Halt im Leben zu haben oder verlorenen wiederzufinden, ist für jeden Menschen erstrebenswert. Vor allem der Lebenspartner soll einem »Halt und Geborgenheit« geben, wie es als Zweiklang häufig zu hören oder in Kontaktanzeigen zu lesen ist. Der Spieß im Kasernenhof wiederum fordert von seinen Rekruten, endlich Haltung anzunehmen, womit er einen durchgedrückten Rücken meint – nicht etwa Rückgrat. Er will keine Aufrichtigkeit, sondern aufrechten Stand.
Unsere Körperhaltung gehört zu den stärksten stummen Signalen an unsere Artgenossen. »Der menschliche Körper ist nicht nur Sender und Empfänger von Zeichen, sondern auch selbst ein Zeichen, das uns über die Stimmung und den Gesundheitszustand eines anderen Menschen informiert«, urteilt Dagmar Schmauks von der Arbeitsstelle für Semiotik (»Zeichenlehre«) der Technischen Universität Berlin. Sie ist Expertin für Zeichentheorie und hat sich eingehend mit körperbezogenen Redensarten beschäftigt.
Unaufhörlich senden wir Haltungsbotschaften aus, ganz gleich, ob wir gehen oder stehen, sitzen oder liegen. Diese werden noch ausdrucksstärker, wenn sie mit Bewegungen kombiniert sind. So weiß eine Personalchefin binnen Sekunden ausreichend Bescheid über die innere Verfassung oder Einstellung eines Bewerbers, wenn dieser mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf zu ihr ins Büro geschlurft kommt. Wenn sie einen Laufburschen sucht, der womöglich sogar gerne buckelt, mag der Gebeugte noch Chancen haben; für die Stelle eines Hauptabteilungsleiters jedoch kommt er niemals in Frage – jedenfalls nicht in der aktuellen Verfassung, und eine andere wird der Kandidat zumindest dieser Entscheiderin nicht mehr präsentieren können.
Das mag ungerecht sein, doch verfahren wir alle täglich so: Wir urteilen zunächst nach Äußerlichkeiten, und zu diesen gehört ganz wesentlich die Haltung. Wem das schon damals, in der Altsteinzeit, zu oberflächlich und zu wenig menschenfreundlich war, mag selbst finster und verschlagen dreinblickende Zeitgenossen arglos und unbewaffnet in der heimischen Höhle empfangen haben – seine Gene weitergeben konnte er jedoch vermutlich nicht mehr.
Schmerzen und Störungen in Knochen und Muskeln auf seelische Ursachen zurückzuführen oder diese wenigstens mitzubedenken, hat sich als mehr oder minder gängige Praxis erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzen können. Zuvor ist es in der Orthopädie recht technisch zugegangen. »Begriffe wie Statik, Mechanik, Material von Knochen, Muskeln und Bändern und deren Funktion standen im Mittelpunkt der Betrachtung«, berichtet die 2005 verstorbene Orthopädin und Psychotherapeutin Hildegund Heinl in ihrem aufschlussreichen Buch »Körperschmerz – Seelenschmerz«, das sie kurz vor ihrem Tod zusammen mit ihrem Sohn Peter Heinl, einem Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, veröffentlicht hat.60
Dass Knochen, Muskeln und Bänder noch heute bisweilen als maschinenähnlicher Stütz- und Bewegungsapparat (!) gelten, rührt noch aus jener Zeit her, als sich Orthopäden den wenig schmeichelhaften Ruf als »Knochenklempner« erschraubt und erbohrt haben. Hildegund Heinl studierte in den 1940er-Jahren Orthopädie, wusste also, wovon sie sprach. Heute gilt die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes manchen als »Pionierin der psychosomatischen Orthopädie«.61
Für Heinl vermittelt die Wirbelsäule den »Ausdruck unseres Selbstwertgefühls«, wie ja auch ein geknickter, in sich zusammengesunkener Mensch von sich selbst schon einmal mehr gehalten haben dürfte als in diesem kraft- und saftlosen Zustand. Hände und Arme stünden hingegen für die Beziehungen eines Menschen zur Außenwelt: Wir greifen zu, vergreifen uns, werden bisweilen gar übergriffig. In Füßen und Beinen wiederum sah die verstorbene Orthopädin jene Körperteile, die einen Menschen standfest und wehrhaft machen oder es ihm erlauben, vor einer Gefahr zu fliehen.
Einige Fallbeispiele aus der Praxis Heinls mögen das Enthüllungspotenzial eines psychosomatischen Krankheitsverständnisses verdeutlichen: Da war erstens jener junge Mann, der selbst nach »100 krankengymnastischen Behandlungen und Massagen« noch immer über Rückenschmerzen klagte. Heinl schloss aus orthopädischer Sicht auf einen »haltungsschwachen Rücken«, dessen Muskulatur rasch ermüdet und schmerzt. Wie sich herausstellte, hatte der Patient schon früh – und danach immer wieder – von seiner Mutter zu hören bekommen: »Du musst dich gerade halten, sonst wirst du kein Mann.« So hatte der Arme von Kindesbeinen an gelernt, nicht locker zu lassen – und zwar nicht nur am Rücken.62
Zu lesen ist auch von einer jungen Frau, deren Mutter ihr zum Erledigen der Schularbeiten in möglichst korrekter Haltung stets »ein Lineal ins Kreuz gesteckt« und nicht mit Ermahnungen wie »Sitz gerade!« oder Kopf hoch!« gegeizt hatte. Kein Wunder, dass die Patientin Schmerzen beim Sitzen verspürte und kein einziges bequemes Sitzmöbel besaß.
Und schließlich erfährt man von einem 29-Jährigen, dessen unterer Rücken oft schmerzte und der zusammenzuckte und verspannte, wenn Heinl ihn im Bereich der Lendenwirbel berührte. Doch untersuchte sie mit der Hand die Schultern des Mannes, entspannte sich sein Gesicht, und die Ärztin sah, »wie ein leises Lächeln seinen Mund umspielte«.
Die Erklärung für die beiden grundverschiedenen Reaktionen verblüfft: Zum Züchtigen hatte der Vater des jungen Mannes seinen Sohn früher stets übers Knie gelegt und ihm Prügel in der Lendengegend angedeihen lassen. Die von dem Jungen geliebte und ihn wiederliebende Oma hingegen hatte ihre Hand immer zärtlich zwischen seine Schulterblätter gelegt und ihn mit »Grüß Gott, Büberl« willkommen geheißen.63
Beindruckende Fallgeschichten – auch deshalb, weil die Körperstelle der früheren Misshandlung und der aktuelle Schmerzpunkt mehr oder minder identisch sind. Doch so einfach ist es längst nicht immer, und zwar aus drei Gründen: Hildegund Heinl hat erstens immer wieder feststellen müssen, »dass der Zusammenhang zwischen Symptom und Ursache nicht so engmaschig war, als dass ein bestimmtes psychosomatisches Symptom zwangsläufig von vornherein auf eine spezifische Ursache hinwies«. Zweitens könnten unterschiedliche, psychologische Ursachen die gleichen Beschwerden hervorrufen. Und drittens seien die »Übergänge vom somatischen zum psychosomatischen Schmerz ... gleitend«.
Wer also von seinem Vater häufig harsch ermahnt und dabei stets grob an der rechten Schulter gepackt wurde, den werden nicht unbedingt später genau an dieser Stelle chronische Schmerzen quälen – in vielen Fällen übrigens auch nirgendwo sonst. Umgekehrt kann ein ständig schmerzender Nacken die Folge von Überforderung in jungen Jahren oder anderen seelischen Ursachen sein – von krasser Fehlhaltung am Schreibtisch oder einem Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule einmal abgesehen.
