Alois Hingerl, ein Dienstmann mit der Nummer 172 auf dem Münchner Hauptbahnhof, ist ein ziemlich dicker, ziemlich pausbäckiger Gepäckträger. Zu behaupten, er verrichte seine Arbeit hektisch, wäre eine gewisse Übertreibung, aber gesund lebt der oft Übellaunige trotz seiner scheinbaren Gemütsruhe nicht. Alois trinkt gerne seine Maß im Hofbräuhaus, pafft bei der Arbeit Zigarillos und weist derart gerötete Wangen auf, dass man seinen Bluthochdruck schon lange geahnt hat, bevor ihn eines Tages wirklich der Schlag trifft und hinwegrafft.
Im Himmel nerven den nun Aloisius geheißenen Engel aus München die pausenlos frohlockenden Kollegen, und man muss zugeben, dass er es ihnen in ähnlicher Münze heimzahlt, indem er zunehmend genervt Halleluja schreit – oder genauer: »Ha-ha-lä-lä-lu-u-uh – Himmi Herrgott – Erdäpfi – Saggerament – lu-uuu-iah!«
Aloisius ist wütend und zornig, er tobt und frohlockt eher ungewöhnlich (»Luja soag I!«) – kein Wunder, dass der liebe Gott ihn auf listige Art aus dem Weg zu räumen weiß. Ludwig Thoma (1867 – 1921) sei auf Knien Dank für diese Satire über den angeblich so typischen Münchner Grantler.
Denn: Wir alle sind ja selbst manchmal so. Dann gehen uns die Nerven durch, wir kochen vor Wut und laufen zornesrot an im Gesicht. Wir rasten aus und haben die Schnauze voll; der Ärger nimmt uns schier die Luft. Doch haben wir in dieser Sekunde noch einen dicken Hals, können wir in der nächsten schon ehrlich zerknirscht sein, weil uns derart übertrieben die Nerven durchgehen konnten.
Ärger und Wut sind machtvoll, machen aber nicht krank, sofern sie nicht zum Dauerzustand werden. Im Gegenteil: Seinem Ärger auch mal Luft machen zu können, ist gesund – zumindest für den Verärgerten selbst. Hingegen kann es einem Menschen sehr schaden, wenn er gewohnheitsmäßig seine Wut in sich hineinfrisst. Das nämlich fördert diverse psychosomatische Krankheiten – nicht nur Depressionen, sondern auch zu hohen Blutdruck.
Anders als die Morgenröte kündet die Zornesröte nicht von einem heiteren Sonnentag, sondern von einem drohenden Wutausbruch. Landläufig gelten Menschen, die bei einem Tobsuchtsanfall eine rote Birne tragen, als Choleriker mit zu hohem Blutdruck. Doch erstens ist der typische Hypertoniker gerade kein umhergiftendes Rumpelstilzchen. Und zweitens ist die spontane Zornesröte im Gesicht eine ganz normale vegetative Reaktion, die Umstehende mächtig beeindrucken kann, vielleicht sogar von Natur aus soll: Rot ist schließlich eine alarmierende Signalfarbe. Man ist deshalb gut beraten, sich mit einem vom Zorn entflammten Gesellen nur im Notfall anzulegen, da seine Aggression oft ungeahnte Kräfte freisetzt.
Das verbreitete Missverständnis vom zornesroten Bluthochdruck-Patienten bedarf noch kurz der Aufmerksamkeit. Grundsätzlich steigt der Blutdruck »nachweisbar bei Angst oder Wut an«.94 Im Tierexperiment lässt sich eine seelisch bedingte Hochdruckkrankheit sogar künstlich erzeugen. Dieser Umstand passt gut zu der Redensart, jemand stehe unter Druck. Psychischer Druck von außen drückt innerlich auf die Adern. Und die häufige Folge eines bei Ärger spontan gestiegenen Blutdrucks ist das gerötete Gesicht.
Doch entscheidend ist, ob jemand überhaupt rot anlaufen kann vor Wut. »Die Zornesröte ist ja Ausdruck des erlebten Gefühls von Zorn«, sagt der Wiener Psychokardiologe Georg Titscher. Schon da Hypertoniker ihr Zorngefühl häufig nicht zu erleben wagen und deshalb unterdrücken, laufen sie nicht ständig mit gerötetem Gesicht umher.
