Existenznot trotz Milliardengeschäfts

Betriebswirtschaftlich macht es also keinen Sinn, Milchkühe zu halten, nicht zu reden vom Selbstwertgefühl eines Berufsstandes, dessen Erzeugnisse permanent unter Wert verramscht werden. Das erklärt, warum seit dem Jahr 2000 rund 83000 Milchbäuerinnen ihren Stall für immer zugemacht haben. Und diejenigen, die bis heute dabeigeblieben sind, können das nur, weil sie Subventionen erhalten. Zwischen 2014 und 2020 flossen jährlich 6,2 Milliarden Euro an Direktzahlungen von der EU an Deutschlands Bauern. [1] An ihrem Einkommen machten diese Subventionen zuletzt 42 Prozent aus, bei den Milchviehbetrieben waren es sogar 54 Prozent.

In den vergangenen zwanzig Jahren hat die EU rund eine Billion Euro an die Landwirtinnen ihrer Mitgliedstaaten ausgezahlt. Eine Billion Euro – das sind 1000 Milliarden oder eine Eins mit zwölf Nullen. 1000 Milliarden Euro, die schwer in Übereinstimmung zu bringen sind mit dem Anspruch, Steuergeld effektiv auszugeben. Denn vielen Bauern, vor allem den kleineren, geht es trotzdem schlecht. Und auch die Artenvielfalt, die Böden, Gewässer und Nutztiere haben trotz des vielen Geldes kaum profitiert. Die 1000 Milliarden Euro an Subventionen haben aber sehr wohl dazu beigetragen, die Preise für Lebensmittel staatlich zu drücken oder zu bremsen, auch zum Vorteil der vier marktbeherrschenden Supermarkt-Konzerne. Denn die können sich ihrer vergleichsweise günstigen Preise rühmen (und bekommen dafür Beifall von der Politik), unterschlagen aber, dass diese Preise nur möglich sind, weil Supermarktkundinnen über den Umweg ihrer Steuern ein monströses System von Agrarsubventionen finanzieren.

Ende 2021 informierte Edeka seine Kunden über den Streit mit zwei seiner Lieferantinnen: Die Firmen – die zwei französischen Milch- und Käsemultis Lactalis und Bel – hätten für einige Produkte zu hohe Forderungen erhoben, deshalb verbanne man sie so lange aus den Edeka-Märkten, bis der Preis wieder stimme, denn: »Wir kämpfen jeden Tag für höchste Qualität zum niedrigsten Preis.« [2] Die Details der Verhandlungen kennen nur Edeka und die beiden Lieferanten, und vielleicht waren deren Preisvorstellungen im konkreten Fall tatsächlich überzogen. Generell aber legt der von Edeka öffentlich gemachte Preiskampf die Machtverhältnisse in der Lieferkette offen: Ganz oben in der Hierarchie stehen die Supermärkte, die kein Problem damit haben, selbst auf die Produkte großer Markenhersteller einfach mal für eine Weile zu verzichten. Das trifft die Molkereien hart, aber immerhin haben sie die Möglichkeit, ihre Milch bei wegbrechendem Absatz zu Milchpulver zu verarbeiten und einzulagern; auch der Molkereimarkt ist inzwischen hochkonzentriert – die Zahl der Betriebe in Deutschland sank seit 1950 von 3400 auf 158 (!), die ersten zehn Unternehmen beherrschen heute zwei Drittel des Marktes.

Ganz unten in der Hierarchie stehen die Bäuerinnen und Bauern, sie sind das schwächste Glied in der Kette, denn ihre auf Höchstleistung gezüchteten Tiere produzieren täglich Milch, die aus den Eutern und vom Hof muss, und sei es zu Ramschpreisen, weil das immer noch besser ist, als sie in den Gully zu kippen (welchen Preis die Bauern für ihre Milch bekommen, erfahren sie übrigens meist erst nach der Ablieferung in der Molkerei).

Kamen 1970 noch 57 Prozent der Verbraucherausgaben im Supermarkt für Milch bei den Landwirtinnen an, waren es 2020 nur noch 35 Prozent. Supermärkte und Molkereien schöpfen immer mehr vom Rahm ab, die Landwirte sind zu Rohstofflieferanten degradiert worden, die in doppelter Weise abhängig sind: vom Goodwill der mächtigen Molkereien und Supermarktkonzerne sowie von den EU -Subventionen. Finden Supermärkte und Molkereien nach Preiskämpfen irgendwann wieder zueinander, dann oft zu Lasten der Milchbäuerinnen. Edekas Selbstlob – »Wir stehen für Preise, die allen schmecken!« – kann für sie jedenfalls kaum gelten. Der Kartellrechtler Kim Manuel Künstner sagt: »Der heutige Preismechanismus entlang der Milchlieferkette ist ›missbräuchlich by design‹: Er wälzt die Vermarktungsrisiken einseitig auf die Landwirte und Verarbeiter ab, während die Supermärkte die Chancen internalisieren.« [3]

Und weil das Markt-Design den Handelsriesen einen strukturellen Vorteil zuschanzt, gehören Schlagzeilen wie diese längst zur Routine: »Trecker-Blockade bei Edeka im Ammerland«, »Bauern blockieren Logistikzentren von Lidl in Neckarsulm«, »Traktoren vor dem Rewe-Logistikzentrum in Kiel«. »Aldi diktiert, der Bauer krepiert!« – so stand es auf einem Transparent bei einer bayernweiten »Nadelstich-Aktion« des Bauernverbands Anfang 2022 vor rund 50 Aldi-Filialen. In einem offenen Brief geißelte der bayerische Bauernpräsident den Discounter, der mit großem Werbeaufwand angekündigt hatte, bei Milch und Fleisch immer häufiger auf Tiere aus höheren Haltungsstufen zu setzen. Davon abgesehen, dass sich die Situation der Tiere dadurch nur marginal verbessert und Aldi seine Ziele teilweise erst bis zum Jahr 2030 umsetzen will, zielte die Attacke der bayerischen Bauern auf den kranken Kern der Preisbildung infolge eines großen Machtungleichgewichts: Aldi inszeniere sich in der Öffentlichkeit als Hüter des Tierwohls, fahre aber unverändert seine »aggressive Niedrigpreisstrategie«, die Bäuerinnen müssten erbittert um jeden Zehntelcent kämpfen.