenannter Magen-Typ hingegen neigt dazu, seinen Ärger in sich hineinzufressen – eine Speise von äußerst bescheidenem Nährwert, die einem auf lange Sicht obendrein das Leben vergällen kann. »Experimentelle Studien haben zeigen können, dass der Magen eines verängstigten oder anderswie künstlich gestressten Menschen sich nicht mehr so stark dehnen kann wie bei einem entspannten Menschen«, berichtet die Wiener Psychosomatikerin Gabriele Moser. »Der Magen krampft sich zusammen und kann dann viel weniger Nahrung aufnehmen.« Genau das spüre man auch bei Aufregung und Angst.
Kein Wunder also auch, wenn uns ein übellauniger Vorgesetzter heftig kritisiert und so den Appetit verdorben hat. »Dann ist uns praktisch jeder Bissen zuviel«, fügt Moser hinzu. Manchmal verkrampfe sich bei Stress sogar schon die Speiseröhre so arg, »dass wir keinen Bissen oder Schluck mehr herunterbringen«. Dann steckt die Kehle spürbar in der Klemme und ist wie zugeschnürt, so dass man buchstäblich schlucken muss vor Angst, damit dieser dumme Kloß im Hals verschwindet – ein Phänomen, das uns noch beschäftigen wird.
Dass der Schluckvorgang selbst seelisch beeinflusst wird, zeigt schon die Redensart, jemand habe im Leben ganz schön viel schlucken müssen. Hieraus wird der Widerwille deutlich, etwas, das man am liebsten von sich weisen würde, nicht nur zu-, sondern auch in sich vordringen zu lassen – eine ungeheuere Zumutung.
Bisweilen entwickelt sich die Abwehr des Hinunterschluckens zu regelrechter Schluckangst. Für manche Psychosomatiker »liegt die Vermutung nahe, dass eine nicht bewusste, abwehrende Einstellung gegen die Nahrungsaufnahme in dieser Form der Funktionsstörung ihren Ausdruck findet«, und zwar vornehmlich bei hysterischen Menschen oder bei depressiven Hypochondern, die überall in sich Krankheiten wähnen, am liebsten Krebs – warum also nicht gleich einen Tumor am Kehlkopf oder in der Speiseröhre? 54
Auf den Magen schlagen können auch Schuldgefühle – etwa nach einem Verstoß gegen die Erziehungsprinzipien der Eltern. In seinem Buch »Körper, Seele, Mensch« berichtet der Frankfurter Chirurg Bernd Hontschik von typischerweise montags auftretenden Bauchschmerzen bei Mädchen oder jungen Frauen, die von ihnen selbst oder ihren Eltern als Blinddarmentzündung missdeutet und in zwei von drei Fällen unnötig operiert worden sind.55 Auslöser aber waren oftmals familiäre Spannungen am Wochenende davor. »Die Tochter feiert samstags, macht erste sexuelle Erfahrungen, und die Eltern sind beunruhigt«, sagt der psychosomatisch orientierte Mediziner.56 Daraufhin nagten in der Tochter Gewissensbisse. »Und Spannungen und Schuldgefühle können Bauchschmerzen auslösen«, weiß Hontschik aus einfühlender Erfahrung.
Weniger dramatisch, dafür aber viel häufiger ist das Gefühl, das uns etwas gleichsam schwer im Magen liegt. Gemeint ist hier keine fette Speise, sondern ein misslicher oder trauriger Vorfall, der uns erregt hat und nun in uns nagt. Umso schlimmer, wenn beides zusammenkommen soll: Essen und Kummer – oder auch Ärger. Denn die Natur scheint es so eingerichtet zu haben, dass Mensch und Tier ihre Nahrung am besten in Ruhe zu sich nehmen und sich dabei Zeit lassen sollten – ganz anders als in unserer Schling-und-Mampf-Gesellschaft üblich. »Bei Stress und Angst funktioniert die Verdauung sinnvoller Weise nicht«, merkt Gabriele Moser an. Der Magen hat dann alles satt. Was auch besser so ist: Denn wenn im Bauch ohnehin nichts mehr vorangeht, läge uns jedes Essen »wie ein Stein im Magen und verursacht Magendruck«, sagt der Düsseldorfer Mediziner Roland Reinehr.
