Kapitel 8

Meister Marius, das hatte Aurelia bereits zur Genüge zu spüren bekommen, schien nicht unbedingt ein Haubenkoch zu sein.

»Ist Ihnen das Salz ausgegangen?«, erkundigte sie sich so höflich wie möglich, nachdem sie einen Bissen von ihrem Abendessen genommen hatte, das – wie sollte es auch anders sein – in Breiform daherkam.

Meister Marius machte eine abwinkende Bewegung. »Hier bekommt man ja nichts Vernünftiges.«

»Auch kein Salz?!«

»Bah! Bin ich eine Ziege, dass ich an Salz lecke? Außerdem ist das Salz hierzulande nicht zu vergleichen mit dem in Mistras!«

»Wissen Sie, Meister, in solchen Momenten zeigt sich Ihr Alter dann doch.« Meister Marius schnappte empört nach Luft, und Aurelia musste sich ein Lachen verkneifen. Ihre Laune hob sich signifikant.

»Schön«, sagte Meister Marius mit einer Dramatik in der Stimme, die Aurelia sonst nur aus dem Theater kannte. »Dann sei es so – wenn du dessen unbedingt bedarfst, es steht eines in dem Regal da oben.«

Aurelia bedurfte, also erhob sie sich und holte das kleine, schon etwas verstaubte Salzfass, um sich damit wieder auf der Küchenbank niederzulassen. Ihre neuen Papiere lagen immer noch auf dem Tisch, und Aurelia gab ihr Bestes, sie zu ignorieren, während sie kräftig salzte. Immer noch nicht vergleichbar mit dem Essen von daheim – auch wenn ihre Erinnerungen sie täuschen könnten, schließlich waren ihre Sinne abgestumpft gewesen. Bei dem Gedanken an die regelmäßigen Familienessen verspürte sie wieder einen Stich im Herzen. Wie konnte es sein, dass eine Erinnerung so widersprüchliche Gefühle in einem wachrief?

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Meister Marius tief Luft holte, was sie fragend aufblicken ließ.

»Ich … verstehe, dass diese Situation nicht einfach für dich ist«, begann er und wirkte dabei so unbeholfen, dass Aurelia fühlte, wie ein kleines Lächeln an ihren Mundwinkeln zupfte. »Somit möchte ich dir meine … Unterstützung anbieten.«

Anscheinend hatte er ihr Wechselbad der Gefühle zumindest teilweise mitbekommen. Aurelia, die sich von seiner Verlegenheit angesteckt fühlte, räusperte sich. »Das, ähm, das weiß ich zu schätzen, danke.«

Meister Marius nickte ein paarmal, dann fuhr er sich über das golddurchwirkte Haar. »Ich möchte nur, dass es dir bewusst ist. Und wenn das Leben mich eines gelehrt hat, dann ist es die Gewissheit, dass auf Regen immer Sonnenschein folgt. Das sagt man hier so, nicht? Auf eine schlimme Situation folgen bessere Tage. Und wir alle benötigen in unseren schlimmsten Tagen helfende Hände.« Er zögerte erneut. »Was ich damit sagen möchte, ist, dass du dich jederzeit an mich wenden kannst. Es spielt keine Rolle, zu welchem Thema. Ich kann auch nicht behaupten, dass ich dann in allen Fällen sonderlich hilfreich sein werde, aber es … es liegt die schlimmste Gefahr meiner Erfahrung nach darin, sich allein zu fühlen.«

»Oh«, sagte Aurelia leise und mit weiten Augen. Es war nichts, was sie erwartet hatte. Etwas in ihrer Brust wurde eng, aber ausnahmsweise war es kein schlimmes Gefühl. »Ich … danke. Das ist sehr großzügig.«

»Nicht großzügig«, widersprach Meister Marius, »selbstverständlich.«

Aurelia lächelte matt. »Sicher nicht für jeden, Meister. Und schon gar nicht hier.«

Ihr Meister blickte sie einen Moment lang prüfend mit seinen leuchtenden Augen an, schien sich aber gegen eine Antwort zu entscheiden. Einen Augenblick lang war es still, bis auf das sanfte Heulen des Winterwinds von draußen und das gelegentliche Knarren der Küchenbank, wenn sich einer von ihnen bewegte. Aurelia aß ihren Brei, warf gelegentliche Seitenblicke auf ihre neuen Papiere und dachte darüber nach, dass die größte Freundlichkeit manchmal erst in den schwersten Zeiten erwiesen wurde.

