Während die Menschen früherer Jahrhunderte den Sitz der Liebe im Herz wähnten, ist die Spurensuche der Wissenschaft heute doch ein gutes Stück vorangekommen. Wir lieben einander letztlich im Hirn, und dass wir dort gleichzeitig nachdenken sollen, macht das Leben von Verliebten nicht einfacher.
Unsere Alltagssprache offenbart, wie heikel der Versuch ist, einen anderen Menschen zu lieben – wobei es manchmal viel schwerer erscheint, zurückgeliebt zu werden, aber das soll hier nicht unser Thema sein. Jedenfalls heißt es, Verliebte nähmen einander gefangen, seien wie besessen voneinander, verstrickten sich in Gefühle und wollten einander nie mehr loslassen, was eher nach Festungshaft klingt als nach Leichtigkeit und Wonne. Vielleicht wollen ja deshalb so viele Enttäuschte irgendwann aus ihrer Ehe oder Partnerschaft ausbrechen – wenn auch nur, um sich bald schon selbst in den nächsten Knast einzuliefern.
Doch sei dem, wie es mag: Hier soll es kurz um Mitgefühl gehen und etwas ausführlicher um Zuneigung für andere – auch das ja ein körpersprachlicher Ausdruck, der wunderbar zur Kraft der zwischenmenschlichen Anziehung passt, als sei da etwas Magnetisches im Spiel, das uns geneigt macht, also sanft verbiegt.
Mitgefühl kann tödlich enden – zum Beispiel für die weibliche Hauptfigur des Clint-Eastwood-Films »Million Dollar Baby« (2004), der den kometenhaften Aufstieg einer Boxerin aus ärmlichen Verhältnissen darstellt. Nach einem unglücklichen Sturz im Ring ist die junge Frau querschnittgelähmt ans Bett gefesselt und bittet ihren Trainer, ihr beim Sterben zu helfen. Von Eastwood gespielt, ist dieser längst eine Art Ersatzvater für die Boxerin geworden und erträgt nicht länger ihre flehenden Worte und Gesten: Schwersten Herzens und noch immer mit Zweifeln ringend, entfernt er eines nachts den Beatmungsschlauch und spritzt der jungen Frau eine fünffache Überdosis Adrenalin, woraufhin sie stirbt.
Der Trainer fühlt nicht bloß mit seinem Schützling. Er spürt förmlich in sich selbst die Qualen, die Unerträglichkeit, mit der ein wacher Geist ohne jede Aussicht auf Heilung im Körper-Gefängnis nisten muss. Eine gefühllose Maschine könnte dies nicht, denn ihr mangelt es an dem, was Hirnforscher Spiegelneurone nennen – ein auf verschiedene Hirnregionen verteiltes Netzwerk von Nervenzellen, dank derer wir uns in andere Menschen einfühlen können.
Sie lassen uns gähnen, wenn wir andere vor Müdigkeit den Mund aufreißen sehen. Sie lassen uns mitlachen, sobald andere damit beginnen. Ihretwegen öffnen Eltern, quasi vorbildlich, den Mund, wenn sie ihr Kleinkind mit dem Breilöffel füttern – in der berechtigten Hoffnung, ihr Sprössling werde es ihnen spiegelbildlich nachtun.
Spiegelneurone sind nämlich nicht nur aktiv, wenn ein Mensch selbst handelt, sondern auch dann, wenn er Handlungen bei anderen beobachtet. Um sie in Erregung zu versetzen, reicht es sogar schon zu hören, wie von einer Handlung gesprochen wird. Und selbst etwas zu lesen, zu schmecken oder zu riechen, das zu einer bestimmten Aktion gehört, erzeugt eine entsprechende Resonanz im Hirn.
»Ohne Spiegelneurone gäbe es keine Intuition und keine Empathie«, also keine Einfühlung, urteilt der Freiburger Mediziner und Neurobiologe Joachim Bauer.120 Dass uns erotische Literatur erregen oder ein Melodram zu Tränen rühren kann, haben wir den mitschwingenden Nervenzellen zu verdanken – ebenso wie die Fähigkeit zu Liebe und Freundschaft.