Zur bescheidenen Vereinbarkeit von Unwohlsein und Nahrungsaufnahme passt, dass auch Depressive häufig appetitlos sind. Messungen an Betroffenen haben ergeben, dass Depressionen und bestimmte Angsterkrankungen die Passage von Nahrung durch den Magen-Darm-Trakt enorm verlangsamen. Deshalb muss man auch einen Schicksalsschlag erst einmal verdauen, also in Ruhe verwinden.
Allerdings gibt es Traurige, die ohne sonderlichen Appetit eine Menge in sich hineinstopfen. Ihr Kummer hungert nicht nach Essen. Die Fressgier der Bedrückten sei lediglich eine »lustbetonte Ersatzbefriedigung«, wie Moser es nennt. Denn man verbinde das Essen mit jener Beruhigung, die der oder die Betreffende an der Mutterbrust erfahren und dabei verinnerlicht hat.
Das klingt auf den ersten Blick widersinnig: Bei Angst und Ärger verweigert sich der Magen, bei Liebeskummer oder anderer Trauer will er Schokolade, Popcorn oder Currywurst. Doch entscheidend sei die Dauer des Affekts, meint die Wiener Ärztin: »Den akuten Stress oder Angstschock kann man nicht gleichsetzen mit einer länger anhaltenden Unlust oder Unzufriedenheit, die zum Essen verführt – und diese wiederum nicht mit einer schweren Depression.«
Als bedürfte es an dieser Stelle noch eines weiteren Indizes dafür, wie eng Seele und Darm ineinander wirken: Bei etwa der Hälfte aller Patientinnen (es sind vorwiegend Frauen), die gegenüber ihrem Arzt von Durchfall, Bauchweh oder Verstopfung klagen, findet der Doktor keine organische Ursache für die Beschwerden. Mediziner und längst auch Heerscharen von Betroffenen in einschlägigen Internet-Foren sprechen in solchen Fällen vom Reizdarm. Das Leiden ist lästig und langwierig, doch bringt es einen nicht um.
Etwa 40 bis 50 Prozent jener Frauen, die einen Facharzt wegen eines Reizdarms aufsuchen, berichten von Missbrauchserfahrungen in ihrem Leben. »Es gibt natürlich sehr viele Patientinnen mit Reizdarm, die nie missbraucht worden sind, doch die sehen wir nicht in unseren Praxen«, sagt Gabriele Moser, die in ihrer Psychosomatik-Ambulanz immer wieder Reizdarm-Fälle verzeichnet. Missbrauch bedeutet auch hier nicht immer die Erfahrung sexueller Übergriffe. Gemeint sind bisweilen auch physische Gewalt und seelische Grausamkeit, zum Beispiel in Form von permanenter, schwerwiegender Erniedrigung oder Unterdrückung, etwa in Gestalt strengster Ausgeh- und Umgangsvorschriften.
»Häufig zieht sich der Missbrauch schon lange hin oder hat sogar in der Kindheit begonnen«, berichtet Moser. Die betroffenen Frauen stammen nicht selten aus Familien, in denen Gewalt gängig war, und verbinden sich später – in tragischer Wiederholung des bekannten Musters – mit brutalen Männern. »In höheren sozialen Schichten findet man eher psychischen als körperlichen Missbrauch«, sagt die Medizinerin. »Da wird sehr viel mit Angst und Strafandrohungen gearbeitet. « Das gebiert Langzeiteffekte: Betroffene reagieren dann nämlich auch später nicht verbal durch entlastende Widerworte, sondern körperlich – eben mit einem gereizten Darm.