Das Schmerz- oder Körpergedächtnis hat mithin seine Tücken – wie generell der Blick durch eine übergroße psychosomatische Brille. Vieles hat zumindest auch seelische Ursachen, aber eben längst nicht alles – mag es noch so verführerisch sein, erlittene psychische Verletzungen zu vermuten und dann aufzudecken.
Für den engen Zusammenhang von Rückenleiden und Seele spricht dennoch vieles. Orthopäden der US-Universität Stanford fanden zum Beispiel heraus, dass psychische Faktoren weitaus bessere Prognosen darüber zulassen, ob jemand in den kommenden Jahren Schmerzen im Lendenwirbelbereich bekommen wird, als es krankhaft veränderte, aber noch keinen Schmerz verursachende Bandscheiben im unteren Rücken können. Hierzu muss man wissen, dass selbst ein Bandscheibenvorfall beileibe nicht immer Beschwerden verursacht oder noch lostreten wird.
Bei jenen Testpersonen der US-Studie, die über seelische Probleme klagten oder schlecht mit psychischer Anspannung umgehen konnten, schmerzte der Rücken innerhalb des vierjährigen Untersuchungszeitraums dreimal so oft wie bei solchen Probanden, deren Bandscheiben bereits gerissen oder ausgestülpt waren. Solche Schäden können durch ein Röntgenbild sichtbar gemacht werden, nachdem der Arzt ein Kontrastmittel in die Bandscheibe gespritzt hat – ein Vorgang namens Diskographie, der selbst oft schmerzt, weil die eingespritzte Flüssigkeit den Druck auf die bereits mehr oder minder gereizten Nerven des Rückenmarks erhöht. »Wir dachten, dass eine Diskographie die Spreu vom Weizen trennen könnte«, sagt der Orthopäde Eugene Carragee als Hauptautor der Studie mit 95 Teilnehmern. »Aber die Quintessenz ist, dass die Methode nicht vorhersagen kann, wer künftig Rückenschmerzen bekommen wird.« Das schafft ein guter Psycho-Test viel eher.64
Das Leben kann die Härte sein. Manchmal auch wörtlich, so etwa bei stocksteifen Zeitgenossen, die so aufrecht wirken, als hätten sie einen kleinen Mann im Ohr, der ihnen pausenlos eintrichtert: »Drück bloß den Rücken durch!« Von solchen Menschen hat man schnell den Eindruck, sie könnten in der Mitte durchbrechen, wenn man ihnen nur mal mit Schmackes auf die Schulter klopft oder beherzt in die Seite knufft.
Alexander Lowen (1910 – 2008) hatte als Körpertherapeut häufig mit derartigen Patienten zu tun. Der US-amerikanische Psychotherapeut und Arzt gilt als Begründer der Bioenergetischen Analyse, die sich wesentlich auf die Arbeiten Sigmund Freuds (1856 – 1939) und die Charakteranalyse des Psychiaters Wilhelm Reich (1897 – 1957) stützt. Lowen brachte beides zusammen und entwickelte daraus einen eigenen Ansatz namens Bioenergetik (»Bioenergetics«) – eine alternative Therapieform, deren Kosten in Deutschland von den gesetzlichen und privaten Kassen in der Regel nicht oder nur zum Teil übernommen werden.
Therapeuten, die nach Lowens tiefenpsychologischer Methode arbeiten, nutzen nicht nur das erhellende Gespräch, um die Beschwerden, Ängste und Spannungen ihrer Patienten zu erkennen und buchstäblich zu lösen. Sie analysieren obendrein ausgiebig die Körperhaltung und eingeschliffene Atemmuster, um durch dieses »Körperlesen« innere Widerstände des Leidenden zu ermitteln.
Spezielle Übungen sollen ferner spannungsgeladene Muskelgruppen belasten und regelrecht provozieren – etwa indem der Patient mit angewinkelten Knien seinen Rücken gegen die Wand stemmt, ohne dass ein Stuhl ihn unter dem Gesäß stützt. Schon nach kurzer Zeit beginnen die Beine zu flattern, was sehr unangenehm ist, dem Therapeuten aber beispielsweise zeigt, wie lange der Klient bereit und imstande ist, einer schmerzlichen Vorgabe Folge zu leisten und seinem Entspannungswunsch zu trotzen.
Aber auch bewusstes und teils heftiges Ein- und Ausatmen zielen darauf, im Körper förmlich weggesteckte, weil verdrängte Gefühle zu befreien und dadurch Muskelblockaden zu lösen. Die Patienten sollen zudem ein besseres Gefühl für ihren Körper, dessen Regungen und Reaktionen erlangen.
Aus Lowens Sicht sind ungesund verhärtete Muskeln die unmittelbare Folge davon, dass lustvoll motivierte Handlungsimpulse verdrängt und kontrolliert werden. Nach ihnen aber verlange das Leben geradezu, denn »es flieht den Schmerz und strebt nach Lust«. 65
Alle Eltern wissen zum Beispiel, dass Kleinkinder zielstrebig nach einem reizvollen Spielzeug oder begehrenswerten Kuchenstück greifen, sobald sie es entdecken. Erst die Erziehung gewöhnt den Kleinen solche Impulse ab und zügelt dadurch ihre Begierde.
Indem Eltern ihren zupackenden Sprösslingen mit Strafe oder Liebesentzug drohen oder auch nur beständig mit lauter Stimme »Nein«! rufen, machen sie ihnen allmählich Angst vor dem lustvollen Zugriff. Sie pflanzen ihren Kindern ein schlechtes Gewissen ein, das auch später, wenn Töchterchen und Sohnemann längst erwachsen sind, in vergleichbaren Situationen noch hemmend wirkt – nämlich immer dann, wenn sie gerne etwas hätten, aber meinen, nicht einfach danach grabschen zu dürfen. Das kann das letzte Stück Torte auf dem Blech sein oder der letzte Rest Reis in der Schüssel, auf den auch andere Gäste am Tisch scharf sein könnten.
Während ein unterdrückter Impuls wie der geschilderte sozusagen normal ist und rücksichtsvolles Miteinander erst ermöglicht, werden manche Menschen regelrecht lustfeindlich erzogen. Belastet, mitunter gar gepeinigt von Ängsten, wagen sie es nie, einen Herzenswunsch zu äußern oder sich freimütig und ohne ausdrückliche Erlaubnis etwas Begehrtes zu nehmen.
Nicht selten kommt ihnen irgendwann sogar jegliches Gespür für ihre Lust abhanden. Ihre unterdrückten Impulse sind ihnen zwar auch dann nicht ins Blut, aber ins Fleisch – also die Muskeln – übergegangen, wo sie sich spürbar festkrallen und häufig lästige Schmerzen bereiten. »Der Charakter strukturiert sich im Körper als chronische, gewöhnlich unbewusste Muskelspannungen, die nach außen gerichtete, greifende Impulse blockieren oder eindämmen«, schrieb Lowen in seinem 1975 erschienenen Originalwerk. Verspannungen können auf bestimmte Muskelgruppen wie Nacken und Schultergürtel beschränkt sein, aber auch mehr oder minder die komplette Muskulatur betreffen. In solchen Fällen sprechen Bioenergetiker anschaulich von einem Muskelpanzer – ein Begriff, den Wilhelm Reich prägte.
Zurückgehalten werden häufig nicht nur lustgesteuerte Handlungsimpulse, sondern auch belastende Emotionen. »Viele Gefühle, die schmerzlich sind und deshalb bewusst nicht erlebt werden sollen, schlagen körperlich durch und werden – bildlich gesprochen – eingefroren, in den Muskelpanzer gesteckt«, sagt auch der Scheidegger Psychosomatiker Wolf-Jürgen Maurer. »Der Betroffene versteift sich; sein Körper leidet unter der Bürde nicht gefühlter Gefühle.« Psychotherapeuten können ein Klagelied davon singen. Und der Historiker und Feuilletonist Gustav Seibt diagnostizierte das Phänomen sogar bei Bundesaußenminister Guido Westerwelle, dem er »verpanzerte Starrheit« zugeschrieben hat.66
Evolutionsbiologisch betrachtet, ergibt der Harnisch aus angespanntem Fleisch sehr wohl Sinn – und zwar aus drei Gründen. Er betrifft erstens jene Muskeln, welche die Knochen umgeben oder im Gelenk halten und somit beim Kampf mit einem Gegner oder einem wilden Tier das Risiko verringern, sich das Gebein zu brechen beziehungsweise Glieder zu verrenken – eine Misslichkeit, die einen Kämpfer außer Gefecht setzen kann.