In Beziehungen mit nahen Menschen greift die Spiegelung viel tiefer. Aus der eher flüchtigen Resonanz mit dem Gegenüber wird Bauer zufolge eine »dynamische innere Abbildung dieses Menschen, komponiert aus seinen lebendigen Eigenschaften: seinen Vorstellungen, Empfindungen, Körpergefühlen und Sehnsüchten«. Über ein solches Abbild einer Bezugsperson zu verfügen, heiße, »so etwas wie einen weiteren Menschen in sich zu haben«, fügt der Psychosomatiker hinzu. Der andere wird Teil von einem selbst. Man spürt instinktiv, was er oder sie denkt, vorhat oder befürchtet. All das überträgt sich, spiegelt sich zwischen den Beteiligten.
Doch Empathie sei »nicht angeboren«, unterstreicht Bauer. Das System der Spiegelnervenzellen reift nur dann aus, »wenn Menschen in der Prägungsphase ihres Lebens hinreichend gute Beziehungserfahrungen machen konnten und wenn spätere Traumatisierungen nicht zu einer psychischen und neurobiologischen Beschädigung dieser Systeme geführt haben«.121 Einfühlung muss vorgelebt und so gelernt werden – eben: gespiegelt. Gelingt dies nicht, weil Eltern keine Zeit, Lust oder Liebe übrig haben für ihr Kind oder depressiv, oft geistesabwesend und in sich selbst versunken sind, drohen folgenreiche Entwicklungsstörungen. Nicht umsonst kann wenig einen Säugling so ängstigen wie der Blick in ein ausdrucksloses, schweigsames Gesicht.
Nicht nur Lachen kann anstecken. Unwillkürlich reißen wir den Rachen auf, wenn wir einen anderen Menschen gähnen sehen. Doch worin liegt hier der Sinn? Der Forschungsstand zum Gähnen ist zwar noch immer verbesserungsfähig, doch auch in diesem Fall scheinen die Spiegelneuronen kräftig mitzumischen. Diverse Studien legen nahe, »dass ansteckendes Gähnen besonders häufig bei Menschen auftritt, die sich sehr gut in andere einfühlen können, bei Autisten dagegen kaum«, sagt der Neurologe Friedhelm Hummel, leitender Oberarzt am Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf.122 Sich vom Gähnen anderer infizieren zu lassen, sei deshalb möglicherweise ein Hinweis auf gutes Einfühlungsvermögen. »Demnach würden uns die Spiegelneuronen helfen, die Absichten anderer Menschen intuitiv nachzuvollziehen.«
Da Gähnen zwar nicht immer, aber meistens ein Zeichen für Müdigkeit ist, könnte das gemeinsame Gähnen ein Taktgeber für den halbwegs gleichzeitigen Aufbruch ins Bett sein. Dies kann allerdings weder den verstärkten Tränenfluss beim Gähnen noch das häufige Gähnen beim Aufstehen am anderen Morgen erklären.
Finden wir einen Artgenossen zum Gähnen, langweilt er uns – und das macht müde oder bringt eine Müdigkeit zum Vorschein, die wir bei reizvollen Gesprächen mit aufreizenden Gesprächspartnern (vor allem verschiedengeschlechtlichen) meisterhaft verbergen können. Im anderen Fall bleibt uns nur ein vernichtender Kommentar: »Uaaachhh!«
Starke Worte beeindrucken – eine Binsenweisheit. Doch dass Worte auch Stärke verraten können, dürfte weniger bekannt sein. Auf dieses Ende jedenfalls könnte man eine im Sommer 2010 veröffentlichte Studie von Forschern um den Evolutionspsychologen Aaron Sell von der Universität Kalifornien reduzieren, die den Berliner »Tagesspiegel« zu der schönen Überschrift »Menschen können Muskeln hören« veranlasst hat.123 Denn beide Geschlechter – also nicht etwa nur Frauen – können die Oberkörper-Kraft eines Mannes häufig bereits anhand seiner Stimme einschätzen.