Die gelbe bis dunkelgrüne Galle hat einen pH-Wert von 8 bis 8,5 und gilt deshalb als schwach basisch – sie ist also keineswegs sauer, aber bitter. Die Leber eines Menschen stellt jeden Tag etwa 0,7 Liter davon her, damit der magensaure Speisebrei den Darm nicht schädigt und dieser anfallende Fette leichter verdauen kann. Das ist aber bei Weitem nicht die einzige Aufgabe der zähen Gallenflüssigkeit – ein Loblied auf sie müsste etliche Strophen lang sein.
Sagen wir von einem Zeitgenossen, er sei ein galliger Mensch, sind das nicht gerade Liebesworte – wobei es Menschen gibt, die einen bitterbösen Humor sehr zu schätzen wissen. Wer jedoch mit großem Vergnügen laufend Gift und Galle spuckt, in Wahrheit natürlich böse Worte, wird bestenfalls wenige Freunde haben. Doch ginge das überhaupt: Galle spucken? Kann sie uns, wenn wir uns ärgern, wirklich hochkommen, wie es die Redensart vorgibt?
Die Galle sickert normalerweise von der Leber in die Gallenblase, wo sie erst einmal gespeichert wird. »Von dort fließt sie bei Bedarf – zum Beispiel nach einer fettreichen Mahlzeit – schwallartig über die Gallenwege in den Zwölffingerdarm ab«, sagt der Mediziner Roland Reinehr.
Wenn ein Mensch unter Stress ist und die aufgenommene Nahrung Magen und Darm deshalb nur verzögert passiert, könne es dem Betreffenden übel aufstoßen. »Gemeint ist dabei aber in der Regel die Magensäure, da die Galle nur selten rückwärts in den Magen gelangt«, stellt Reinehr klar. Wenn die Galle tatsächlich hochkommt, wir sie also erbrechen, ist das ein ernstes Warnzeichen. Dann stimmt entweder etwas am Magenpförtner nicht, der Schleuse vom Magen hinab zum Dünndarm, oder der Abfluss der Galle über den Dünndarm ist behindert, zum Beispiel bei einem Darmverschluss.
Ekel dürfte in der Rangliste der widerlichen Gefühle einen der oberen Plätze einnehmen, wenn nicht gar Spitzenreiter sein. Der Mensch empfindet Abscheu vor Ekelhaftem, um sich vor Schäden zu bewahren – entweder, indem Ungenießbares oder Ansteckendes nicht verzehrt oder der Kontakt zu angeblich oder tatsächlich Giftigem in der Umwelt gemieden wird – zum Beispiel zur über zwanzig Zentimeter groß werdenden Aga-Kröte (Bufo marinus), deren Haut mit Schleim überzogen ist, der die menschliche Haut stark reizt. Der Verzehr der Kröte oder ihrer Eier kann sogar tödlich sein, wie Einzelfälle gezeigt haben.
Während uns nach heutiger Kenntnis die Fähigkeit zum Ekel angeboren ist, sind die Gegenstände, vor denen wir Abscheu empfinden, zumindest großenteils kulturell verschieden – insofern also lernt unser Hirn, bestimmte Tiere, Dinge oder Flüssigkeiten eklig zu finden. Zudem kann sich unser Ekelgefühl über die Jahre verändern: Die meisten Kleinkinder, die noch wonnig und versonnen einen Popel verspeisen, würden dies als Erwachsene nicht mehr freiwillig tun. Schon beim Gedanken an den Verzehr des eingetrockneten Nasenschleims würde ihnen speiübel.
Umstrittene Fernseh-Shows wie das von RTL bis 2009 ausgestrahlte Dschungelcamp (eigentlich »Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!«) haben bis zum Erbrechen mit dem Ekelgefühl gespielt und dabei leider lange Zeit erfolgreich auf den Hang des Menschen zum Voyeurismus gesetzt. Abgehalfterte Prominente und solche, die vielleicht nicht einmal das waren, mussten sich widerwärtigen Erlebnissen aussetzen, zum Beispiel intensivem Kontakt mit Maden und Kakerlaken. Auch bissen die Dschungelcamper Käfern den Kopf ab oder ließen sich in stinkende Gülle tauchen.