Zweitens ist eine angespannte Muskulatur gewissermaßen in Hab-Acht-Stellung, also bereit zur Flucht oder zum Kampf – ganz wie die so augenfällig zum Losspurten bereite Muskelmasse eines Löwen oder Geparden, der im Gras der Savanne seine Beute anvisiert. Auch wenn wir ganz gespannt auf einen Anruf oder das Ende einer Geschichte warten, haben sich unser Muskeltonus und Herzschlag gegenüber dem Zustand innerer Gelassenheit leicht verändert. Wir sind dann selbst quasi auf dem Sprung – wie manche Menschen ihr ganzes Leben lang. Oder wir fühlen uns voller Erwartung wie auf die Folter gespannt – so ungefähr das Gegenteil autonomen Handelns.
Drittens schließlich können spannungsreiche Muskeln die bei Angriffen besonders bedrohten Eingeweide wenigstens etwas schützen. Deshalb spannt man instinktiv die Bauchmuskeln an, wenn einem Schlag in die Magengrube nicht mehr auszuweichen ist. Wagt man eine Spekulation, könnte es sein, dass ein durchtrainierter Mann mit Waschbrettbauch auch deshalb so beeindruckend auf einen möglichen Gegner wirkt, weil er nicht so leicht entscheidend zu verwunden wäre.
Dieser altbackene Vorteil könnte auch moderne Frauen noch immer – zumindest optisch – für muskelbepackte Männer einnehmen. Denn ein wehrhafter, buchstäblich harter und zäher Kämpfer mit Bauchmuskeln im Sechserpack hat sich zumindest vor Tausenden von Jahren als Beschützer von Weib und Kind eher geeignet als ein schwammiger Weichling. Wobei bezeichnend ist, dass selbst der Schädel als Hüter des verletzlichen Hirns bisweilen als weiche Birne verunglimpft wird, die wie eine verderbende Frucht von innen her bereits faul ist und kaum zu etwas taugt.
Das Weiche hat es eben schwer in einem Land der harten Männer, wo alles Gute »die Härte« ist und auch sein muss – zum Beispiel beim nach wie vor von Männern dominierten Fußball. Kicker müssen hart im Nehmen sein und einiges einstecken. Dabei sollte die Muskulatur eher locker bleiben. Ein Balltreter, der sich eine Verhärtung oder gar Zerrung einhandelt – sei es als Folge einer unkontrollierten Bewegung oder schierer Überlastung –, sollte die Jagd nach dem Leder sofort einstellen. »Verhärtete Muskeln sind ein Zeichen, dass etwas nicht in Ordnung ist«, schreibt Christoph Anrich, Sportwissenschaftler und Trainer-Fortbilder für den Deutschen Fußballbund, in einem Buch über Verletzungsprophylaxe. Indem sich die Muskulatur zusammenzieht, »schützt (sie) sich vor einer Verletzung«. Wer dennoch weiterspielt, riskiert einen Faserriss. 67
Allerdings erleiden Sportler mit grundsätzlich härterer Muskulatur nicht unbedingt eher Zerrungen. Ihm seien »keine Längsschnittstudien bekannt, die einen Zusammenhang zwischen einem hohen Muskeltonus und einem erhöhten Verletzungsrisiko abschließend belegen«, sagt jedenfalls der Sportmediziner Frank Mayer, Ärztlicher Direktor der Hochschulambulanz der Universität Potsdam.
Bleiben wir noch einen Moment beim Lieblingssport der Deutschen. Wer als Fußballer in bestimmten Spielsituationen nicht hart sein kann – zumindest stellenweise –, der riskiert die Gesundheit und im Extremfall das Leben. So müssen Kicker die Halsmuskeln anspannen, bevor sie zum Kopfball ansetzen oder einen fest getretenen Ball frontal mit der Stirn parieren – zum Beispiel einen wuchtigen Abschlag des gegnerischen Torhüters. »Kriegt man so einen Abschlag auf den Kopf, dann ist das wie ein Faustschlag«, sagt Fritz Siemsen, Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität Frankfurt am Main.
Üblicherweise wappnet sich der Spieler gegen den Aufprall, indem er kurz zuvor die Nackenmuskeln anspannt und so sein Haupt fixiert; er wird auf sinnvolle Weise halsstarrig und hartnäckig. Infolgedessen prallt der Ball von der Stirn ab und nimmt einen Großteil seiner Energie wieder mit, statt sie auf den Kopf des Spielers zu übertragen und danach schlapp zu Boden zu fallen.
Rummst hingegen ein schnell fliegender Ball gegen den Schädel eines Spielers, ohne dass dieser das Geschoss hat kommen sehen, kann es richtig gefährlich werden. Denn beim unvorbereiteten Kontakt beschleunigt der herbeizischende Ball den Kopf ebenso urplötzlich wie heftig. Zwar ist der Ball leichter als sein Stoßpartner aus Knochen und Hirnmasse, aber die Wucht beim Aufprall, mithin der Impuls, errechnet sich aus dem Produkt von Masse und Geschwindigkeit.
Ein Schuss muss gar kein 120 km/h schneller Knaller werden, um riskant zu sein. Schon bei einem 80 km/h flotten Ball bewegt sich der Kopf »innerhalb von nur einer Hundertstelsekunde um ein paar Zentimeter, und die auf ihn einwirkende Kraft macht ungefähr das 50-fache seines Gewichts aus«, hat der englische Physiker John Wesson ausgerechnet.68 Ohnmacht, Gehirnerschütterung und schlimmstenfalls eine lebensbedrohende Hirnblutung können die Folgen sein. Wenn Trainer mithin von der »nötigen Härte« ihrer Spieler sprechen, sollten sie vor allem rechtzeitig angespannte Nackenmuskeln meinen.
Zum Dauerzustand darf der angespannte Nacken jedoch nicht werden, denn sonst plagt sich der Mensch. Viele Bürohengste und -stuten, die lange in meist starrer Haltung am Computer arbeiten müssen, erfahren dies täglich schmerzhaft. Das Kräftigen der Schultermuskulatur und zwischengeschaltete Lockerungsübungen können hier helfen.
Doch wenn die Angst festgefügt im Nacken sitzt, ist es mit Gymnastik nicht getan. Aufmerksamkeit verdient dann auch das Ängstigende. Denn dummerweise verhält sich der Nacken eines dort Verspannten aus evolutionsbiologischer Sicht genau richtig. Wer sich nämlich in jenen Zeiten, da der Mensch noch täglich um Leib und Leben bangen musste, dem Angriff eines Raubtiers ausgesetzt sah, zog vernünftigerweise aus Furcht den Kopf ein. Schließlich ist dem menschlichen Nacktaffen seit jeher nur das kümmerliche Verbergen des extrem verwundbaren Halses zwischen den Schulterblättern geblieben, weil er doch keinen knöchernen Nackenschild hatte wie in grauer Vorzeit der dreigehörnte Saurier Triceratops (»Dreihorngesicht«).