»Nun, da das geklärt ist: Wir beginnen dann gleich mit deinem Unterricht«, sagte Meister Marius recht unvermittelt und ließ sie aufblicken. Offenbar war er erpicht darauf, das Thema zu wechseln, denn er fuhr rasch fort: »Nur eine Einführung, schließlich hat Johanns Besuch uns heute Zeit gekostet. Erinnere mich, dass ich dir dann noch ein Buch als Nachtlektüre gebe. Wie gut kennst du dich eigentlich mit den Gottheiten der ersten Generation aus?«

Aurelia zuckte ein wenig mit den Achseln. Es war erstaunlich: Sie war müde, und doch fühlte sie sich aufmerksamer denn je. »Die Alten Gottheiten? Ich weiß, welche nach dem Zweiten Sternenfall von den Neuen Gottheiten laut unserem Wissen getötet oder absorbiert wurden und welche nicht. Die wichtigsten Überlebenden sollte ich kennen – Kamrušepa, Trenzi, Inar, Janum, die Herrin … Aber ich muss zugeben, dass ich über die jeweiligen Zuständigkeitsbereiche nicht sehr gut Bescheid weiß. Ich weiß nur, dass Kamrušepa die Hauptgöttin der Funkensprü–« Meister Marius senkte seinen Löffel und starrte sie an. Verdammt. Die Sozialisierung, stellte sie fest, saß in manchen Bereichen immer noch tief. Mit einem Räuspern korrigierte Aurelia sich rasch und sprach weiter: »–die Hauptgöttin der Magiebegabten ist. Janum kenne ich nur dem Namen nach, aber Trenzi wird von dem fahrenden Volk und Leuten der Bühne verehrt. Die Herrin erklärt sich von selbst, und Inar ist meines Wissens die Göttin der Natur und Heilkunst.«

»In der Tat, das kann man so sagen«, stimmte Meister Marius großzügig zu. »Aber wenn das alles ist, was du über dieses Thema weißt, dann werden wir noch einiges an Nacharbeit leisten müssen. Bringt man unter den Vulgax den Kindern heutzutage irgendetwas über die Schriftsysteme bei, in denen wir üblicherweise unsere Sprüche abfassen?«

Aurelia runzelte ein wenig die Stirn. »Was bedeutet dieses Wort, das Sie immer benutzen – Vulgax? Das ist doch Limisch. Altlimisch sogar, wenn mich nicht alles täuscht.« Sie wusste, dass das Limische neben den grammatischen Endungen -a beziehungsweise -ae für weibliche und -us beziehungsweise -i für männliche Wörter bei personenbezogenen Wörtern auch die neutrale Endung -x sowohl im Singular als auch im Plural kannte. Ob Ein- oder Mehrzahl gemeint war, wurde dann rein aus dem Kontext ersichtlich, da die Endung sich nicht änderte. Diesen Umstand hatte sie immer faszinierend gefunden, genau wie die Existenz von limischen Pronomen für Personen, bei denen das Geschlecht nicht bekannt oder nicht männlich oder weiblich war.

Meister Marius lächelte. »In Mistras werden so die Magielosen bezeichnet. Ich glaube, der Begriff wurde vor ein paar Jahrhunderten auch ins Radbonische übernommen, aber heutzutage gilt er wohl bestenfalls als altmodisch und wird nicht mehr viel verwendet. Für mich ist er komfortabler als Magielose oder Nichtmagische, das ist irgendwie so … sperrig für meine Zunge. Was ist nun also mit dem Schriftsystem?«

»Ich nehme an, Sie meinen die Runenschrift? Der Senat hat sie für die nichtmagische Bevölkerung verboten, ebenso wie alle anderen potenziell gefährlichen Schriftsysteme aus den Jahren vor dem Sternenfall. Dementsprechend, äh, werden sie natürlich auch nicht in den Schulen beigebracht.«

»Weil Schulen nur von Vulgax besucht werden dürfen, ich weiß schon.« Meister Marius schnaubte. »Gefährlich! Nein, geradezu schwachsinnig ist das. Ohne Magieeinwirkung sind sie nur Schriftsysteme wie alle anderen auch, gefährlich kann das höchstens dann werden, wenn jemand Wortdurchfall niederschreibt.« Er atmete tief durch und riss sich sichtlich zusammen, ehe er ruhiger fortfuhr: »Dann hast du Glück gehabt, dass ich mehr davon beherrsche, als vielleicht nötig ist.«

»Ich würde vielleicht nicht unbedingt sagen, dass es schwachsinnig ist«, sagte Aurelia. Als ihr Meister sie wieder schweigend anstarrte, räusperte sie sich und korrigierte dann: »Also, ich meine, ich kann den Gedanken dahinter verstehen. Aber es ist vielleicht nicht sehr, äh, förderlich für den Abbau von Vorbehalten.«