Sell und seine Kollegen nutzten für ihre Studie ausgiebig das Maßband. Damit ermittelten sie bei amerikanischen und rumänischen Studenten, bolivianischen Indianern und argentinischen Hochland-Bauern zunächst deren Bizeps-Umfang. Außerdem maßen sie die Stärke des Händedrucks und die Kraft der Brustmuskeln und zeichneten die Stimmen der männlichen und weiblichen Probanden auf. Später hörten sich kalifornische Studierende die Stimm-Proben an und versuchten auf einer siebenstufigen Skala die Körperkraft, die Größe und das Gewicht der Testteilnehmer einzustufen. Das gleiche probierten sie anhand von Gesichtsfotos.
Kann eine Frau einen Mann – im übertragenen Sinne – womöglich besonders gut riechen, obwohl sie den ausschlaggebenden Duft gar nicht erschnuppern kann? Noch sind sich die Forscher uneins, ob beim Menschen pheromonähnliche »Liebes-Lockstoffe« – wie andere Düfte auch – von den normalen Riechsinneszellen wahrgenommen werden oder vom sogenannten Vomeronasal-Organ (VO) – genauer: von den beiden vomeronasalen Taschen, winzigen Einbuchtungen in der Nasenscheidewand vieler Wirbeltiere, die sogar Signale unterhalb der Geruchsschwelle registrieren können sollen.
Thomas Hummel, Leiter des Arbeitsbereichs »Riechen und Schmecken« an der medizinischen Hochschule in Dresden, hält die Funktion der etwa 1,5 Zentimeter langen Taschen allerdings für »nicht lückenlos bewiesen«. Er fand sie nur bei zwei Dritteln jener 180 Menschen, in deren Nase er nach dem VO suchte. Nervenverbindungen zum Hirn konnte zumindest Hummel nicht erkennen. Zwar sei der Mensch zweifellos sensibel für sogenannte Sexualduftstoffe, ein VO indes sei dazu »nicht erforderlich«. Säue etwa hielten zur Begattung schon deshalb duldungsstarr inne, weil sie Androstenon, den auslösenden Duftstoff des Ebers, ganz normal riechen können – auch dann, wenn ihr VO künstlich ausgeschaltet worden ist. Beim Menschen kann das ominöse Körperteil laut Hummel als stammesgeschichtlich rückgebildetes Zusatz-Riechorgan verstanden werden. So seien bei Föten im Mutterleib noch Nervenverbindungen zum VO nachzuweisen.
Das Ergebnis: Beiden Geschlechtern gelang es, die Körperkraft von Männern anhand der Stimmen ungefähr so gut einzuschätzen wie mithilfe der Fotos. Auf die physische Stärke von Frauen hingegen konnten sie auf diese Weise deutlich schlechter schließen.
Die Forscher folgern daraus dreierlei: Erstens ist es für das Überleben von Menschen offenbar von Anfang an hilfreich gewesen, vor allem die Kraft des männlichen Oberkörpers gut einschätzen zu können. Zweitens hat es sich seit jeher als sinnvoll erwiesen, sich von den beim Kampf so wichtigen Arm-und Brustmuskeln eines möglichen Feindes auch akustisch ein treffendes Bild machen zu können – etwa bei Nacht, Nebel oder versperrter Sicht. Und drittens sollte ein überlebenswilliger Mensch dies auch dann schaffen, wenn der bedrohliche Fremde eine andere Sprache nutzt.124
Überraschend war aber noch etwas: Ein Mann mit dunkler Stimme wirkt rein akustisch nicht stärker als ein Hochtöner – klar entgegen der Alltagserwartung. »Derzeit wissen wir einfach nicht, welche Merkmale der Stimme auf große oder geringe Körperkraft hindeuten«, räumt Aaron Sell auf Nachfrage ein. Die Klangfarbe ist es offenbar nicht. Denn Männer mit tieferer Stimme seien in Wirklichkeit »keineswegs kräftiger als solche mit höherer«.