Das Einziehen des Kopfes war jedoch auch zu Zeiten der Frühmenschen nicht immer eine Schutzreaktion, sondern bisweilen »auch eine Demutsgeste in die Urhorde hinein«, sagt der Psychosomatik-Facharzt Wolf-Jürgen Maurer. Hier zeige sich bis heute eine Form nichtsprachlicher Kommunikation mit anderen Menschen – etwa als Ausdruck der Bereitschaft, eine bestimmte Rolle einzunehmen oder eben nicht: hier das Alpha-Tier, dort der gute Mitläufer, von dem keine Gefahr für den Anführer ausgeht, der lieber in Ruhe gelassen werden möchte und unterwürfig darum bittet, ihm nichts anzutun.
Leider probieren wir auch heute noch, einem klar Überlegenen oder mächtig Aufbrausenden mit eingezogenem Kopf zu begegnen. Doch während man als Urmenschen-Horde im glücklichen Fall ein Raubtier rasch in die Flucht schlagen und dann – vom Muskelzugriff im Nacken befreit – aufatmen konnte, ist die Sache heute viel komplizierter: Die fachlich überlegene Kollegin verschwindet nicht einfach, sondern macht sich am Schreibtisch gegenüber immer breiter. Und die Mathe-Klausur in zwei Wochen, der man sich als eher musisch veranlagter Mensch mal wieder wehrlos ausgesetzt fühlt, lässt sich nicht verjagen, sondern rückt bedrückend näher. Also verspannt unser Nacken und mit ihm oftmals die gesamte Schulter-Muskulatur – häufig begleitet vom weitverbreiteten, dumpfen Spannungskopfschmerz, der sich anfühlt, als habe ein Peiniger einen Ledergürtel um das Haupt des Betroffenen geschnallt und ziehe diesen immer enger. Oder als stecke der Kopf recht ungemütlich in einem Schraubstock.
Es war ein Bild des Jammers: Nach dem Aus bei der Fußball-WM am 7. Juli 2010 gegen Spanien bot die deutsche Mannschaft Anschauungsunterricht in Sachen Körpersprache, der jedes Psychosomatik-Lehrbuch zieren würde. Nicht nur die BILD-Zeitung sprach von einer Opferhaltung.
Miroslav Klose ließ geschlagen den Kopf hängen. Toni Kroos biss sich verkniffen auf die Lippen. Sami Khedira hatte den Blick gesenkt, als er den Platz verließ. Philipp Lahm rang mit den Tränen, worauf ein bestürzend einfühlungsloser TV-Reporter in den Katakomben des Stadions keine Rücksicht nehmen mochte und dem Münchner rekordverdächtig alberne Fragen stellte. Lukas Podolski fasste sich mit beiden Händen am Kopf, bekam die Niederlage aber auch so nicht in den Griff.
Bastian Schweinsteiger kniete schmerzlich lange am Boden zerstört auf dem Rasen und sprach hinterher den treffenden Satz: »Auch wenn alle sagen, dass wir ein tolles Turnier gespielt haben, sind wir doch sehr geknickt.« Arne Friedrich hockte gramgebeugt auf der Ersatzbank und fand mit den Ellbogen auf den Knien wenigstens etwas Halt. Auf seiner Internetseite ließ er die Fans später wissen: »Wir alle sind zutiefst enttäuscht und müssen die Niederlage gegen die Spanier erst einmal verdauen.«
»Der Spannungskopfschmerz ist häufig in Situationen des Leistungsdruckes und bei kritischen beruflichen oder gesellschaftlichen Lagen zu beobachten«, schreiben der frühere Direktor der Psychosomatischen Uni-Klinik Heidelberg, Walter Bräutigam, und seine Mitverfasser in ihrem Lehrbuch über Psychosomatische Medizin. Schulter-, Nacken- und Schläfenmuskeln verhärteten häufig bei inneren Konflikten, »in denen sich ein besonderer Leistungswunsch mit einer äußeren Versagung oder inneren neurotischen Ambivalenz verbindet«.69
Eine Schülerin, die sich bei den Hausaufgaben überfordert fühlt, oder ein schlecht vorbereiteter Prüfling sind ebenso typische Kandidaten für diesen Kopfschmerztyp wie eine Frau mit tief sitzender Bindungsangst, die sich mal wieder von einem scheinbar hartnäckigen Verehrer bedrängt weiß. Bloß verspannt hier eben gar nicht dessen Nacken, sondern jener der vergebens Umworbenen, deren Bindungsangst ihr bei jeder neuen Avance eines in sie Vernarrten schmerzlich im Genick sitzt.
Wie schon mit Blick auf das Kopfballspiel geschildert, ist Halsstarrigkeit allerdings nicht grundsätzlich schlecht. »Mit ihr kann verbunden sein, dass jemand mit Macht und Durchhaltevermögen etwas erreichen will – dann wäre das etwas Gutes«, gibt Wolf-Jürgen Maurer zu bedenken. Wenn Halsstarrigkeit aber für Sturheit steht, sei das negativ, weil sich der Betreffende nicht mehr von seiner Vorstellung lösen könne, wie er selbst, wie andere und wie die Welt sein müssten. »Dann ist dieser Mensch wegen seines riesigen Selbstanspruchs schnell verkrampft, seine Muskulatur verspannt – vor allem die Schulter-Nacken-Region und der Trapezmuskel im oberen Rücken, also der Selbstbehauptungsbereich, wie ich ihn nenne.«
Solche Menschen haben Maurer zufolge oft einen riesigen Anspruch an sich selbst, neigen zur Zwanghaftigkeit, oft als Abwehr eines Gefühls von Minderwertigkeit und Unterlegenheit. Sie versuchen – buchstäblich krampfhaft – Stärke zu zeigen, überziehen jedoch dabei. Das kostet viel Kraft und führt dazu, dass die Betreffenden nicht mehr locker lassen können. Derart Halsstarrige meinen, die Welt nach ihrem Bilde formen zu müssen – »natürlich eine Selbstüberschätzung, aber der Muskulatur bleibt nichts anderes, als mit der seelischen Daueranspannung mitzugehen«. Und der Nacken leidet.
Schon die Beatles besangen den Umstand, dass eine zu große Last einen Menschen niederdrücken kann. In dem Klassiker und Verkaufsschlager »Hey Jude« von 1968 heißt es: »And anytime you feel the pain, hey Jude, refrain / Don’t carry the world upon your shoulder.«
Diesen Rat hätte auch ein psychosomatisch versierter Arzt oder Psychologe geben können. Denn Jude trägt unter Schmerzen die ganze Welt auf seinen Schultern, womit er sich – was Wunder – viel zu viel aufgebürdet hat. Das wird erst recht verständlich, wenn man weiß, dass Paul McCartney sein Lied dem damals fünfjährigen Sohn John Lennons gewidmet hatte, damit der kleine Julian besser über die bevorstehende Scheidung seiner Eltern hinwegkommen möge. Ursprünglich hieß der Liedtitel denn auch »Hey Jule«, nach einer Koseform von Julian.
In solch tristen und angstvollen Lebenslagen fühlt es sich für Kinder oftmals an, als müssten sie die ganze Last der Menschheit stemmen – wie der Titan Atlas, welcher nach der griechischen Mythologie das komplette Himmelsgewölbe zu schultern hatte und damit deutlich mehr Verantwortung trug als Oliver Kahn, der frühere »Titan« im Tor des Fußball-Bundesligisten FC Bayern München. Entsprechend stellen antike Skulpturen den Muskelprotz auch dar – als mühselig Beladenen.