»Das hast du schön gesagt«, sagte Meister Marius deutlich amüsiert. »Ich würde andere Worte dafür wählen, aber lassen wir das. Dafür noch etwas anderes.« Aurelia hob fragend die Brauen. Ihr Meister legte die Fingerspitzen aneinander und lächelte säuerlich. »Johann hat mich freundlicherweise darauf hingewiesen, dass es wohl in Kürze zu einer Hausdurchsuchung kommen wird. Solltest du etwas in deinem Zimmer haben, das kompromittierend ist …«

»Ich glaube nicht«, sagte Aurelia nach kurzem Überlegen, »all meine Sachen sind noch von zu Hause, und nichts davon ist irgendwie gefährlich.«

»In Ordnung«, sagte Meister Marius nach einer kleinen Pause. »Dann ab mit uns ins Arbeitszimmer.«

Aurelia nickte leicht, dann stand sie auf, brachte den Teller zum Waschbecken und folgte ihrem Lehrmeister die Treppe hinauf. Die Tür des Arbeitszimmers mit ihrem großen, schmiedeeisernen Schlüssel lag am rechten Ende des Korridors, auf dem sich auch Aurelias Zimmer befand, und war nicht zu übersehen. Meister Marius drückte die Unterseite seines rechten Daumens auf einen eisernen Dorn im Zentrum des Schlüssels, woraufhin etwas im Inneren der Tür klickte und diese lautlos aufschwang. Aurelia erschauerte ein wenig, folgte Meister Marius jedoch ins Innere.

Das Arbeitszimmer war von einem Ordnungssystem geprägt, das sich Aurelia weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick erschloss. Auf einem wuchtigen Schreibtisch, dessen Arbeitsoberfläche mit schwarzem Leder bespannt war, stapelten sich Pergamentrollen und Notizbücher in allen Formen und Farben, mehrere Tintenfässer mit unterschiedlich gefärbter Tinte sowie diverse Federkiele, Glasfedern, Füllfederhalter und Bleistifte. Die originale, wohl dunkelblaue Tapete der Wände war hinter den fast deckenhohen, mit mehreren Reihen von Büchern gefüllten Regalen nur noch zu erahnen. Auf dem Boden unter dem Schreibtischsessel, auf dem ein weißes Sitzkissen ruhte, war ein braunes Fell ausgestreckt. Darum herum verstreut lagen noch mehr Bücher, teilweise aufgeschlagen und teilweise zugeklappt. In einer Ecke war einem Kamin Platz zugestanden worden, bei dem dringend die Asche ausgekehrt werden musste.

»Ich verbringe einiges an Zeit hier und widme mich meinen theoretischen Studien«, erklärte Meister Marius. »Mich dünkt, auch für deinen Theorieunterricht eignet es sich bestens, da wir hier direkt an der Quelle sitzen.« Er grinste. »Verstehst du? Quelle. Quellenkinder.«

Aurelia lächelte matt und widerstand der Versuchung, ihm die Schulter zu tätscheln.

»Im Übrigen muss ich dich um etwas bitten, bevor wir beginnen.« Meister Marius wandte sich zu ihr um. »In diesem Haus passieren manchmal ein paar Dinge, die viele Leute falsch deuten würden. Man muss nur mit Gustav anfangen. Um sicherzugehen, dass du meine Geheimnisse mit ins Grab nimmst, möchte ich einen Bluteid mit dir schwören.«

Aurelia spürte, wie ihre Fingerspitzen kalt wurden. »Muss das sein? Ich – mit wem sollte ich überhaupt darüber reden?«

»Oh, du redest vielleicht mit niemandem darüber«, sagte Meister Marius und löste dabei das Ritenmesser von seinem Gürtel. »Aber das heißt nicht, dass niemand mit dir redet, und du bist zu jung, um gefoltert zu werden.«

»Gefoltert?«, rief Aurelia hellauf entsetzt aus.

»Weißt du, wie man fünfhundert Jahre alt wird, Aurelia?«, fragte Meister Marius mit einem kleinen, scharfen Lächeln. »Man lässt Vorsicht walten und sichert sich für alle Fälle ab. Das ist nichts Persönliches, weißt du.« Er pikste sich dabei in jede einzelne Fingerspitze der linken Hand und wies dann auf die ihre. »Komm. Tut dir nicht weh, versprochen. Dieses Messer ist magisch.«

Widerstrebend reichte Aurelia ihm ihre linke Hand und kniff automatisch in Erwartung von Schmerz die Augen zusammen. Zu ihrer Überraschung hatte Meister Marius jedoch die Wahrheit gesagt: Die Spitze des Messers fuhr in ihre Fingerspitzen, wo winzige Blutstropfen aus kleinen Schnitten quollen, ohne den geringsten Schmerz zu verursachen. »Das ist praktisch.«