Dennoch wirken im Alltagsleben Männer mit sonorer Stimme besonders gewinnend, weil sie damit gut zu überzeugen vermögen. Deutlich wird dies an dem Ausdruck »im Brustton der Überzeugung« – im Original-Wortlaut eigentlich: »im Brustton der tiefsten Überzeugung«. Die Wendung stammt von dem Historiker Heinrich von Treitschke (1834 – 1896), der sie in einem Aufsatz über den deutschen Philosophen Johann Gottlieb Fichte nutzte.
Die Stimmwirkung hat auch Konsequenzen für die Partnerwahl. Ein Mann mit glockenheller Kehle, der auf ein erotisches Abenteuer aus ist, verabredet sich mit der begehrten Frau am besten schriftlich – ein Telefonat könnte ihn nämlich sang-und klanglos aus dem Rennen werfen. Denn vor dem geistigen Auge der angerufenen Frau taucht eher ein schmächtiges Männlein statt eines starken Kerls auf, wenn am anderen Ende der Leitung bloß ein feines Stimmchen säuselt. Und das wird sie an gewissen Tagen unwillig machen, wie Stimmforscher herausgefunden haben wollen.
Ein Forscherteam um den Psychologen David Feinberg, der heute an der McMaster-University im kanadischen Hamilton lehrt, hat in einer 2006 veröffentlichten Studie nämlich nachgewiesen, dass Frauen einen Mann mit dunkler Stimme anziehender finden als einen mit heller.
Generell gilt das ohnehin, aber vor allem trifft es an den besonders empfängnisbereiten Tagen der jeweiligen Frau zu. Der Brustton eines Mannes scheint einer fruchtbaren Frau zu signalisieren, dass der Betreffende über gute Gene verfügt und überdurchschnittlich zeugungsfähig ist. Doch Panik unter Alltagstenören wäre unangebracht: Eine helle Stimme versagt einem Mann keineswegs ein Leben mit Frau – im Gegenteil. Für eine Dauerpartnerschaft ziehen die Damen einen solchen Mann einem Brummbären sogar vor – immerhin.125
Liebe ist unberechenbar und unbeschreiblich. Eine Liebesformel hat noch niemand gefunden, auch wenn die unseriöseren unter den Partnerschaftsbörsen ihren Kunden vorgaukeln, der Traumpartner lasse sich zielsicher aufstöbern, wenn nur pfiffig nach ihm oder ihr gefahndet werde. Wenn es denn so einfach wäre!
Dabei brauchen wir in gewisser Hinsicht nur unserer Nase zu folgen. »Bei unserer Partnerwahl gibt es nämlich Hinweise darauf, dass wir unsere Mitmenschen auch nach ihren Körperdüften beurteilen und unser Verhalten danach ausrichten«, sagt der Geruchsforscher Thomas Hummel – wobei dieses Vorgehen bei anderen Säugetieren noch viel besser belegt ist, etwa bei der Maus, beim Hamster oder der Ratte. »Wenn man zum Beispiel in die natürliche Umgebung einer seit Kurzem trächtigen Maus den Duft eines fremden Männchens einbringt, dann hat sie innerhalb der ersten zwei Wochen einen Abgang«, berichtet der Wissenschaftler weiter. Die Schwangerschaft ende, »damit die Maus wieder empfangsbereit für einen neuen Partner ist«.
Auch den Schweinen hilft die Nase bei der Fortpflanzung. So ist von Säuen bekannt, dass sie bei der Begattung in Duldungsstarre verfallen, weil sie den auslösenden Sexual-Lockstoff des Ebers riechen – nämlich Androstenon, ein Abbauprodukt des Sexualhormons Testosteron.
Menschen-Männer dünsten ebenfalls Androstenon aus, allerdings ohne Frauen gleich duldungsstarr zu machen. Ganz so blöd ist dieser kleine Kalauer aber gar nicht. Das hat vor Jahren ein berühmt gewordener Versuch der österreichischen Biologin Astrid Jütte gezeigt, die inzwischen die Geschäfte des Konrad-Lorenz-Instituts für Evolution und Kognitionsforschung in Altenberg bei Wien führt.