Wer diese Überlast nicht ablegen kann, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann seelisch bedingte Rückenschmerzen beklagen. Kaum ein anderes Leiden veranlasst Erwerbstätige in Deutschland so häufig, ihrem Arbeitsplatz fern zu bleiben, berichten Krankenkassen regelmäßig. Für das Jahr 2008 hat das Wissenschaftliche Institut der AOK gemeldet, 24,2 Prozent aller Ausfalltage von AOK-Mitgliedern seien auf Muskel- und Skeletterkrankungen zurückzuführen gewesen – immerhin doppelt so viele wie infolge von Verletzungen. 70
In Deutschland ist die Pein im Kreuz nach Infekten der Atemwege überdies der zweithäufigste Anlass für einen Arztbesuch. Und wenn die Schmerzen sich verstetigt haben, finden Mediziner nur etwa in jedem zehnten Fall eine körperliche Ursache – beispielsweise Wirbelbrüche, eine verkrümmte Wirbelsäule, einen verengten Wirbelkanal (spinale Stenose) oder einen Bandscheibenvorfall – wobei dieser beileibe nicht immer Beschwerden verursacht oder noch hervorrufen wird.71
Oft schmerzt der Rücken, weil die Muskulatur dort zu schwach ausgebildet ist – eine Folge stundenlangen Sitzens im Auto, vor Rechnern und Fernsehgeräten bei viel zu wenig Ausgleichssport oder Alltagsbewegung. Mit Blick auf die heutzutage vergleichsweise trägen und übergewichtigen Kinder und Jugendlichen mit zu schwacher Skelettmuskulatur ist hier für die Zukunft nichts Gutes zu erwarten – außer für die Kassen von Osteopathen und Physiotherapeuten.
Leidet auch noch die Seele, geschieht es schnell, dass die Muskulatur bei Überlast zumacht, also verhärtet. Der stete Muskelzug wiederum kann die Bandscheiben dauerhaft zusammendrücken, wodurch die Puffer zwischen den Wirbeln über einen längeren Zeitraum zu wenig Nährstoffe, Flüssigkeit und Sauerstoff erhalten. Das schafft neue Probleme und Schmerzen und mündet in einen Teufelskreis: »Die Verspannungen verstärken sich noch, die Schmerzen nehmen zu, Angst vor den Schmerzen entwickelt sich, und die Bandscheiben werden weiter komprimiert.«72 Schlimmstenfalls nimmt der Patient nicht nur eine körperliche, sondern auch eine soziale Schonhaltung ein, indem er sich ganz dem Schmerz widmet und aus seinem bisherigen Leben zurückzieht – was wiederum an seiner Seele zehrt und schlimmstenfalls in eine Depression mündet. Und diese verstärkt die Schmerzen weiter und schafft anderswo neue – ein Teufelskreis eben, aus dem man alleine allenfalls schwer herausfindet.
Psychisch bedingte Rückenschmerzen können sogar die Folge verdrängter oder verleugneter erotischer Bedürfnisse sein. Wenn sie dürften, könnten Geistliche öffentlich darüber klagen – stattdessen beichten manche von ihnen ihre Not dem Mediziner und Theologen Bernd Deininger. Wenige Psychoanalytiker, wenn überhaupt jemand in Deutschland, haben so viel Erfahrung mit den seelischen Nöten katholischer Priester sammeln können wie der Chefarzt des Fachbereichs Psychosomatik am Martha-Maria-Krankenhaus in Nürnberg.
Nach mehr als zwei Jahrzehnten therapeutischer Arbeit mit katholischen Seelsorgern weiß Deininger, wie sehr Priester leiden können, die sich nicht trauen, die von ihnen geforderte sexuelle Enthaltsamkeit zu durchbrechen, obwohl sie gerne die körperliche und seelische Nähe einer Frau genießen würden. »Je länger das verdrängt wird, desto schlimmer häufen sich Symptome an – nicht nur Zwänge und Depressionen, sondern auch Körperstörungen, Schmerzen«, hat der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin erfahren müssen.73 Mit Körperstörungen meint Deininger neurotische, Belastungs- und solche Beschwerden, für die sich keine oder keine ausreichende körperliche Ursache finden lässt. »Am häufigsten dabei sind Störungen im Bereich des Skelettsystems«, fügt Deininger hinzu. Ein Teil der betroffenen Priester könne zum Beispiel von sich sagen: »Ich habe mein Kreuz mit dem Kreuz« – im keineswegs zufälligen Doppelsinn.
Der Papst wäre gut beraten, die Pein seines Personals nicht auf die sprichwörtliche leichte Schulter zu nehmen – schon deshalb, weil dieses Körperteil davon selbst schmerzen könnte. Zumindest wer sich echte Lasten auf die leichte Schulter packt, kann die Muskulatur dort überfordern, woraufhin sie zu verkrampfen droht. Als leichte und deshalb weniger belastbare Schulter gilt nämlich die bei Rechtshändern für schwächer gehaltene linke. Wer das Leben indes im bildlichen Sinne auf die leichte Schulter nehmen kann, also keine gewichtigen Probleme erwartet, mag es einfacher auf Erden haben als ein schwerblütiger Zeitgenosse.
Menschen mit Buckel, Hohlkreuz oder seitlich verkrümmtem Rücken (Skoliose) versucht ein Mediziner aufzurichten – mit einem Korsett, durch Muskeltraining, schlimmstenfalls durch eine Operation. Das ist im Wortsinne Orthopädie, denn der aus dem Griechischen stammende Begriff bedeutet soviel wie »zum Aufrechten hin erziehen«.
Ein bereits aufgerichteter Mensch hat das nicht nötig. Bei ihm hat die Wirbelsäule, von der Seite betrachtet, jenen sanften Schwung, den die Evolution für unseren Zweibeiner-Gang hervorgebracht hat – auch wenn die untere Wirbelsäule und die Knie schmerzliche Kompromisse darstellen.
Müssten wir nämlich unsere Nahrung Tag für Tag noch immer zu Fuß erjagen, würden Kniegelenke und Lendenwirbel höchstwahrscheinlich weiter ertüchtigt und besser an die biomechanischen Erfordernisse des aufrechten Laufens angepasst. Beide sind »noch nicht durchkonstruiert«, wie der Anthropologe Friedrich Rösing von der Universität Ulm es ausdrückt.
Die Muskulatur des aufgerichteten Menschen ist im günstigen Fall wohltuend angespannt – nicht zu lasch, aber auch nicht steif oder verkrampft. Ein durch Schicksalsschläge oder fortwährende Verachtung gebrochener Mensch hingegen lässt sich hängen. Er ist zermürbt, nicht länger unbeugsam, vom Leben und seinen Mitmenschen erdrückt – vielleicht auch unterdrückt. Der englische Begriff »back-breaking« bringt die verlorene Körperspannung eines scheinbar Rückgratlosen treffend zum Ausdruck.
Zeitgenossen hingegen, die so starr wirken, als trügen sie einen Stock im Kreuz, bezeichnete Alexander Lowen als rigide Charaktere. Wegen der dauerhaft erhöhten Spannung ihrer Beuge- und Streckmuskeln erschienen sie unflexibel und steif – »aus Stolz oder Unnahbarkeit«, wie der Bioenergetiker vermutete. »Sie tragen den Kopf ziemlich hoch und haben ein betont gerades Rückgrat.« Der rigide Mensch fürchte sich davor einzulenken, »da er jedes Nachgeben mit Unterwerfung und Kollaps gleichsetzt«. Er sei »ständig auf der Hut, dass man ihn nicht ausnutzt, manipuliert oder hereinlegt«.74
Fragt sich nur, warum der Körper derlei preisgibt. »Es geht hier um unbewusste Vorgänge auf Basis der leib-seelischen Ganzheit, wie sie die psychosomatische Medizin ja vertritt, weil Körper, Seele und Geist nicht getrennt voneinander zu betrachten sind«, sagt Wolf-Jürgen Maurer. So wie man sich innerlich halte, drücke es der Leib auch über die Körpersprache aus. »Manche Menschen verbiegen sich zum Beispiel die ganze Zeit – oder sie katzbuckeln«, weiß der Klinik-Chefarzt aus langjähriger Erfahrung. »Und das sieht man wirklich an einer verkrümmten Wirbelsäule, einem Buckel also, wie er oft bei Menschen auftritt, die eine Demutshaltung einnehmen, die sich gewohnheitsmäßig unterwerfen.« Der bedauernswerte Arschkriecher heißt nicht umsonst so: Mit aufrechtem Kreuz gelänge das Hineinkrabbeln ins Endgedärm eines Bewunderten oder Überlegenen kaum halb so gut.