Zwar gibt es keinen typischen Hypertoniker mit einem klar umrissenen Strauß von Charakterzügen, doch erwähnen Ärzte einige Persönlichkeitsmerkmale auffallend oft: »Hypertoniker werden als leistungswillig, pflichtbewusst, gesellschaftlich überangepasst, mit hohem Anspruchsniveau an sich beschrieben« und »geraten mit dieser Einstellung oft in einen inneren und äußeren Konflikt, indem sie sich emotional nicht zu entlasten vermögen.«95
Damit wären sie ideale, sind aber zu ihrem Leidwesen verhinderte Wüteriche, denn unter der nach außen gezeigten Bescheidenheit und Gefasstheit der scheinbar Ausgeglichenen lodert nicht selten ein heißer Konflikt – am heftigsten dann, wenn sie meinen, ohne den Menschen, der sie innerlich auf die Palme bringt, nicht leben zu können.
Dann nämlich droht Liebesverlust, und der kann mächtig ängstigen – nicht nur eine wirtschaftlich unselbstständige Ehefrau, sondern auch den sprichwörtlichen Pantoffelhelden, der sich ein Dasein ohne seine dominante Gattin nicht vorstellen kann. Also kuscht er sicherheitshalber vor dem Hausdrachen – wenn auch mit geballter Faust in der Hosentasche und obwohl er platzen könnte vor Ärger. »In einem solchen Konflikt werden Gefühle von Wut, Neid und Hass gegen die Person, von der man innerlich abhängig ist, als Gefahr erlebt, die Angst vor Objektverlust und Schuldgefühle auslöst.« Und eben Bluthochdruck, der sich verstetigt und deshalb riskant ist.96
Hypertonie kann freilich viele Ursachen haben, bei Weitem nicht nur seelische. Nach Angaben der Deutschen Hochdruckliga drückt bei 30 bis 40 Prozent der Bundesbürger das Blut zu kräftig gegen die Gefäßwände. Das wären sage und schreibe 25 bis 33 Millionen Menschen mit einem häufig messbaren Arteriendruck von 140/90 Millimeter-Quecksilbersäule. Bei den über 60-Jährigen ist Stichproben zufolge sogar jeder zweite Bewohner Deutschlands betroffen.97 Wer lange leben möchte, sollte hier sehr wachsam sein.
Im Comic sieht man es am deutlichsten, aber beileibe nicht nur dort: »Jemand, der sich ärgert, läuft im Gesicht rot an, weil die Stresshormone den Kreislauf entsprechend reagieren lassen«, sagt der Münchner Blut-Experte Christian Peschel. »Der Blutdruck steigt, und die feinen Blutgefäße der Haut weiten sich, sodass man einen roten Kopf bekommt.«
An den Schläfen schwillt dann obendrein die geschlängelte Zornesader (Arteria temporalis superficialis): Die an der Kopfoberfläche verlaufende Arterie ist der letzte Abzweig der äußeren Halsschlagader. Sie führt vor dem Ohr hinauf zur Schläfe, verzweigt sich dort und versorgt die obere Kopfhälfte über dem Schädelknochen mit frischem Blut. Die Arterie tritt nicht nur durch den bei Stress ansteigenden Blutdruck stärker hervor, sondern auch, weil sich dann die Schläfenmuskulatur anspannt. Diese zieht die Kopfhaut straff und bewirkt so, dass sich in der Zornesader das Blut etwas staut.
Eine häufig angespannte Schädelmuskulatur kann sogar dazu führen, dass sich charaktertypische Gesichtszüge tief ins Gesicht eingraben, wie es gerne heißt. Dazu zählen die quer verlaufenden Sorgen- und die senkrecht über der Nase auftretenden Zornesfalten. Dass die Querrillen in der Haut auch als Ausweis einer Denkerstirn gelten, beweist allenfalls, wie viele Sorgen sich Denker machen müssen, wenn sie als solche gelten wollen.