Meister Marius lachte kurz auf. »Du weißt gar nicht, wie sehr, auch wenn die Wunde danach ein wenig ziepen wird, bis sie vollständig verheilt ist.«

»Wie funktioniert das?«

»Ich kann es dir nicht sagen. Dieses Messer hat eine Fabramagica hergestellt, ich habe es lediglich käuflich erworben, als ich die Chance dazu hatte.«

Unwillkürlich fühlte Aurelia Enttäuschung in sich aufsteigen. »Schade.«

Meister Marius beäugte sie einen Moment lang. »Ich hoffe, dass du nicht von mir verlangst, allwissend zu sein, mein Kind. Allwissenheit ist uns Sterblichen nicht vergönnt.«

»Es wundert mich eher, dass Sie nicht behaupten, allwissend zu sein«, gab Aurelia zu. Sie konnte sich erinnern, dass in der Zeit, in der sie noch zur Schule gegangen war, einige der Lehrpersonen durchaus so getan hatten, als ob sie die Weisheit mit Löffeln gefressen hätten. Diese Leute hatten auch schwere Probleme damit gehabt, Fehler zuzugeben, wenn sie darauf angesprochen wurden.

Meister Marius schnaubte amüsiert. »Diese Arroganz habe ich nach dem ersten Jahrhundert abgelegt, glaub mir. Ich kann sie mir schlichtweg nicht leisten.«

Sympathisch, stellte Aurelia insgeheim fest und nickte nur zum Zeichen, dass sie ihm zustimmte.

»Nun gut, zurück zu unserem Schwur. Auf jede Frage, die ich dir stelle, antwortest du mit ›Ich schwöre‹. Ich werde bei der ersten Frage deinen Daumen an meinen drücken, bei der zweiten deinen Zeigefinger an meinen – und so weiter. Verstanden?«

Aurelia nickte und versuchte, entschlossener zu wirken, als sie sich fühlte. »Ja. Verstanden.«

»Hast du noch einen Vornamen, von dem ich wissen sollte?«

»Genovia. Ich heiße Aurelia Genovia Frank.«

Meister Marius’ Gesicht war still und ernsthafter denn je; in diesem Zustand zeichneten sich die wenigen Falten in seinem Gesicht noch mehr ab als ohnehin schon, und seine Hand war kalt, als er die ihre sachte mit der Innenfläche nach oben drehte. »Aurelia Genovia Frank, Kind der Kamrušepa«, begann er langsam und mit Bedacht, »ungelenktes Kind von Rauch und Zauber – schwörst du bei deiner Magie, die Geheimnisse von Marius Calpurnius Cinna, erwähltes Kind der Herrin, zu bewahren?«

»Ich schwöre.«

Meister Marius berührte sachte wie von ihm erklärt ihren Daumen mit dem seinen und vereinigte ihr Blut, um dann fortzufahren: »Schwörst du bei deinem Blut, seine Praktiken und Taten für niemandes Ohren, Augen und sonstige Sinne zu verraten?«

»Ich schwöre.«

Meister Marius’ Zeigefingerspitze berührte die ihre. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie sich eine der Pflanzen in ihrer Nähe langsam zu ihnen drehte. »Schwörst du bei deinem Atem, dass du die Lehren des Marius Calpurnius Cinna tief in deinem Herzen bewahrst und niemals laut gesprochen, niedergeschrieben oder gedeutet weitergibst?«

»Ich schwöre.«

Das Ganze wurde mit dem Mittelfinger wiederholt. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Die Augen ihres Meisters wirkten heller und grüner als jemals zuvor. Ein Schauer lief über ihren Rücken, was sie sich nicht erklären konnte. »Schwörst du bei deinen Knochen, die Geheimnisse der Kinder Kamrušepas nicht weiterzugeben an jene, die nicht mit ihrem Geschenk geboren wurden?«

»Ich schwöre.«

Ihre Ringfinger berührten sich, und Aurelia erschauerte diesmal merklich. Meister Marius schien es zu merken, denn er presste für einen Moment die Lippen aufeinander, ehe er fortfuhr: »Schwörst du bei deiner Seele, dich an diesen unbrechbaren Blutschwur zu binden über Tod und Traum hinaus bis zum Untergang der Zeit?«

»Ich schwöre.«

Dieses Mal presste Meister Marius erst ihre kleinen Finger zusammen, dann die Spitzen aller fünf Finger gleichzeitig. »Blut zu Blut, Rauch zu Rauch, geschützt sind wir durch Glut und Brauch.«