Auch wenn Arschkriecher ihre Gründe haben mögen, könnte ein triftiges Argument sie vielleicht veranlassen, ihre gebeugte Haltung wieder zu verlernen. Hochgewachsene Menschen verdienen nämlich mehr als kleine, wie diverse Studien haben zeigen können.
In seiner Diplomarbeit ist der Volkswirt Fabian Spanhel vom Seminar für Finanzökonometrie der Ludwig-Maximilians-Universität München der Frage nachgegangen, ob es in Deutschland einen Zusammenhang zwischen Körpergröße und Gehalt gibt. Und siehe da: Es gibt ihn. Mit jedem Zentimeter mehr, um den Männer oder Frauen aufragen, verdienen sie Spanhels Studie zufolge pro Stunde 0,74 beziehungsweise 0,67 Prozent mehr. Das klingt bloß nach nicht viel: Denn ein 1,92 Meter großer Mann streicht danach immerhin ein fast 27 Prozent höheres Netto-Gehalt pro Stunde ein als ein lediglich 1,63 Meter hoch gewachsener.75
Zudem ist die Chance, als Beschäftigter mit stattlicher Körpergröße eine gut bezahlte und gesellschaftlich sehr anerkannte Stelle innezuhaben, signifikant erhöht: Zum Beispiel ist ein 1,90 Meter großer Mann von 43 Jahren doppelt so wahrscheinlich Wissenschaftler statt Hilfsarbeiter wie ein lediglich 1,70 Meter großer.
Solche Zusammenhänge gelten längst nicht nur in Deutschland, wie beispielsweise in einem Buch des New Yorker Journalisten und Unternehmensberaters Malcolm Gladwell nachzulesen ist: Rund 90 Prozent jener Vorstandsvorsitzenden, die den 500 umsatzstärksten und meist börsennotierten Unternehmen der Welt vorstehen, waren überdurchschnittlich groß, wie auch 88 Prozent der US-Präsidenten.76
Am 12. August 2009 überschrieb die Tageszeitung »Neues Deutschland« einen Artikel über eine lebende deutsche Rennfahrer-Legende aus dem Rheinland wie folgt: »Nackenschlag für Michael Schumacher – Verletzung stoppt Rückkehr in die Formel 1«. Ursache waren die Spätfolgen einer Nackenverletzung nach Schuhmachers schwerem Motorradunfall ein halbes Jahr zuvor. Vielleicht hätte der sprichwörtliche »Kerpener« es dabei weise belassen sollen.
So hübsch zweideutig die Überschrift des Berliner Blattes auch klingt: Ganz korrekt war sie nicht. Ein Nackenschlag ist viel mehr als eine Enttäuschung, mehr auch als ein Rückschlag. Er kann nämlich lebensgefährlich sein, nicht nur für Hasentiere, sondern auch für Boxer. Nicht umsonst heißt der die Halswirbel belastende Schlag im Boxsport auf Französisch »coup de lapin« und auf Englisch »rabbit punch«. Kaninchen sterben durch einen festen Hieb ins Genick. Das würde Faustkämpfern ebenfalls drohen, weshalb Schläge in den Nacken »definitiv verboten« sind, wie der Pressewart des Deutschen Boxsportverbandes (DBV), Alexander Mazur, bestätigt, früher selbst erfolgreicher Boxer und Boxtrainer.
Nackenschläge im übertragenen Sinne müssen auch viele Menschen verkraften, die nicht zum Spaß um sich schlagen – unter ihnen auch sogenannte Stiernacken, die etwas Bulliges an sich haben und so leicht nicht zu knicken sind. Doch selbst – oder just – für sie seien Nackenschläge »so gefährlich, weil sie gerade den Ort symbolischer Stärke treffen«, urteilt der Arzt, Psychotherapeut und Publizist Ruediger Dahlke, der eine »ganzheitliche Psychosomatik« verfolgt.77
Wer zu viele Nackenschläge einstecken muss, bleibt mit großer Wahrscheinlichkeit vom Leben gebeugt zurück – er hatte einfach immer zu viel am Hals, um den aufrechten Stand wahren zu können. »Wer mit hängendem Kopf durch die Welt geht, sieht nicht viel von ihr und vom Leben«, urteilt Dahlke gerade noch annehmbar, riskiert im Folgenden aber den Vorwurf einer Übertreibung: Der Betreffende mache sich »zum Opfer und bietet zum Zeichen dafür den empfindlichen Nacken in entsprechender Haltung dar«. Schläge dorthin seien dann nahezu garantiert. »Zugleich verstecken die Betreffenden die Vorderseite ihres Halses, den Schlund, und damit den Bereich des Einverleibens und Besitzes. Sie erwarten nichts vom Leben, was lohnen würde, einverleibt zu werden.« Nichts gegen scharfsinnige Spekulation, aber spätestens hier dürfte der Wunsch Vater des psychosomatischen Gedankens sein.
Doch lassen wir Rüdiger Dahlke noch ein wenig weiter ausholen – reizvoll ist es ja immerhin. Die Gegenposition zum gesenkten Haupt sei die Hochnäsigkeit, bei welcher »der Kopf in den Nacken geworfen und das Kinn nach vorn geschoben ist. Als Symbol des Willens wird das Kinn dadurch betont.« Alles soll »nach der Nase des Hochnäsigen gehen«. Von oben herab betrachte er eine Welt, die ihm scheinbar zu Füßen liegt.78
Zumindest wünscht sich das der Aufgeblasene – oder jedenfalls so Wirkende. Durch stumme Gesten wie die vor Stolz geschwellte Brust »zeigen wir unser Temperament, unseren Charakter, und signalisieren unsere Stärken nach außen«, urteilt der Mediziner Wolf-Jürgen Maurer.
Damit könnte er Manuel Neuer gemeint haben: Unmittelbar nach dem fulminanten 4:1-Achtelfinalsieg über das englische Team bei der Fußball-WM 2010 in Südafrika sprach der deutsche Nationaltorhüter selbstbewusst ins Mikrofon des ARD-Reporters: »Natürlich gehen wir aus diesem Spiel mit einer breiten Brust.« Das ist die positive Variante. Aber umgekehrt zeigen wir laut Maurer über die Haltung eben auch, wo uns durch Beziehungserfahrungen und Verletzungen »das Kreuz gebrochen, wo uns der Wille abtrainiert worden ist«.
Wenn alles nichts mehr hilft, wenn die Widrigkeiten des Lebens uns wehrlos machen und übermannen, brechen wir bisweilen zusammen – oft genug »unter Tränen«, wie es dann heißt. Der Zusammenbruch der oft geforderten, weil doch so tugendhaften und erwachsenen Haltung, lässt uns in die Knie gehen; der Körper schafft es nicht mehr, die zum aufrechten Stand nötige Muskelspannung zu leisten, die Kräfte haben den Betroffenen endgültig verlassen. Tränenüberströmt hocken wir am Boden oder zusammengesunken auf einem Stuhl – und das ist erst einmal gut so. Niemand kann sich auf Dauer zusammenreißen, denn das wäre eine Form der Gewalt gegen sich selbst.
»Durch das Weinen fließt die Traurigkeit aus der Seele heraus«, äußerte der italienische Theologe und Philosoph Thomas von Aquin (um 1225 – 1274) einmal und spielte damit auf ein wichtiges Phänomen an: Der durch echte Tränen vermittelte Ausdruck von Erregung lindert seelischen Stress – ob die Tränen selbst Stresshormone aus dem Körper schwemmen, gilt noch als umstritten, stimmt aber wohl nicht. »Weinen können ist jedenfalls ein Zeichen dafür, dass sich etwas im Patienten löst, dass Traurigkeit zugelassen werden kann«, sagt der Psychosomatiker Joachim Bauer. Sich ab und an gehen zu lassen und in Tränen zu zerfließen, kann heilsam sein.