Dass Schädelmuskeln, die bei Dauerstress mehr oder minder ständig verspannt sind, auch Haarausfall begünstigen, ist vielerorts zu lesen, aber in der Fachwelt noch umstritten. Dazu gebe es »unterschiedliche Aussagen«, berichtet der Dortmunder Hautmediziner und Haar-Experte Dirk Eichelberg. »Dennoch scheinen derartige Verspannungen nach unserer Erfahrung durchaus relevant zu sein.«
Das könnte auch erklären, weshalb das starke Nervengift Botulinumtoxin (bekannt zum Beispiel als Botox) Haarausfall lindern kann, worauf einige Studien hindeuteten. Botox wird unter anderem gegen Spannungskopfschmerz und Migräne eingesetzt, weil es eine Zeit lang verhindert, dass sich die behandelten Muskeln anspannen können. Auch mimisch, also von Gesichtsmuskeln hervorgerufene Falten, lassen sich so zeitweise fast beseitigen – freilich auch ein Stück Persönlichkeit.
Und das nicht nur äußerlich: Gelähmte Mimik-Muckis lassen auch die linke Amygdala, einen Teil des so genannten Mandelkerns im Zwischenhirn, weniger aktiv sein und verändern so die Art, wie wir fühlen und mitempfinden. Offenbar fällt es uns leichter, Emotionen unserer Artgenossen zu verstehen, wenn wir sie auf unserer eigenen Gesichtsbühne sozusagen nachspielen können – und genau dieses tun wir oft, wenn uns jemand etwas erzählt, das uns nicht umsonst bewegt.
Wissenschaftler der Universität von Wisconsin-Madison um David Havas haben 2009 zudem herausgefunden, dass Frauen, denen Botox gespritzt worden ist, länger brauchten, um ärgerlich oder traurig stimmende Sätze verstehen zu können – erheiternde Botschaften hingegen begriffen sie gleich schnell.98 Niemand ist gezwungen, das positiv zu finden.
Noch heute tragen Geschäftsleute, vorwiegend Männer, ihre Hemden eng zugeknöpft und wirken dann auch bisweilen so: verschlossen, unnahbar und überhaupt nicht locker. Dabei ist dieser Eindruck noch gar nichts gegen jenen, den hochgestellte Herren im 19. Jahrhundert hinterließen, sofern sie über ihren noch kragenlosen Hemden einen Stehkragen trugen. Dieser sollte ihnen mehr Würde verleihen, ließ sie aber vor allem zwangsweise hochnäsig in der Weltgeschichte umherlaufen, weil sie ihr Kinn kaum noch senken konnten. Vor allem charakterlich fragwürdige Militärs schätzten solche Ego-Prothesen ungemein.
Ein hübscher Ausdruck für den Stehkragen ist »Vatermörder« – nur ist seine Herkunft ungewiss. Möglich, dass sich hier ein Übersetzungsfehler aus dem Französischen ins Deutsche eingeschlichen hat. Denn in Frankreich hieß der Stehkragen »parasite«, weil er wie ein Schmarotzer – ein Parasit eben – dem Hemd aufsaß. Schließlich konnte dieses auch ohne ihn getragen werden – nicht jedoch umgekehrt, es sei denn um den Preis der Lächerlichkeit. Und weil das Wort »parracide« für »Vatermord« ganz ähnlich klingt, wurde der steife Kragen nach dieser Erklärung im Deutschen zur Mordwaffe für den Herrn Papa.
Zwar ist kein Fall bekannt, dass jemals jemand an einem Stehkragen erstickt oder gar mit ihm erdrosselt worden wäre. Doch dessen Komfort ist eher beschränkt: Der Vatermörder engt seinen Träger scheinbar bedrohlich ein – und sogar tatsächlich, wenn der eingezwängte Mensch seinem Kragen durch gesteigerte Leibesfülle sozusagen entwachsen ist. Oder auch, wenn er sich ärgert. »Dann nämlich steigt der Blutdruck an, und man bekommt in der Tat einen dicken Hals, weil die Halsvenen hervortreten«, sagt Roland Laszig, Ärztlicher Direktor der HNO-Klinik am Universitätsklinikum Freiburg. Dadurch droht auch ein moderner Hemdkragen zu platzen – vorausgesetzt man trägt ihn eng geknöpft oder festgezurrt mit umgebundener Krawatte.