Als er sie losließ, drückte Aurelia unwillkürlich ihre linke Hand an sich, obwohl die winzigen Schnitte schon längst zu bluten aufgehört hatten und auch nicht mehr sichtbar waren. An ihrer Stelle, so entdeckte sie erstaunt, konnte man stattdessen winzige goldene Kreise erkennen. »Was passiert jetzt?«

»Solange du dich an deinen Schwur hältst, absolut gar nichts«, sagte Meister Marius. »Sollte man dich zum Reden bringen wollen, wirst du ganz einfach kein Wort herausbringen, wenn du es versuchst, das ist alles. Na ja, das ist alles, solange du nicht versuchst, dagegen zu arbeiten. Es gibt übrigens keinen Weg, der nicht nachhaltig schädigend für Geist und Leib wäre, um einen Bluteid herumzuarbeiten, das nur als kleine Warnung. Er hat auch andere Vorteile, etwa dass Futurix dich jetzt nicht mehr anvisieren können – Dienende der Herrin können von ihnen nicht in der Zukunft gesehen werden. Du bist mit diesem Schwur zwar keine Dienende, aber unser Blut erkennt sich nun, wie man bei uns sagen würde.«

»Futurix können nicht in Ihre Zukunft sehen?«, wiederholte Aurelia erstaunt. »Wieso nicht?«

»Weil alle Dienenden der Herrin schon einmal gestorben sind, womit sie eigentlich ein Leben leben, das es nicht mehr gibt. Sie stehen außerhalb einer Schicksalskette und sind vor allem der Schwellenwelt verpflichtet. Da du jetzt mehr oder weniger von meinem Blut bist, dehnt sich dieser Schutz auf dich aus. Ein anderer wäre, dass du nicht mehr verloren gehen kannst, zumindest nicht für mich. Sollte dir etwas passieren, dann werde ich es sofort merken.«

Aurelia nickte nach einer kurzen Pause, woraufhin Meister Marius ihr ein kleines Lächeln schenkte und sich hinter seinem Schreibtisch niederließ. Sie blickte erneut auf ihre Fingerspitzen, wo die goldenen Kreise schimmerten, wenn sie sie ins Licht drehte. »Von Ihrem Blut? Macht mich das mehr oder weniger zu Familie? Ist das wie eine Art magische Adoption?«

Meister Marius dachte einen Moment lang nach. »Was versteht man hierzulande unter Adoption?«

»Na ja … ein nicht blutsverwandtes Kind wird aufgenommen und rechtlich einer Familie zugeschrieben, mit Nachnamen und allem. Wenn es rechtlich besiegelt ist, haben adoptierte Kinder nahezu die gleichen Rechte wie blutsverwandte.«

Meister Marius nickte verstehend. »In der Tat, so ähnlich ist es. Wärst du in Mistras, würde man so erkennen, dass du zu mir gehörst.«

Aurelia biss sich auf die Lippen. »Ist das nicht etwas ziemlich … Großes? Hier ist es schon etwas recht Persönliches. Es wird nicht oft adoptiert.«

Gedankenvoll tippte ihr Meister sich an sein Kinn, dann sah er ihren Blick. Aus irgendeinem Grund wurde sein Gesicht ein wenig weicher. »Es ist auf jeden Fall nichts, das leichthin gemacht wird, mein Kind. Indem ich dich zu Blut von meinem Blut mache, übernehme ich Verantwortung für dich. In Mistras übernimmt die älteste magische Person immer die Verantwortung über alle anderen Familienmitglieder, gleichgültig ob magisch oder nichtmagisch. Stellen sie sich als verantwortungsvoll und reif genug heraus, werden bestimmte Verantwortungen später von den restlichen magischen Mitgliedern übernommen. Grüble nicht zu sehr darüber nach – aber glaube auch nicht, dass dies etwas war, das leichtsinnig geschah und keine Bedeutung hat. Ich weiß nicht, ob man es auf die gleiche kulturelle Ebene stellen kann wie Adoptionen in Radbod, aber es hat Bedeutung.«

Aurelia spürte, wie ihre Wangen warm wurden. »Ich hoffe, Sie werden das nicht bereuen.«

Meister Marius musterte sie einen langen Moment nachdenklich. Dann sagte er: »Ich denke nicht, dass dem so sein wird. Außerdem: Ich habe zugesagt, Verantwortung für dich zu übernehmen, und diese Aufgabe nehme ich ernst. Ich bin für deinen Schutz verantwortlich, ohne dabei leichtsinnig über meinen eigenen hinwegsehen zu müssen.« Er lächelte sachte. »Und ich hoffe doch, dass wir zusammenwachsen werden.«

»Das hoffe ich auch«, gab Aurelia leise zu.