Man darf sagen, dass Jütte mit ihrem kuriosen Experiment im Wartezimmer einer Arztpraxis das Geheimnis der Liebe zumindest ein Stück weit gelüftet hat. Bevor die ersten Patienten eintrafen, hatte die Verhaltensforscherin einen Teil der Stühle mit Androstenon präpariert. Das Resultat war verblüffend: Frauen, die gerade ihren Eisprung hatten, setzen sich auffallend oft auf Stühle, die unsichtbar mit dem betörenden Pheromon versehen waren. Daraus folgt indes keineswegs zwingend, dass diese Frauen gerne untreu werden. Sie wählten den verlockenden Stuhl gänzlich unbewusst – wenngleich an ihren besonders empfängnisbereiten Tagen.
Doch über die Nase finden wir nicht nur an den bestgeeigneten Tagen einen Sexualpartner, sondern wahrscheinlich auch den passenden, mit dem buchstäblich die Chemie stimmt – zumindest aus genetischer Sicht. Besonders anziehend scheinen sich nämlich Paare zu finden, bei denen Mann und Frau ein möglichst unterschiedliches Immunsystem haben. Denn nur dann verfügen auch ihre Kinder über gut kombinierte Abwehrkräfte. Praktischerweise vermitteln sich günstige Immun-Erbanlagen über Körperdüfte – eine Erkenntnis, die auf Claus Wedekind zurückgeht, der heute an der Universität Lausanne lehrt.
Der Zoologe hatte ursprünglich herausfinden wollen, wie Fischweibchen ihre Partnerwahl treffen. Wedekind nahm an, dass der sogenannte MHC-Gen-Komplex (Major Histocompatibility Complex) daran mitwirkt. Beim Menschen umfasst dieser Teil des Erbguts rund hundert Gene und ist jeweils so spezifisch wie ein Fingerabdruck. Der MHC-Komplex unterstützt unseren Körper dabei, Fremdzellen und Krankheitserreger zu erkennen, und entscheidet bei Organ-Verpflanzungen über die Gewebeverträglichkeit des Implantats.
Da Menschenfrauen meist deutlich redseliger sind als Fischweibchen, nutzte Wedekind sie – und nicht etwa Heringsdamen und Karpfenmädchen – als Testpersonen für ein Experiment, das durchaus Naserümpfen auslösen kann. Der Forscher ließ die Frauen an T-Shirts schnüffeln, die Männer zwei Nächte lang getragen hatten. Anschließend mussten die Versuchsteilnehmerinnen die Duftnoten bewerten.
Das verblüffende Resultat: Am anziehendsten finden Frauen den Schweißgeruch jener Männer, deren MHC-Cocktail von ihrem eigenen am deutlichsten abweicht. Allerdings: So perfekt, dass er uns zielsicher zum optimalen Lebenspartner führen würde, arbeitet der Geruchssinn nicht. Eher warnt er uns vor dem falschen – was ja auch schon etwas ist.
So mancher frisch Verliebte wird tatsächlich neurotisch und durchlebt einen »Zustand, der sich am besten mit dem eines Zwangspatienten vergleichen lässt, einem Menschen also, der beispielsweise den unwiderstehlichen Drang verspürt, sich 43mal am Tag die Hände zu waschen«, schreibt der Wissenschafts-Publizist Bas Kast.126 Zwanghaft und wie besessen kreisen die Gedanken des Liebestollen um das Objekt seiner Sehnsucht. Er kontrolliert – vorsichtig geschätzt – alle acht Minuten seinen Anrufbeantworter oder die Mailbox, stets hoffend auf ein Signal der Angebeteten. In der Zwischenzeit überlegt er sich immer wieder selbst Kurznachrichten, eine unwiderstehlicher als die andere, mit denen er die Sache endgültig in trockene Tücher bringen könnte. Und wenn dann noch Zeit bleibt, liest der arme Tropf zum 112. Mal ihren Liebesbrief – es könnte ihm ja ein wichtiges, ach was: das entscheidende Komma entgangen sein.