Immerhin wäre das noch ein glimpflicher Ausgang der Geschichte für jemanden, der in seinem bisher unterdrückten Ärger von sich sagt: »Ich hab ja so einen Hals!« Denn das angeschwollene Körperteil selbst droht als Folge des Blutdruckanstiegs zu bersten. Zumindest könnten die Menschen im Mittelalter das befürchtet und die Redewendung des »platzenden Kragens« geprägt haben. Um das für möglich zu halten, muss man nur wissen, dass ab dem 12. Jahrhundert das Wort »Kragen« auch den Hals bezeichnete99 – übrigens auch noch in Goethes Epos »Reineke Fuchs«, das 1794 erstmals erschienen ist. Nicht umsonst riskierte man im Kampf Kopf und Kragen, und war man schwächer als der Gegner, konnte es einem leicht an den Kragen gehen. Auch das Wortpaar »Geizhals« und »Geizkragen« verrät die alte Doppel-Bedeutung noch.
Das Fazit hieraus: Menschen, die sich im Leben oder bei der Arbeit häufig ärgern, sollten Entspannungskurse buchen oder sich einen Job suchen, der eher ihrer Kragenweite entspricht. Wer sich permanente Überlast vom Hals schafft, kann das Haupt endlich wieder erheben.
Im biblischen Gleichnis von den anvertrauten Talenten, einer alten griechischen Währung, stattet ein Dienstherr seine drei Knechte vor der Abreise mit unterschiedlichen Geldbeträgen aus, mit denen sie während seiner Abwesenheit wirtschaften und dabei das Geld möglichst mehren sollen.100
Zwei der Knechte – sie hatten fünf beziehungsweise zehn Talente erhalten – schaffen es, den ihnen überlassenen Betrag zu verdoppeln; der dritte jedoch, der nur ein Talent bekommen hatte, vergrub dieses ängstlich und hatte am Ende nichts hinzugewonnen. Also ließ der Herr dem Zauderer das Geld wegnehmen und gab es dem Knecht mit den zehn Talenten, woraufhin er sprach: »Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen.«
Beides sind unwillkürliche Reaktionen auf seelische Anspannung. Tränen rufen unwillkürlich um Hilfe, auf dass sich andere, mitfühlende Menschen um den Trauernden kümmern mögen. Das Zähneknirschen (medizinisch: Bruxismus) baut psychische Spannungen ab – allerdings auf ungesunde Weise: Denn wer unter Druck mit den Zähnen knirscht, schädigt das Gebiss. Und dauerhaft klappern mit ihnen, wie es in der Bibel an diversen Stellen heißt, sollte man ebenso wenig.
»Vor allem Frauen zwischen 30 und 45 Jahren mahlen nachts unbewusst mit den Zähnen; sie machen rund 80 Prozent aller Knirscher aus«, sagt der Zahnmediziner Sebastian Ziller, Abteilungsleiter für Prävention und Gesundheitsförderung der Bundeszahnärztekammer. Dazu passt ein – freilich außergewöhnlicher – Befund aus den frühen 1990er-Jahren: Auffallend häufig, wenn niedersächsische Zahnärzte damals die Frauen jener britischen Soldaten behandelten, die von ihren deutschen Kasernen an die Fronten des ersten Irakkriegs abkommandiert worden waren, mussten sie Zahnabrieb feststellen. Die englischen Patientinnen waren zu Knirscherinnen geworden.101 Offenbar plagte die Frauen die Angst um ihre Männer auch im Schlaf.
»Die Zähne geben weit mehr Aufschluss über die psychische Befindlichkeit eines Menschen, als allgemein angenommen wird«, schreibt Manfred Stelzig in seinem Buch »Was die Seele glücklich macht. Das Einmaleins der Psychosomatik«.102 Erstens spiegele der Pflegezustand des Gebisses das generelle Bemühen eines Menschen wider, für sich selbst zu sorgen und auf die persönliche Gesundheit zu achten. Und zweitens ließen Zahnstellung und Zahnabrieb Rückschlüsse darauf zu, ob und wie stark jemand unter seelischem Druck stehe.