»Das ist schön.« Meister Marius lächelte sie noch einmal flüchtig an. »Hast du noch andere Fragen?«

»Tausend«, gab Aurelia ohne Umschweife zu.

Meister Marius schmunzelte. »Lass uns doch mit deinem Unterricht beginnen, dann klären sich vielleicht einige davon. Als Erstes stelle ich jedoch dir eine Frage, die der Kern unserer ganzen Arbeit ist.« Er lehnte sich nach vorn und fixierte sie mit geradezu lauerndem Blick. »Was ist Magie, Aurelia?«

Aurelia runzelte die Stirn. »Ein … ein Werkzeug, würde ich sagen.«

»Ein Werkzeug«, wiederholte Meister Marius, und Aurelia bildete sich ein, einen Hauch von Überraschung in seiner Stimme hören zu können. »Keine Waffe?«

»Hmm.« Aurelia dachte darüber nach. »Ich … na ja, es … es kann unter Umständen eine Waffe sein. Ich meine, an der Front wird damit gekämpft, nicht wahr? Und kriminelle Magiebegabte kämpfen auch damit. Und ich bilde mir ein, irgendwo mal gelesen zu haben, dass es in anderen Ländern auch so was wie Bühnenkämpfe gibt?«

Meister Marius nickte. »In Mistras etwa gab es bis zur Thronbesteigung von Leonidas Dynatos magische Kämpfe auf Leben und Tod, die sich höchster Beliebtheit erfreut haben. Heutzutage sind es allerdings magische Schaukämpfe, die nur in den seltensten Fällen tödlich enden. Und durch einen weiterhin potenziell tödlichen Kampf werden natürlich die nächsten Dynatix und Parakix auserwählt.«

»Aber das ist ja nicht alles, was Magie kann«, führte Aurelia ihren Gedankengang fort, »Magie kann auch heilen. Oder – Feuer machen. Wasser. Erde.«

»Hmm, nicht ganz richtig«, warf Meister Marius ein, lehnte sich ein wenig mehr vor und faltete die Hände auf dem Schreibtisch. »Magie kann Feuer, Wasser, Luft und Erde nicht machen, zumindest, wenn wir bei der Magie von Sterblichen bleiben. Gottheiten sind wieder etwas anderes. Du und ich und alle anderen Quellenkinder, wir können Magie nur dazu verwenden, Dinge besser und anders zu manipulieren, die schon existieren.«

»Oh!« Aurelia atmete erstaunt aus. »Das wusste ich nicht. Es heißt immer –«

»Ich weiß, was es unter den Vulgax heißt«, unterbrach Meister Marius sie erneut, »nämlich, dass Magie aus dem Nichts entsteht und keine Grenzen kennt, aber dem ist nicht so. Ich kann beispielsweise nicht hier und jetzt Feuer in meiner Hand entstehen lassen. Aber ich könnte das Kaminfeuer blau färben, in andere Formen bringen oder an einen anderen Ort lenken, wenn es schon brennen würde. Und das ist ein wichtiger Punkt, der mich deiner Einschätzung zustimmen lässt: Magie ist ein Werkzeug und keine Waffe. Ihre Wirkung unterliegt der Absicht der Person, die sie nutzt. Magie ist Potenzial, und als solches verlangt sie Energie von dir.«

»Sie braucht Energie?«, wiederholte Aurelia mit gerunzelter Stirn. »Inwiefern?«

»Wenn du eine lange Strecke läufst, dann verbrauchst du viel Energie«, begann Meister Marius zu erklären. »Wenn du ein Glas putzt, dann verbrauchst du eher weniger davon. Beides macht dich in unterschiedlichem Ausmaß müde, weil du deine Lebenskraft hineinsteckst. Ein ähnliches Prinzip gilt für Magie, deswegen passt der Vergleich mit dem Defäkieren auch hier. Wenn du beim Entleeren sehr viel Druck benötigst, bist du nachher erschöpfter, als wenn es einfach herausrinnt.«

»Wie alt sind Sie noch mal, Meister?«, erkundigte Aurelia sich gespielt ernst. Ihr Meister, der sich so altmodisch gewählt ausdrückte – vermutlich, weil er eine ältere Form des Radbonischen gewöhnt war –, konnte manchmal richtig kindisch sein.

