Regeln steuern den Markt, nicht Verbraucher

Aber wie konnte es bei uns überhaupt so weit kommen? Die Entwicklung ist kein Zufall, und ich bestreite vehement die These, die Verhältnisse im Supermarkt seien die Folge unseres Einkaufsverhaltens. So als wären wir Verbraucher die Köche und die Supermärkte unsere Kellnerinnen. Nichts ist falscher als diese Idee. Es sind die Regeln, die den (Super-)Markt formen, nicht der Inhalt unserer Einkaufswagen. Dass wir heute ein Oligopol aus vier Lebensmittel-Giganten haben, die 85 Prozent des Marktes beherrschen, liegt nicht an unserer Ablehnung von »Tante Emma«, sondern ist vor allem das Resultat wettbewerbsrechtlicher Regeln, die diese Konzentration nicht verhindert, sondern begünstigt haben. Dass wir heute sehr viele Angaben auf Lebensmittelverpackungen nicht verstehen und andere dort überhaupt nicht finden oder dass wir Gesundheitsgefährdungen in Kauf nehmen müssen, ist keine Folge übertriebener deutscher Sparsamkeit, sondern europäischer und deutscher Gesetzgebung.

Hierzulande gibt es auf Zehntausenden Seiten derzeit mehr als 700 lebensmittelrechtlich relevante Gesetze, Verordnungen nebst Anlagen und Ausführungsbestimmungen der EU , des Bundes und der Länder, und die Frage ist, wem sie nützen. Fasst man die Ergebnisse unserer Erkundungen in deutschen Discountern und Vollsortimentern zusammen, bleibt nur die Antwort: Diese Regeln sind nicht für uns Verbraucher gemacht, sondern dienen den Interessen der Herstellerinnen und Händler. Wer das bezweifelt, sollte – pars pro toto – die 128 Seiten starke Olivenölverordnung lesen und sich dann die Frage stellen, warum selbst derart detaillierte Vorgaben nicht dazu führen, dass Olivenöle der nominell höchsten Güteklasse (»nativ extra«) auch wirklich exzellente Öle sind. Die Antwort: Weil es so gewollt ist. Am Beispiel Olivenöl kann man auch gut nachvollziehen, warum es irrig ist, zu glauben, wir könnten mit unserem Einkaufsverhalten den Markt in Richtung besserer Qualität beeinflussen: Solange die Regeln so sind, wie sie sind, ist es völlig irrelevant, ob ein paar qualitätsaffine Verbraucherinnen öfter Olivenöl x oder y nachfragen in der Erwartung, dadurch ein Signal an die Hersteller und Händlerinnen zu senden; solange die Regeln sind, wie sie sind, wird die Lebensmittelwirtschaft die Spielräume der Olivenölverordnung zu ihren Gunsten nutzen, und das heißt: ein Produkt anbieten, das der Verbraucher nicht durchschauen kann.

Das Prinzip der ohnmächtigen Verbraucherin lässt sich fast beliebig durchs Lebensmittelsortiment deklinieren: Wenn Sie sich Ihre Brötchen nicht mehr aus den Selbstbedienungsfächern der Discounter fischen, sondern beim »kleinen« Regionalbäcker holen, bekommen Sie mit größter Wahrscheinlichkeit unverändert Backwaren mit undeklarierten Zutaten – weil es das europäische Lebensmittelrecht hergibt. Wenn Sie nur noch Bio-Milch und Bio-Fleisch kaufen, ist das ein ehrenwertes Ansinnen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass Tiere auch bei Bio-Bauern unnötig leiden können, weil die Regeln an Parametern wie der Stallgröße ansetzen und nicht danach ausgerichtet werden, ob die Tiere tatsächlich seltener krank sind. Nein, Gesundheitsdaten werden erst gar nicht systematisch erhoben.

Sinnlos sind moralische Appelle oder Schuldzuweisungen an Verbraucher und Konzerne. Beide sind weder »schlecht« noch »gut«, sondern verhalten sich so, wie es die staatlich gesetzten Rahmenbedingungen vorgeben. Weder können sich Verbraucherinnen eine andere Landwirtschaft oder andere Lebensmittelsortimente »herbeikaufen«, noch können Supermärkte aus dem System ausbrechen oder es von innen heraus reformieren, indem sie plötzlich entgegen der Regeln völlig transparent informieren, etwa über den Pestizidgehalt ihrer Äpfel, über die Arbeitsbedingungen von Erntehelfern, über die systembedingten »Produktionskrankheiten« bei Milchkühen und Masthühnern, über die gesundheitlichen Risiken für Kinder durch unausgewogene Lebensmittel, über die Treibhausgasemissionen von Tierfutter für die Rindermast. Ein Supermarkt, der all diese Informationen preisgäbe, während die Konkurrenz weitermachte wie bisher, wäre bald vom Markt verschwunden.

Wie wenig marktverändernd moralische Appelle, durch unseren Einkauf doch einen nachhaltigeren Lebensmittelmarkt zu schaffen, bewirken, kann man am Produkt »Hühnereier« sehr deutlich aufzeigen. Für Hühnereier gibt es zwar eine transparente Kennzeichnung (mit den Ziffern 0 bis 3), die die Eierproduktion nachhaltiger und tierfreundlicher machen soll. Tatsächlich kommen in Deutschland heute aber gerade mal 13 Prozent der im Einzelhandel abgesetzten Schaleneier aus Bio-Betrieben (und da sind die Eier in verarbeiteten Lebensmitteln noch gar nicht mitgezählt). Der Schluss, den man daraus ziehen muss, lautet: Obwohl diese Kennzeichnungspflicht seit fast zwanzig Jahren europaweit gilt und eigentlich transparent über Qualität informiert, ist sie nicht in der Lage, Verbraucherinnen und Produzenten in nennenswerter Zahl in Richtung einer ökologischeren Erzeugung zu lenken. Ergo müssen die Regeln andere sein, wenn man das Ziel nicht aufgeben will. Es müssen Regeln sein, die alle Verbraucherinnen und alle Erzeuger auf das Ziel verpflichten. Appelle, die Landwirtschaft freiwillig zu ökologisieren, sind so effektiv wie der Aufruf an alle Bürgerinnen, doch bitte freiwillig Steuern zu zahlen.