Viele Zeitgenossen verarbeiten stressbedingte Anspannung, indem sie die Zähne während des Schlafs zusammenpressen oder gar mit ihnen knirschen. Salopp gesagt: Wer tagsüber viel Ärger schluckt, muss ihn nachts – zum Leidwesen eines etwaigen Bettpartners – gehörig durchkauen. »Das führt auf Dauer zu Zahnschmelzverlust, Zahnlockerungen und zum Wandern der Zähne, besonders wenn auch noch die Zunge Druck ausübt«, befindet Stelzig. Auch chronische Kopfschmerzen können hier ihre Ursache haben.
Zu allem Überfluss belastet das chronische Knirschen oder Pressen auch das Kiefergelenk, sodass dieses sich vorzeitig abnutzen und schmerzen kann. Bisweilen knackt es auch noch, und die buchstäblich verbissenen Menschen bekommen vor lauter Anspannung die Zähne nur mühsam auseinander. »Sie presste die Worte nur noch hervor«, kann man dann in Romanen lesen, wenn jemand vor Wut nicht mehr normal sprechen kann.
Aber wozu soll eine derartige Verkrampfung gut sein? Üblicherweise dienen unsere Körperreaktionen einem Zweck, wenn auch bisweilen einem recht verborgenen, der sich gewissermaßen erst auf den dritten Blick erschließt. So ist es auch hier: Stelzig zufolge ist das Aufeinanderpressen der Zähne als »archaischer Kampf- und Schutzreflex« zu verstehen.103 »Eine Stressreaktion ist mit einem Muskelpanzer verbunden, der sich auch auf den Kiefer auswirkt«, sagt der in Wien geborene Mediziner. Kommt es zu Handgreiflichkeiten und drohen Schläge aufs Kinn, ist es seit jeher sinnvoll, dass die Muskulatur sich verhärten kann, um Gelenke und Knochen zu schützen. »Ein zusammengepresster Kiefer kann sich beim Kämpfen nicht so schnell verrenken.«
Doch wer buchstäblich an seinen Problemen herumkaut, hat eindeutig ein Dauerproblem und täte deshalb gut daran, einen psychosomatisch geschulten Facharzt aufzusuchen. Mit ihm kann der Betroffene klären, ob sich die Haltung zum Leben und zur Arbeit durch Psychotherapie entspannter gestalten lässt, womöglich zeitweilig unterstützt durch ein angstlösendes Medikament, das den Schlaf beruhigt, ohne abhängig zu machen.
Ist die Wurzel des Übels aber eine seit Langem schwärende Wut auf den Partner, die ohne Weiteres zu einer schmerzhaften Kieferverspannung führen kann, sollte der Verbissene ein offenes, notfalls auch fachgerecht moderiertes Gespräch mit dem Lebensgefährten suchen.
Die tieferen Ursachen dafür, dass Knirscher ihren Zähnen nachts eine Abreibung erteilen, liegen freilich oftmals lange zurück. »Verdrängte Aggressionen, Ärger und Sorgen, Trauer, Enttäuschung und jede Art von Hektik und andauerndem Stress können das nächtliche Zähnepressen hervorrufen«, listet Sebastian Ziller mögliche Auslöser auf. »Diejenigen, die den Mund nicht aufmachen dürfen und alles hinunterschlucken, sind besonders gefährdet.«
Solche Menschen sind häufig dazu erzogen worden, »sehr gewissenhaft, pflichtbewusst und leistungsbereit zu sein – auch dazu, sich durchzubeißen und nicht lockerzulassen«, fügt Manfred Stelzig hinzu. »Sie kommen gar nicht in die Phase der Entspannung, denn dann würde ihnen bewusst, welchen Wahnsinn sie da sonst alltäglich treiben, und müssten sich dagegen wehren.« Davor jedoch haben sie Angst, denn das würde ihr Kontrollbemühen aufweichen – und dann drohte aus ihrer Sicht Unkalkulierbares und am Ende das pure Chaos.
Im Englischen meint der Ausdruck »to go berserk« soviel wie verrückt werden oder durchdrehen. Wenn jemand wie ein Berserker wütet, dann tut er dies rauschhaft und mit aller Gewalt. Schmerz empfindet der Kämpfer viel weniger als zuvor, weil in seinem Blut nun eigens ausgeschüttete Hormone kreisen – aufputschende Endorphine und Adrenalin. Gedanken an den drohenden Tod sind jetzt fern.