Damit haben die Teilnehmer der Show nicht nur bewiesen, dass sie für Geld oder öffentliche Aufmerksamkeit fast alles zu tun bereit sind, sondern auch Herpes-Bläschen riskiert. Denn Wissenschaftler der Universität Trier konnten wie schon erwähnt zeigen, dass bereits der Anblick schmutzigen Geschirrs das Immunsystem stressen und also schwächen kann. Infolgedessen nehmen die in den meisten Menschen (so in etwa 90 Prozent der Bundesbürger) lauernden Herpes-Simplex-Viren überhand und lassen beispielsweise Lippenbläschen schwellen. 57
Ekel und Abscheu drücken wir aus, indem wir die Nase rümpfen und das Gesicht verziehen, aber auch durch Worte. Etwas, das uns ankotzt, finden wir abstoßend, obwohl es ja eigentlich an uns selbst wäre, uns zu übergeben, um etwas möglicherweise Schädliches wieder loszuwerden.
Interessanter ist die Frage, ob uns ein Mensch in diesem Sinne ankotzen kann – und zwar wegen seiner Art oder seines Verhaltens, wie es die Redensart vorgibt, nicht etwa wegen seines Körpergeruchs oder verdreckter Wäsche. »Dass ein menschliches Gegenüber alleine einen Brechreiz im Betrachter auslösen kann, kann man sich allenfalls über ein starkes Ekelgefühl vorstellen – aber vieles hier ist auch noch nicht erforscht«, sagt Roland Reinehr.
Rotbraun und bohnenförmig liegen die beiden Nieren des Menschen hinter dem Bauchfell beiderseits der Wirbelsäule; jede von ihnen 120 bis 200 Gramm schwer. An diesem viertel bis halben Pfund Gewebe tragen wir also nicht schwer – doch wehe, die Nieren fallen beide aus. Nichts im Körper kann diese Multi-Talente ersetzen.
Sie regulieren erstens unseren Wasserhaushalt – wie wir schon daran sehen können, dass unser Urin mal hell und also stark verdünnt ist, wenn wir zuletzt viel Wasser getrunken haben, oder aber dottergelb, wenn die Nieren mit knappem Körperwasser auskommen müssen. Oft verspüren wir dann auch schon Durst.
Über den Wasserhaushalt steuern die Nieren zweitens den Blutdruck mit. Denn dieser hängt auch von der Blutmenge ab – und zwar so: Je mehr wasserbindendes Natrium unser Blut enthält, desto mehr Wasser kann der Körper speichern – und umso mehr Blut kreist im Adernetz. Indem nun die Nieren den Gehalt des Blutes an darin gelösten Metall-Ionen (Elektrolyten) wie Kalium, Magnesium, Calcium und eben auch Natrium steuern, erhöhen oder senken sie auch den Blutdruck. Hier liegt der Grund dafür, dass Hochdruck-Patienten ihr Essen sehr sparsam mit Kochsalz (Natriumchlorid) würzen sollten.
Doch die Nieren können noch mehr: Sie scheiden Stoffwechsel-Substanzen wie Harnsäure und Harnstoff aus, außerdem Reste von Arzneien, die vom Körper nicht verwertet werden, sowie giftige Abfallstoffe (Toxine), die der Körper selbst produziert und von denen er sich über den Urin befreit. Zudem verhindern sie, dass unser Blut zu sauer oder zu alkalisch wird, und stellen neben diversen Hormonen auch Zucker (Glucose) her.
Wenn uns etwas an die Nieren geht, ist also Gefahr im Verzug – wie immer, wenn ein lebenswichtiges Organ bedroht ist. Die Frage ist nur, ob Ärger, Trauer und Kummer wirklich riskant für unsere Blut-Kläranlage sind, wie die bekannte Redensart es nahelegt.
Tatsächlich spricht einiges dafür – nicht nur die Bibel. In ihr »gilt die Niere als Sitz der Seele und Emotionen«, sagt der Nephrologe (Nierenkundler) und Internist Gunter Wolf, Direktor der Klinik für Innere Medizin III am Universitätsklinikum Jena. Dabei wurde das Doppelorgan häufig in einem Atemzug mit dem Herzen genannt, was noch heute an der Aussage ersichtlich ist, etwas müsse auf Herz und Nieren geprüft werden.
