Hat der Supermarkt-Kunde also überhaupt keine Hebel in der Hand, weil seine Einkaufsmacht eine Fata Morgana ist und auch die rechtlichen Bedingungen in Deutschland und der EU alles andere als gut sind? Natürlich hat bewusster Einkauf einen Nutzen, aber einen anderen als den, den sich viele Verbraucherinnen und Verbraucher wünschen: Wer ein nachhaltiges Produkt kauft, hat zuvorderst einen persönlichen Vorteil, weil er mit einem guten Gewissen ein gutes Produkt konsumieren und Freude daran haben kann. Bewusstes Einkaufsverhalten kann auch Vorbild für Kinder sein und vermag die Veränderungsbereitschaft von Erwachsenen anzuregen. All das ist sehr viel und eine Voraussetzung dafür, dass die notwendigen Maßnahmen von der Politik durchgesetzt werden können. Wer aber die Losung ausgibt, individuelles Einkaufsverhalten könne Märkte verändern, trägt dazu bei, dass sich nichts ändert.
Im Prinzip geht es darum, dass sich Supermarktkundinnen ihrer zweiten Rolle wieder stärker bewusst werden – der Rolle als Staatsbürger, der über zivilgesellschaftliches und politisches Engagement in Parteien und Verbänden Einfluss darauf nimmt, wie unsere Lebensmittel erzeugt und vermarktet werden. Denn die Impulse dafür müssen aus der Politik kommen, nur dort kann der Anstoß für den überfälligen, radikalen Systemwechsel erfolgen. Denn der Markt wird dies nicht tun, er wird es weder wollen noch können. Der Markt wird in Gestalt vieler Unternehmen einfach so weiterwursteln, jeder wird seinen Vorteil suchen, während Gemeinwohlinteressen auf der Strecke bleiben.
Im letzten Kapitel habe ich dargelegt, dass es mit der europäischen Basisverordnung bereits ein geltendes Recht gibt, das – würde man es konsequent anwenden und in einigen Bereichen weiterentwickeln – die existierenden Defizite des Lebensmittelmarktes beseitigen könnte. Die EU hat jedoch keinerlei Absichten in dieser Hinsicht. Vielmehr hat sie sich im Jahr 2020 eine übergreifende Strategie für den Agrar- und Lebensmittelsektor verordnet, die »Farm-to-Fork-Strategie« oder kurz F2F (»Vom Hof auf den Teller«). Wer erwartet, diese Strategie würde auf einer gründlichen, kritischen Analyse der Ausgangslage beruhen, wird enttäuscht werden. Eine solche Analyse gibt es nicht und deshalb fehlt natürlich auch die sich daraus ergebende logische Forderung, geltendes Recht endlich umzusetzen und effektive gesetzliche Regeln zu beschließen. Die Strategie hebt vorwiegend auf Information, Bildung und Appelle an Verbraucher ab und geht schlichtweg davon aus, dass der Lebensmittelmarkt zur Zufriedenheit aller funktioniert. Unter anderem wird dies damit begründet, dass die Nahrungsmittelexporte der EU in der jüngeren Vergangenheit angestiegen sind. Dies sei ein Indiz für die herausragende Qualität der EU -Lebensmittel. Wie in diesem Buch gezeigt, ist das Gegenteil der Fall.
In der europäischen bzw. deutschen Lebensmittelpolitik muss deshalb dringend Folgendes passieren:
Die der Basisverordnung nachgeordneten Gesetze, z.B. die Kennzeichnungsvorschriften, die Produktverordnungen, die Regeln über Zusatzstoffe und Aromen, müssen neu gefasst werden, damit sie dem Täuschungsverbot und den Gesundheitsschutz voll Genüge leisten.
Eine verständliche, effektive, farblich kodierte und gesetzlich verpflichtende Nährwertkennzeichnung auf der Vorderseite der Verpackungen muss eingeführt werden.
Die Zahl der Zusatzstoffe, gegenwärtig rund 380, und die Zahl der zugelassenen Aromen müssen drastisch verringert werden. Alle im Verdacht der Gesundheitsschädigung stehenden Zusatzstoffe sind zu verbieten. Vorbild sollten die Bio-Lebensmittel sein, die nur 20 bis 30 Zusatzstoffe verwenden und ihren Einsatz strikter regulieren.
Die deutsche Lebensmittelbuch-Kommission muss durch eine demokratisch legitimierte Institution ersetzt werden, deren Aufgabe es primär ist, den Gesundheitsschutz und das Täuschungsverbot umzusetzen und transparente Qualitätsstandards bei der Herstellung von Produkten festzulegen.
Verbraucher benötigen effektive Informationsrechte, nicht nur gegenüber Behörden, sondern auch gegenüber Unternehmen. Behörden müssen über Gesundheitsgefahren im Lebensmittelmarkt proaktiv (und nicht anonymisiert wie bisher) im EU -Schnellwarnsystem informieren. Die Ergebnisse der Lebensmittelkontrollen von Lebensmittelbetrieben müssen im Internet veröffentlicht werden.
Die Lebensmittelkontrollbehörden müssen personell und finanziell so ausgestattet werden, dass sie die rechtlichen Vorgaben in der Praxis (z.B. das Gebot der Rückverfolgbarkeit der Lebensmittel entlang der Lieferketten) durchsetzen können.
Verbraucherverbände brauchen Klagerechte, etwa um gegen Behörden vorgehen zu können, wenn diese bestehende Gesetze missachten; des Weiteren benötigen Verbraucherverbände das Recht, Lebensmittelgesetze auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht überprüfen zu lassen; und schließlich brauchen sie das Recht, Unternehmen auf Unterlassung verbraucherfeindlicher Praktiken zu verklagen.
Notwendig sind verschärfte Transparenz- und Kontrollpflichten nicht nur für Lebensmittelherstellerinnen, sondern auch für die Einzelhandelsunternehmen im Hinblick auf Umweltschäden- und Menschenrechtsverletzungen entlang ihrer Lieferketten. (Diese Pflichten werden zurzeit im Rahmen des Entwurfes eines EU -Lieferkettengesetzes diskutiert.)
Das Kartell der vier Lebensmittel-Einzelhandelskonzerne muss zerschlagen werden, um den Preisdruck auf die Lieferanten abzumildern und faire Marktchancen für mittelständische Qualitätsanbieterinnen herzustellen.