Als erste beschriebene Berserker gelten jene sagenhaften altnordischen Krieger, die als Fußtruppe des Kriegsgottes Odin nur in Bärenfelle gehüllt in die Schlacht zogen und sich über ihr »Bärenhemd« (altnordisch »ber« wie Bär, »serkr« wie Hemd) die Kräfte des starken Beutegreifers einverleiben wollten – ein in der Geschichte des Kampfverhaltens weit verbreiteter Mythos, der sich in Gestalt der Bärenfell-Mützen englischer Wachsoldaten vor dem Buckingham Palast bis in die Moderne gerettet haben könnte.
Möglich ist allerdings auch eine andere Deutung: Danach kämpften die wilden Krieger bar (»ber«) jeden Hemdes, also am Oberkörper unbekleidet. Hüten sollte man sich aber auch vor jemandem, der im dicken Wintermantel durchknallt.
Schon früh haben solche Menschen Sätze gehört wie »Ein Indianer kennt keinen Schmerz!«, oder ihnen wurde auf andere Weise Selbsthärte gepredigt, etwa durch Sprüche wie: »Zähne zusammenbeißen und durch!« Knirschen natürlich inklusive, aber davon stand in der Bauanleitung zum fleischgewordenen Kampfroboter nicht einmal etwas im Kleingedruckten. Häufig also werden dauerzerknirschte Menschen an ihrer in Kindertagen erworbenen Einstellung zu Themen wie Leistung, Verantwortung, Lust und Freude arbeiten müssen – oder an der Hemmung zu weinen, wenn sie traurig sind.
Eine Möglichkeit, Stress mit dem Gebiss abzubauen, könnte das Kauen von Kaugummis sein. Der britische Gesundheits-und Arbeitspsychologe Andrew Smith hat über zweitausend Berufstätige zwischen 18 und 74 Jahren danach befragt, wie stark sie bei der Arbeit unter Stress litten – und siehe da: Jene 39 Prozent, die niemals zu Kaugummis griffen, empfanden sich selbst doppelt so oft extrem angespannt wie eifrige Kaugummi-Nutzer. Unter Letzteren waren auch deutlich weniger Menschen mit Bluthochdruck oder einem erhöhten CholesterinSpiegel, außerdem etwas weniger Depressive.104
Auf Nachfrage räumt der Forscher von der walisischen Universität Cardiff ein, dass bisher nur eines wirklich klar sei: »Kaugummikauen ist mit einem geringeren Stress-Niveau verbunden. « Allerdings gelte dies nach bisherigem Kenntnisstand nur für Menschen, die beim Autofahren oder bei der Arbeit gerne auf etwas herumkauten – und zwar nicht unbedingt in der Absicht, innere Anspannung abzubauen. »Ob Kaugummikauen möglichen Stress gar nicht erst aufkommen lässt oder vorhandenen in Muskelbewegung umlenkt wie beim Zähneknirschen, ist schwer zu sagen«, fügt Smith hinzu. Er vermutet aber, dass beides zutrifft. Einen Vorteil hätte therapeutisches Gummikauen im Stil nervöser Fußballtrainer aber sicherlich: Wer sich auf diese Weise abregt, kann seine Zähne vor zu hohem Beißdruck schützen – wenn auch nur tagsüber.
All jene, die aus dem Rheinland stammen und Kaugummis verabscheuen, könnte der zentrale Aufruf aus einem anti-rassistisch gemeinten Lied der Kölner Gruppe BAP motivieren, beherzt gegen ihre Zerknirschung vorzugehen. Wie singt doch Wolfgang Niedecken bisweilen auch heute noch: »Jetzt jilt et: Arsch huh, Zäng ussenander.«
Manchmal ist Speichel wirklich hinderlich. »Wer ein Blas-orchester lahmlegen möchte, braucht nur – für alle Bläser sichtbar – in eine Zitrone zu beißen«, verrät der Mediziner Roland Laszig – freilich ohne zu dieser kunstverächtlichen Gemeinheit anstiften zu wollen. »Dann läuft den Musikern nämlich das Wasser im Munde zusammen; und sie können nicht mehr vernünftig blasen.« Dazu bedarf es eines eher trockenen Mundes, wie sich jeder leicht vorstellen kann, der als Schulkind eine Blockflöte misshandeln durfte – nicht selten inklusive der Nachbarschaft.