Hinweise auf eine Zwangsneurose bei Verliebten fand zum Beispiel die Psychiaterin und Psychopharmakologin Donatella Marazziti von der Universität Pisa. Die Italienerin hatte die Blutwerte von 20 Studierenden getestet, bei denen seit einem halben Jahr recht ungestüme Schwärme von Schmetterlingen im Bauch umherflatterten – und siehe da: Nicht nur dachten die Verliebten täglich stundenlang an ihren Romeo oder ihre Julia; in ihrem Blut war der für unseren Gefühlshaushalt so wichtige Nervenbotenstoff Serotonin auf einen Pegel gefallen, den man krankhaft niedrig nennen kann – und den auch neurotische Zwangspatienten aufweisen. Ein hoher oder zumindest normaler Gehalt an Serotonin beruhigt nicht nur, sondern hebt auch die Stimmung; ein niedriger macht traurig und fahrig. »Es wäre allerdings naiv, Verliebtheit einfach mit Serotonin-Mangel gleichzusetzen«, schränkt Kast völlig zu Recht die Aussagekraft der Studie aus Pisa ein.
Ein Hinweis darauf, was unser Hirn verliebt macht, ist sie aber immerhin. Da Liebe zwei Menschen – zumindest für ein paar Jahre – zusammenbringen und für Nachwuchs sorgen lassen soll, sollte sich die Natur eine attraktive Belohnung für diesen Aufwand ausgedacht haben. »Eine Möglichkeit wäre, uns fürs Beisammensein zu belohnen, Trennungen dagegen mit einer kleinen Depression zu bestrafen«, meint Kast. Das Leben ist voller Beispiele dafür – vielleicht alles keine Beweise, aber ein Indizienprozess ließe sich damit recht ordentlich gewinnen.
Nicht Maler, sondern Liebende sind die größten Schönfärber. Verzückt und im Überschwang schätzen sie den geliebten Menschen, aber auch mit ihm verbundene Sachverhalte oder Ereignisse nicht angemessen ein und »beschönigen das Gesehene«, sagt die Augenmedizinerin Hedwig Josefine Kaiser. Ähnliches gilt auch für andere emotional aufgeladene Situationen – etwa das Konzert der weltbesten Lieblingssängerin, das selbstverständlich gar nicht missraten kann.
In solchen Fällen bewerte das limbische System im Zwischenhirn die über die Augen ins Hirn vordringenden Reize sehr positiv oder gar überschwänglich, »ohne dass das abwägende Frontalhirn sie mit früheren Erfahrungen abgleichen kann«, erklärt Kaiser das Ausblenden möglicherweise störender Umstände oder widersprechender Fakten.
In der hormonell befeuerten Euphorie mangelt es eben an Objektivität – soweit der Mensch denn überhaupt dazu imstande ist. Wie groß freilich die Tücken beschränkter Wahrnehmung sind, wusste schon der Kleine Prinz, den Antoine de Saint-Exupéry so weise sagen ließ: »Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.« Und tatsächlich trauen wir ihnen ja nicht immer.
Warum aber tragen wir bisweilen eine rosarote Brille statt einer grünen oder blauen? Kaiser zufolge liegt das am »Herzfarben-Charakter« dieses durchweg positiv empfundenen Farbtons. Was aber eindeutig nicht hilft, um sich ein schönes Weltbild zu verschaffen, ist das Aufsetzen einer echten Brille mit bonbonfarbenen Gläsern. »Dadurch kann man das Hirn leider nicht austricksen«, fügt die Ärztin schmunzelnd hinzu.
In besonders schweren Fällen, wenn die Liebe sogar blind macht, hilft ohnehin keine Brille weiter. Wobei die Blindheit auch dann keine vollkommene ist, sondern eine selektive: Denn Verliebte haben bekanntlich nur noch Augen für sie oder ihn – was für eine kleine Welt.