Viele Patienten mit psychosomatischen Beschwerden schaffen es leider nicht zu weinen. »Vor allem solche mit chronischen Schmerzen sind immer unter Spannung«, hat der Freiburger Internist und Psychiater erlebt. Wenn solche Patienten im Gespräch mit einem Psychotherapeuten oder einem guten Freund erstmals die Schleusen öffneten, sei das ein »gutes Zeichen«. Oft schwänden beim Tränenvergießen die körperlichen Beschwerden. Und keine Sorge: Niemand wird gleich zur Heulsuse, nur weil er oder sie endlich mal loslässt und schutzbedürftig wimmert wie ein kleines Kind. Diese Fähigkeit zur gelegentlichen Regression ist nach Ansicht von Therapeuten, die tiefenpsychologisch arbeiten, sogar nötig für eine erfolgreiche Therapie – zumindest aber günstig.
Ein nahe gehendes Beispiel für eine gelungene Regression durch Hautkontakt schildert der Psychoanalytiker und Körpertherapeut Günter Heisterkamp aus eigener Praxis: Ein narzisstisch, also übermäßig selbstbezogen veranlagter, desolat wirkender Patient sucht ihn »nach einem Zusammenbruch auf dem Höhepunkt einer grandiosen Karriere« auf.79 Der am Boden zerstörte Mann sieht sich einer Anklage wegen Veruntreuung gegenüber, ist deswegen entlassen worden und muss obendrein verkraften, dass ihn Frau und Tochter verlassen haben.
Der Patient steht unter derartigem Druck, dass er sich selbst als Bombe kurz vor dem Platzen beschreibt. Auf den Gefühlsstau angesprochen, meint der Mann nur, dass er an seinen Gefühlen sterben würde, ließe er sie frei heraus. »Dann wäre ich schon tot«, äußert er – und bezeichnet das Sterben als mögliche Erlösung.
Um die Selbstlähmung, die Starre des Mannes, aufzuweichen, schlägt Heisterkamp dem auf der Couch Liegenden vor, »meine Hand einmal unter seinen Kopf zu legen«. Der Patient ist einverstanden. Bald darauf hört er auf zu reden, und der Therapeut spürt durch seine Hand »ganz feine Ströme« im Nacken des Mannes. »Sein Atem wird tiefer und er verfällt in einen tranceähnlichen Zustand, in dem er einen für mich noch undefinierbaren Ton abgibt. Dabei spüre ich ein leichtes Andrängen seines Kopfes an meine Hand«, beschreibt Heisterkamp das Geschehen.
Der Analytiker schlägt dem Mann nun vor, das Haltangebot zu intensivieren, sich ganz hinter ihn zu setzen und den Kopf des Patienten in beide Hände zu nehmen – mit erstaunlichen Folgen: »Der Atem wird stärker, der Ton lauter, die Qualität seines stimmlichen Ausdrucks prägnanter. Es ist jetzt unverkennbar das Jammern eines verlorenen Kindes.«
Der Mann beginnt nun auch noch damit, »seinen ganzen Körper von der einen zur anderen Seite hin- und herzuschaukeln und bezieht schließlich auch den Kopf mit ein.« Dabei wehklagt er immer lauter, was seinen Therapeuten notieren lässt: »Es ist ein herzergreifendes Bild, einen Mann auf der Couch liegen zu sehen, der wie ein alleingelassenes Baby jammert und in die typischen Monotoniebewegungen hospitalisierter Kinder verfällt.«
Nachdem sich der über sich selbst zutiefst erstaunte Patient beruhigt hat, sagt er: »Ich habe nie daran gedacht. Aber das ist mir jetzt ganz deutlich eingefallen, wie ich früher immer im Bettchen lag, wenn ich ganz allein war und niemand bei mir war. Dann habe ich diese Schaukelbewegungen immer gemacht.« Damit hatte der Starre den ersten Schritt zu mehr Lockerheit bewältigt.
Manche Ereignisse im Leben treffen uns so tief ins Mark, erschüttern gewissermaßen die Grundfesten unserer Existenz, dass wir meinen, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Daher rührt zum Teil die maßlose, panische Angst bei realen Erdbeben. Und wer zu Hause Kaninchen hält und die Langohren dabei beobachtet, wie sie selbst auf ein sanftes Anheben des Käfigs reagieren, kann ermessen, wie sehr ein schwankender Untergrund ein Lebewesen verstören kann. Schon beim Denken an ein Erdbeben kann einem einschlägig erfahrenen Menschen ganz schön schwindlig werden, ohne dass der Betreffende an einem ungesunden Blutdruck oder gar an einem Hirntumor litte.
Aus psychosomatischer Sicht ist das seelisch bedingte (psychogene) Schwindelgefühl außerordentlich interessant. Je tiefer uns ein innerer Konflikt aufwühlt, »umso genetisch ältere Funktionsstörungen können auftreten«, urteilt der HNO-Mediziner Joseph Sopko vom Merian-Iselin-Spital in Basel. So reiche schon zeitweiliges Liebesleid dazu aus, um die »entwicklungsgeschichtlich junge Stimmfunktion« einzubüßen.80 Doch es müsse schon »substanziell am Kern unserer Persönlichkeit rütteln, wenn jemand unter psychogenem Schwindel leidet«, schließlich sei das Gleichgewichtsorgan im Innenohr, der sogenannte »Vestibular-Apparat«, das stammesgeschichtlich »älteste Orientierungssystem unseres Körpers«.
Bei manchen Schwindel-Patienten ohne körperlichen Befund entwickeln erfahrene Mediziner rasch den Verdacht, die Schwindligen litten an einer Konversionsneurose – einer Art Ersatzleiden für etwas, das hinter den Symptomen steckt und verborgen bleiben soll. Eindrucksvoll deutlich wird dieses Versteckspiel bei der Menièrschen Krankheit (Morbus Menière), erstmals 1861 von dem französischen Arzt Prosper Menière beschrieben.
Anfallsartig leiden Betroffene, meist zwischen 40 und 60 Jahre alt, unter plötzlichem Drehschwindel, Ohrensausen und einseitigem Hörverlust, beim ersten Auftreten meist verbunden mit einer als vernichtend empfundenen Todesfurcht. Hinzu kommen Übelkeit und Erbrechen als Folgen des Schwindels. Zwischen zwei der oft minutenlangen Attacken können Jahre liegen. Als Auslöser, zumindest als Begleiterscheinung, jedoch nicht unbedingt als Ursache, gilt ein Flüssigkeits-Überdruck in der Gehörschnecke des Innenohrs.
Mehrere Studien haben seelische Ursachen des Leidens nahegelegt. Danach werden vor allem Menschen befallen, deren Wesen einige Auffälligkeiten aufweist: überdurchschnittliche Intelligenz, große Neigung zur Zurückgezogenheit, übertriebene Gewissenhaftigkeit, großer Ernst, starrer Lebensstil, Perfektionismus im Beruf wie bei Hobbys. Morbus-Menière-Patienten leben »unter Zeitdruck im Zustand einer ständigen Überforderung«, seien auf kühle Weise korrekt, aber ohne die für Kinder so nötige Nestwärme erzogen worden.81 Nicht selten waren sie brave Musterschüler ohne äußerlich sichtbare Konflikte, schon gar nicht mit Lehrern, und haben in der Pubertät niemals über die Stränge geschlagen.
Ihr Leiden bricht oft dann aus, wenn diese Menschen belastende Lebenssituationen meistern müssen – wenn zum Beispiel der Vorgesetzte wechselt oder ihnen ungewohnte Aufgaben im Beruf zugewiesen werden. Was mancher Zeitgenosse als erfreulich herausfordernd erlebt, zieht ihnen den Teppich unter den Füßen weg – und macht sie schwindlig.