Allerdings wünschen sich Blechbläser oder Flötistinnen vor Auftritten kein völliges Versiegen des Speichelflusses. Denn würde ihnen komplett die Spucke wegbleiben, wäre es unmöglich, vor dem ersten Ton die Lippen zu befeuchten, um diese luftdicht an das Mundstück von Trompete oder Querflöte schmiegen zu können. Vor einem Auftritt passiert nun aber leicht gerade dieses: Vor Lampenfieber wird der Mund zur Wüste, und die Zunge klebt am Gaumendach wie ein dürres Pappelblatt.
Auch hier mischt die Psyche mit: »Der Speichelfluss wird stark durch das vegetative Nervensystem stimuliert«, sagt Laszig. Vor allem dessen parasympathischer, bei Entspanntheit wirksamer Anteil lässt die Speicheldrüsen Spucke bilden – etwa wenn unser Magen knurrt und wir an unser Lieblingsessen denken. »Doch sind wir aufgeregt, stellt der Parasympathikus sofort seine Arbeit ein, und der Sympathikus übernimmt das Kommando«, fügt der HNO-Arzt hinzu.
Wer häufig, also nicht nur dann und wann bei Stress, unter Mundtrockenheit (Xerostomie) leidet, täte gut daran, der Sache auf den Grund zu gehen. Denn ein Fehlen des Speichels behindert nicht nur Sprechen, Schmecken und Schlucken. Etliche Folgeschäden drohen bei trockenem Mund, darunter Mundgeruch, Zahnfleisch- und Zungenbluten, Karies und Entzündungen der Mundschleimhaut. Womöglich liegt die Dürre in der Mundhöhle nur an einem eingenommenen Antidepressivum, Schmerzmittel oder einem anderen Medikament. Doch Auslöser können auch ernste Krankheiten sein, zum Beispiel Diabetes, Rheuma oder ein Schilddrüsenleiden. Das Phänomen bedarf also genauer Klärung.
Wer nicht einmal zu atmen wagt, ist alles andere als entspannt. Uns bleibt die Luft weg, wenn wir uns akut vor etwas fürchten. Das hängt zusammen mit der schon erwähnten Schreckstarre, die uns befällt, wenn weder Flucht möglich ist noch ein Kampf sinnvoll erscheint. Jede Bewegung könnte uns dem übermächtigen Gegner jetzt verraten. Wir halten die Luft an, um unseren Aufenthaltsort nicht preiszugeben – in der Hoffnung, dass der Todfeind uns übersieht und verschwindet.
Wer hingegen zum Kampf bereit ist, traut sich zu, seinem Ärger freien Lauf zu lassen und ihm Luft zu machen. Der Ärgerliche lässt seinen Unmut heraus, indem er furios auf den Tisch haut oder die oftmals aufgestaute Wut einfach herausbrüllt. »Schrei, schrei, lass alles raus«, sang »Tears for Fears« denn auch in ihrem 1984 veröffentlichten Riesen-Hit »Shout«, mit dem die britische Pop-Band Menschen beim Protest gegen die Hochrüstung im Kalten Krieg bestärken wollte. Wer sich öffentlich buchstäblich äußert, indem Verinnerlichtes nach außen gekehrt wird, kann dies als befreiend erleben.
Wer uns hingegen dazu auffordert, endlich mal die Luft anzuhalten, will diese für ihn nervige Befreiung verhindern – womöglich ja aus verständlichen Gründen, aber doch auf unsere Kosten. Den Atem zumindest zu verlangsamen, kann aber auch für uns selbst segensreich sein, sofern uns gerade Schmerzen plagen.
Psychologen und Zellbiologen der Universität von Arizona konnten in einem Experiment mit Fibromyalgie-Patientinnen ermitteln, dass milde und mittelstarke Wärmereize auf der Haut als weniger schmerzhaft empfunden werden, wenn die Testteilnehmerinnen während des Versuchs den Atem drosselten. 105 Deshalb tun wir gut daran, bei starker Aufregung oder plötzlichen Schmerzen erst einmal tief durchzuatmen. Entspannung kann die Pein nämlich lindern.