Diese Wendung prägte so ähnlich bereits Martin Luther in seiner deutschen Bibel von 1545 (nämlich im Psalm 7,10): »Lass der Gottlosen Bosheit ein Ende nehmen, aber die Gerechten lass bestehen; denn du, gerechter Gott, prüfest Herzen und Nieren.« Speziell im Alten Testament, seltener im Neuen, werden die Nieren »metaphorisch betrachtet als Sitz der Gefühle, der Unterscheidung von Gut und Böse, der innersten Gedanken und geheimsten Absichten, deren Beurteilung nur Gott zugänglich ist«.58
Mediziner von heute wissen, dass seelische Erregung sehr handfest auf die Nieren einwirken kann. Lästig, aber nicht schädlich ist der schon behandelte, verstärkte Harndrang bei Aufregung. Häufiger oder anhaltender Stress hingegen tut den Nieren überhaupt nicht gut. Bei Menschen mit Bluthochdruck (Hypertonie) sind Nierenleiden eine der häufigsten Todesursachen.
Was die Sache verzwickt macht: Nieren und Blutdruck beeinflussen sich wechselseitig. »Hoher Blutdruck schädigt die Nieren, und umgekehrt führt eine chronische Nierenschädigung oder -erkrankung zu Hypertonie«, sagt Walter Hörl, der die Klinische Abteilung für Nephrologie und Dialyse an der Medizinischen Universität Wien leitet. »Bluthochdruck schädigt die vielen großen und kleinen Blutgefäße in der Niere.« Das gelte auch für die kleinsten, die Kapillarschlingen, die den eigentlichen Blutfilter aufbauen, das Glomerulum. »Ist in den Kapillarschlingen der Blutdruck erhöht, treten Eiweiße des Blutes in den Urin über – speziell das sogenannte Albumin, dessen Anteil am gesamten Bluteiweiß normalerweise etwa 60 Prozent ausmacht«, schildert Hörl den Vorgang. »Und je mehr Eiweiß in den Urin überwechselt, desto weiter schreiten Nierenerkrankungen fort.« Denn die Niere ist nun bestrebt, ihren Proteinverlust wieder auszugleichen, indem sie das verlorene Eiweiß aus dem Urin zurückzugewinnen versucht – Hörl zufolge »auf den ersten Blick ein vernünftiger Mechanismus«.
Doch um das zu bewerkstelligen, werden Entzündungszellen des Immunsystems in die Niere gelockt, die mit ihrem Instrumentarium – darunter aggressive Sauerstoffradikale – Bakterien abtöten wollen. Bloß: Solche sind gar nicht vorhanden. Und so zerstören die Immunzellen fatalerweise das Binde- und Stützgewebe, das die Niere umgibt und zudem den Raum zwischen den funktionellen Nierenzellen einnimmt. Das führt zur sogenannten interstitiellen Fibrose – einer krankhaften Vermehrung des Bindegewebes, letztlich ein Reparaturversuch durch neu gebildetes Narbengewebe. »Je stärker die Fibrose,
Der 1,20 bis 1,80 Meter lange Dickdarm und der etwa doppelt so lange Dünndarm messen beim Erwachsenen zusammen durchschnittlich 5 bis 6 Meter. Ausgebreitet würden die gefalteten Schleimhäute des Darms eine Fläche von 200 bis 400 Quadratmetern einnehmen, 100- bis 200-mal so viel wie die Haut. Im Dickdarm leben Billionen von Bakterien, die unser Immunsystem trainieren und dabei helfen, die Nahrung aufzuschlüsseln. Sie haben Schritt für Schritt den ursprünglich keimfreien Verdauungstrakt des Neugeborenen besiedelt. Bei Erwachsenen leben allein im Darm mindestens 160 Bakterienarten, deren Artenspektrum sich von Mensch zu Mensch zum Teil deutlich unterscheidet.59
Der Darm in einem 75-jährigen Menschen hat bis dahin rund 30 Tonnen fester Nahrung verdaut – beispielsweise gut 4,6 Tonnen Fleisch und Wurst, wenn der Jahreskonsum bei 62 Kilo liegt, dem aktuellen Pro-Kopf-Durchschnitt (Vegetarier allerdings einschlossen). Hinzu kommen etwa 50.000 Liter Flüssigkeit – ein kleines Schwimmbecken voll.