Zwar sagen wir eher, eine Grippe stecke uns noch immer in den Knochen, doch kann auch Angst oder ein Trauerfall sich dort beschwerend einnisten. Etwas Furchtbares fährt uns ins Gebein und lähmt uns die Glieder.
Auch eine chronische Depression kann sich in den Knochen bemerkbar machen – und zwar durch Knochenschwund, wie Wissenschaftler der Hebräischen Universität in Jerusalem und der Universität Pécs in Ungarn im Jahr 2006 an Mäusen herausgefunden haben. Die Forscher um den israelischen Psychobiologen Raz Yirmiya machten den Versuchstieren nach Kräften das Leben schwer, indem sie nachts das Licht brennen und die Käfige verdrecken ließen, herumlärmten und den Mäusen eine Zeit lang Wasser vorenthielten. Kein Wunder also, dass die Nager schon nach vier Wochen depressiv zu werden begannen.82
Doch auch ihre Knochendichte hatte sich verringert – offenbar durch das bei Dauerstress vermehrt im Blut vorhandene Noradrenalin. In den geschwächten Knochen ließ sich das Hormon jedenfalls in erhöhter Konzentration feststellen. Verabreichten die Forscher den Mäusen jedoch einen Stimmungsaufheller, wurden zusätzlich zur gehobenen Laune der Tiere auch ihre Knochen wieder dichter: ein weiterer Beleg dafür, dass die Depression nicht nur eine Krankheit ist, sondern auch zusätzlich krank macht – vor allem bei ohnehin von Knochenschwund (Osteoporose) geplagten alten Menschen, deren Zahl und Anteil gerade in westlich geprägten Gesellschaften zunehmen.
Mit keinem Körperteil bewahren Männer lieber Haltung als mit ihrem Glied – wobei es Ausnahmen geben mag von dieser Regel. Doch das Internet als Tummelplatz der Eitelkeiten, Sehnsüchte und Widrigkeiten des Lebens gibt beredt Auskunft darüber, welche Schmach einem Liebhaber droht, der nicht so kann, wie er will – vor allem, wenn es darauf ankommt, seinen Mann zu stehen und nicht schlappzumachen. »Ich bin 27 Jahre alt und männlich, heute werde ich Euch mal meine Leidensgeschichte erzählen«, schreibt ein Betroffener auf der denkwürdigen Seite »www.erektion.de«. Er habe »wie die meisten hier ein ziemliches Problem«, nämlich dieses: »Mein kleiner Freund will nicht so, wie ich will. Küssen, streicheln, da steht er, sobald es ›zur Sache‹ gehen soll, fällt er zusammen wie ein Kartenhaus, da hilft auch kein Kneten oder Blut abdrücken oder sonst was.« Und ein Leidensgenosse, der mit seiner »Erektilen Dysfunktion psychischer Art« schon manche Schlappe erlitten hat, berichtet von einem Teufelskreis: »Einmal keinen Ständer bekommen und schon war sie da: die Versagensangst.« Und so weiter und so fort.
Ganz gleich, ob das Glied ausgerechnet in der ersten Nacht mit einer neuen Bekanntschaft nicht steif wird oder häufiger nach Abflauen der ersten Leidenschaft: Ein zur Unzeit schlaffer Penis kann für Betroffene zu einem gewaltigen seelischen Durchhänger werden – und wenn es ganz dumm läuft, zu einem Dauerproblem, das selbst die besten Beziehungen ernsthaft zu beschädigen vermag.
Offenkundig betrifft es viele Herren, auch solche in den besten Jahren – und das sind diesmal nicht jene im Alter von etwa 30 bis 50. »Tatsächlich nimmt dieses Problem zu«, urteilt der Mediziner Manfred Stelzig.83 Die Gründe hierfür seien vielschichtig. Die Männer würden »zunehmend von den Frauen gefordert, sie müssen im Haushalt ihren Beitrag leisten und bei der Kindererziehung helfen«. Zudem könnten Frauen heute »in Spitzenpositionen zur Vorgesetzen des Mannes werden«, fügt der leitende Psychosomatiker an der Uni-Klinik Salzburg hinzu. »Das alles bringt die alten Strukturen ins wanken und kann Männer verunsichern.«
Hinzu kommt etwas typisch Männliches: der selbstschädigende Irrglaube nämlich, dass es beim Sex um pornofilmtaugliche Standhaftigkeit gehe und darum, ein toller Hengst zu sein, der frühestens nach drei Stunden in die Kissen sinkt und selbst dann noch könnte. Dabei geht es Stelzig zufolge in der Liebe gerade »nicht um eine Leistungsdemonstration«, sondern um Begegnung mit einem anderen Menschen; darum, »den anderen zu suchen, ihn verstehen zu lernen, ihn begreifen zu lernen und ihn zu genießen« – mithin um das exakte Gegenteil dessen, was all die zuckenden Unterleiber auf einschlägigen Internet-Portalen vorgaukeln.
Doch das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Der ganzen nähert man sich erst, wenn man die enorme seelische Anspannung mitbedenkt, unter der heute viele Männer (wie natürlich auch Frauen) ihr Tagwerk vollbringen. Das bleibt nicht ohne Folge für jene Drüsen und Organe, die den Körper mit Nervenbotenstoffen versorgen. »Bei Überforderung, Erschöpfung und chronischem Distress kommt es zu einem Serotoninmangel«, beschreibt Manfred Stelzig eine verbreitete Konsequenz des stressigen und bewegungsarmen Lebens in unserer Zeit. Und ein Symptom dieses Mangels am so genannten Wohlfühl-Hormon sei die sexuelle Impotenz. »Stresshormone sind direkte Gegenspieler zu den Sexual- und Lusthormonen«, fügt der Psychiater und Neurologe hinzu – was auch für Frauen gelte. Kein Wunder also, dass innere Anspannung die Sinneslust schmälert.
Womöglich wäre schon etwas gewonnen, wenn das gar nicht so starke Geschlecht sich davon überzeugen ließe, dass so ein Schlappschwanz ein hilfreicher Bote sein kann: »Die sexuelle Funktionsfähigkeit ist ein sehr sensibler Indikator für das psychosomatische Wohlbefinden«, befindet Stelzig. »Störungen in diesem Bereich können als Warnlämpchen gedeutet werden: Irgendetwas ist nicht in Ordnung.« Um das so zu sehen, braucht es Mannesmut. Die erschlafften Herren sollten ihn aufbringen. Auch wenn am Ende, nach reiflicher Untersuchung beim Psychiater, Unbequemes heraufdämmern könnte: verdrängte Ängste, Abneigung gegen den aktuellen Sexualpartner oder gar ein in der Seele schwärender sexueller Missbrauch in jungen Jahren.
Doch damit nun nicht der schlappe Schwanz mit dem Hunde wackelt, sei auch Folgendes verkündet: In den meisten Fällen hat die Impotenz körperliche Ursachen – zum Beispiel Arteriosklerose (»Verkalkung« der Blut zuführenden Gefäße), diverse Venenleiden, Nervenschäden (beispielsweise durch Multiple Sklerose), Diabetes sowie krankhafte Hormonstörungen. Und zu allem Überfluss kann auch die Einnahme bestimmter Medikamente die ersehnte Schwellung des Gliedes versagen – so etwa beruhigende Beta-Blocker und manche Stimmungsaufheller (Antidepressiva).84
Wer sich nicht einmal mehr selbst befriedigen, also masturbieren kann, sollte nicht sein Sexualobjekt austauschen und anderen Frauen nachstellen, sondern sich einen Ruck geben und beim Arzt vorsprechen. Es lohnt, die Angst davor zu überwinden.