Meister Marius grinste gewinnend. »Diese Frage stellt man schönen Männern nicht. Was ich jedenfalls sagen möchte: Magie zehrt an Quellenkindern. Große magische Taten erfordern einen großen Verbrauch von Lebensenergie, deswegen arbeiten an so großen Projekten wie beispielsweise der Errichtung eines Monuments oder Ähnlichem immer mehrere Quellenkinder zusammen.«

»Was passiert, wenn man den Bogen überspannt?«

Meister Marius zuckte mit den Achseln. »Übermäßiger Magieverbrauch kann dich genauso umbringen wie übermäßige körperliche Betätigung über dein Limit hinaus.«

»Ist es … wie ein bestimmtes Kontingent an Magie, das man hat, oder kann man sich von magischer Belastung wieder erholen?«

Meister Marius strich sich über das glatt rasierte Kinn. »Teils, teils. Auf kurze Dauer gesehen erholt man sich wieder – man schläft sich aus, isst und trinkt genug und schont sich. Aber … viele Quellenkinder beginnen ab einem gewissen Alter, Dinge zu sehen oder zu hören, die nicht da sind, werden paranoid oder vergesslich. Ihr Verstand verkümmert sozusagen, wird verbraucht. Die Magie übernimmt sie und gewinnt oftmals die Oberhand. Es hilft nicht unbedingt, dass es nur vergleichsweise wenige Quellenkinder gibt und wir durch Magie länger leben als andere, das macht uns in gewisser Weise des Öfteren instabil – Hochmut, Arroganz, Größenwahn, das kann alles leicht aufkommen, wenn man Dinge zu tun vermag, die für die meisten um einen herum unmöglich sind, und wenn man noch dazu im Gegensatz zu diesen Magielosen Jahrhunderte und nicht nur Jahrzehnte leben kann. Keiner weiß, wie alt wir wirklich werden können, also, bis zu einem natürlichen Tod.«

»Ist das so selten?«

»Extrem selten«, bestätigte Meister Marius, »ich würde sogar sagen, dass es sich um Einzelfälle handelt. Die meisten von uns werden zweihundert, dreihundert Jahre alt, was natürlich mit den Augen von Vulgax gesehen immer noch beachtlich ist, aber es könnte mehr sein. Quellenkinder können durch dieselben Außeneinwirkungen sterben wie Vulgax – gewisse Krankheiten, Mord, Unfälle, was auch immer. Dazu kommt noch, dass … Nun, wenn Quellenkinder beginnen, eine Gefahr für sich und andere darzustellen, sorgen die Schattenschwestern dafür, dass sie aus dem Verkehr gezogen werden.« Er hielt inne. »Also, früher war das zumindest so. Mit dem Zweiten Sternenfall und dem Aufstieg der Neuen Gottheiten haben sich einige Dinge geändert, und ich bin nicht sicher, wie es jetzt aussieht.« Er lächelte matt und breitete die Arme aus. »Tatsächlich erblicken deine Augen eine Rarität. Ich genoss zeitlebens den Schutz der Herrin, die mich immer wieder auffing. Ohne unbescheiden klingen zu wollen: Die meisten halten die Aufmerksamkeit der Gottheiten nicht so lange.«

»Aber warum gerade Sie?«, wunderte Aurelia sich laut und fügte dann, als ihr die Unhöflichkeit ihrer Worte auffiel, hastig hinzu: »Nicht, dass ich nicht glaube, dass Sie es verdient hätten, aber …«

»Ich wünschte, ich könnte es dir sagen, aber ich weiß es nicht«, sagte Meister Marius mit einem kleinen Achselzucken. »In den gesegneten Momenten, in denen sie zu mir sprach, erklärte sie selten ihre Gründe. Eigentlich nie. Das ist den meisten Gottheiten wohl gemein.«

Meister Marius’ Leben erschien Aurelia ein wenig wie aus einem Roman, aber sie äußerte diesen Gedanken nicht. »Ich habe noch nie etwas von den Schattenschwestern gehört«, erklärte sie stattdessen, »sind sie so etwas wie Richterinnen?«

»Du hast sicher schon von ihnen gehört, nur nicht unter diesem Terminus«, widersprach Meister Marius. »Ich glaube, hierzulande erzählt man sich unter den Vulgax Geschichten von der Wilden Jagd?«

»Ah, ja«, sagte Aurelia mit einem Nicken. Natürlich sagte ihr die Wilde Jagd etwas, jenes geisterhafte Frauenvolk, das durch den Himmel ritt und den Tod für alle mit sich brachte, die nicht genügend Ehrfurcht zeigten. Sie stahlen Magie und wurden von einigen Magielosen dafür verehrt, aber Aurelia hatte die gewaltsamen Sagen um die Wilde Jagd eigentlich immer unheimlich gefunden. »Aber … ich dachte, das sind nur Geschichten, um Kindern Angst zu machen.«