Rund 70 Prozent der Immunzellen unserer körpereigenen Abwehr sitzen im Darm. Auch deshalb ist es sehr heikel, ihn zu verpflanzen, denn die Immunabwehr des Organ-Empfängers stößt das fremde Verdauungsorgan besonders heftig ab.
um so schneller geht es mit der Nierenfunktion bergab«, sagt Hörl.
Das Seltsame daran ist, dass die Niere sich ein Eigentor schießt, indem sie die Entzündungszellen auf den Plan ruft. Doch den Wiener Nierenspezialisten wundert das keine Spur: »Häufig macht unser Körper bei Reparaturversuchen mehr kaputt, als er repariert.«
Ohne Studien darüber vorlegen und gar einen Beweis führen zu können, haben manche Mediziner den Eindruck, dass Menschen mit kranker Niere auffallend oft recht wesensähnlich sind. »In meiner neunmonatigen Zeit auf einer Dialyse-Station sind mir Nierenpatienten immer stark aufgefallen als gefühlsstarr erscheinende, misstrauisch-mürrisch-verärgerte Menschen«, weiß der Mediziner Joachim Bauer zu berichten. Insofern erscheint ihm ein Bezug von Ärger und Wut zur Niere plausibel. Vielleicht drehe sich bei der Niere vieles um das Thema Angst, wagt Bauer einen Gedanken, den er vorsichtshalber als »pure Spekulation« verstanden wissen will: Entweder die Niere produziere, wenn jemand sich fürchtet, rasch viel Harn, »oder die Angst wird abgewehrt zugunsten einer starren, mürrisch-abwehrenden Haltung, und dann geht die Niere selbst kaputt«.
Ähnlich einschlägige Erfahrungen mit Nierenkranken hat Wolf-Jürgen Maurer gemacht, Chefarzt der psychosomatisch orientierten Panorama-Fachklinik Scheidegg im Allgäu. Bei solchen Menschen spielten »oft Unsicherheit und mangelndes Urvertrauen eine Rolle – etwa die diffuse Angst, im Alltag oder in der Welt nicht bestehen zu können«, sagt der Facharzt für Allgemeine und Psychosomatische Medizin. Diese »häufig alten Grunderfahrungen und traumatischen Erlebnisse – aber auch aktuell erschütternde oder enttäuschende Beziehungen – graben sich mitunter tief in die organische Substanz ein«.
Maurer warnt allerdings davor, sich zu übertriebenen Deutungen zu versteigen: »Man kann das nicht genau beweisen und erklären«, sagt der Experte für Leib und Seele. Es gebe auch keine Zwangsläufigkeit etwa dergestalt, dass jemand mit mangelndem Urvertrauen auf jeden Fall irgendwann Nierensteine oder dergleichen bekomme. »Doch meine ärztliche Erfahrung zeigt einfach, dass solche Grundängste und Unsicherheiten sich erkennbar häufig in Nierenleiden niederschlagen.«
Die Frage ist freilich: Was war ursächlich zuerst da – das mürrisch-ängstliche Wesen oder das hartnäckige Nierenleiden? »Wenn ich chronisch krank bin und weiß, ich könnte irgendwann einmal von einer Dialyse-Maschine abhängig sein, so ist dies kein Grund zur Euphorie«, merkt der Nierenspezialist Hörl an. »In anderen Worten: Was kommt zuerst – die Henne oder das Ei?« Nicht einfach zu entscheiden für Ärzte, die ihre Patienten erst kennenlernten, als diese schon krank waren – und nicht selten entsprechend geknickt.