»Kindern?« Meister Marius schnaubte. »Dem ist nicht so. Uns sollen sie Angst machen, aber die Vulgax fürchten alles, was sie nicht verstehen. Die Schattenschwestern sind eine jahrtausendealte Kultusgemeinde, von der niemand wirklich weiß, wie groß sie ist oder wie alt ihre Mitglieder sind. So einige Dienerinnen der Herrin gehören ihr an, da die Schattenschwestern die Balance zwischen allen Dingen auf ihre Art und Weise aufrechterhalten wollen, indem sie wie schon erklärt außer Kontrolle geratene Quellenkinder auslöschen. Sie verstehen sich als so etwas wie eine Kontrollinstanz. Hierzulande operieren sie, wenn überhaupt, nur noch verdeckt. Seit ich nach Vhindona gekommen bin, habe ich kein Wort über eine Schattenschwester gehört, und Vhindona ist die mit Abstand größte Stadt Radbods mit der größten Anzahl an magischer Bevölkerung. Wer weiß, was aus ihnen geworden ist.«

»Vielleicht finden wir das ja noch heraus«, sagte Aurelia. Trotz aller Motivation unterdrückte sie ein Gähnen, aber Meister Marius schien es dennoch zu bemerken.

Mit einem kleinen Seufzer erhob er sich aus seinem Schreibtischstuhl und trat zu einem der überfüllten Bücherregale, um die Finger suchend über eine Reihe von Buchrücken wandern zu lassen. Ein Laut des Triumphs huschte über seine Lippen. Offensichtlich hatte er gefunden, was er gesucht hatte. Das Buch, das er herauszog und Aurelia in die Hand drückte, hatte keinen Titel. Es war alt und schwer, schien aber sehr sorgsam behandelt worden zu sein, denn der rote Einband wies kaum Gebrauchsspuren oder Risse auf.

»Sei vorsichtig damit«, sagte Meister Marius. »Das gebe ich dir als Nachtlektüre mit. Es ist die Geschichte der Alten Gottheiten und ihrer Verbindung zu unserem Volk.«

»Danke«, sagte Aurelia aufrichtig und glitt mit den Fingern über den samtigen Buchdeckel. »Ich werde aufpassen.«

Meister Marius nickte und entließ sie mit einer Handbewegung.

»Ins Bett mit dir«, sagte er noch. »Ich denke, das reicht für heute, sonst brummt dir nur der Schädel. Wir machen morgen in aller Frische weiter, und du holst ein wenig Schlaf nach. In Ordnung?«

»Ja, Meister«, antwortete Aurelia und machte automatisch einen kleinen Knicks, was Meister Marius amüsiert die Lippen kräuseln ließ. »Gute Nacht.«

Nachdem Aurelia ihre Zähne geputzt hatte, in ihr Nachthemd geschlüpft war und sich unter die noch kalte Bettdecke gekuschelt hatte, zog sie im Schein der Petroleumlampe auf ihrem Nachttisch das Buch näher an sich heran. Als sie vorsichtig den Deckel hob, stieg der angenehme Duft von altem Papier in die Luft. Oder war es doch Pergament? Aurelia nahm behutsam eine der Seiten zwischen Daumen und Zeigefinger, um sie ein wenig zu reiben. Papier, stellte sie fest, doch von einer etwas anderen Beschaffenheit, als sie es gewohnt war. Dieses hier war rauer, unebener – von fast archaischer Samtigkeit. Es hatte keine Titelseite. Stattdessen begann nach einer einzigen leeren Seite schon der Text, der mit schwarzer Tinte in einer Handschrift festgehalten worden war, die aussah wie Spinnenbeine. Jeder Buchstabe war scharf und präzise wie eine Klinge. Die Kurven des großen ›S‹ wanden sich wie Schlangen auf dem Papier, ›I‹ reckten sich stolz wie in Stein gestoßene Schwerter in die Höhe, ›P‹ und ›F‹ stießen unversöhnlich in die unteren Zeilen wie Dolche. Aurelia glitt mit dem Zeigefinger sanft über die Worte und ließ ihren Atem bewundernd entweichen.

Das Buch war nicht in Radbonisch verfasst, sondern in Altlimisch. Aurelia fragte sich, ob Meister Marius wusste, dass sie als Tochter der Oberschicht in Altlimisch unterrichtet worden war, oder ob er überhaupt nicht über die Möglichkeit nachgedacht hatte, dass Aurelia es eventuell nicht verstehen konnte. Mit einem kleinen Lächeln schüttelte sie den Kopf und begann zu lesen. Altlimisch hatte ihr schon immer gelegen, und jetzt war sie durchaus dankbar darum, es halbwegs flüssig lesen zu können, auch wenn sie sich nach kurzer Zeit ein unbeschriebenes Blatt Papier holte, um mit einem Bleistift unbekannte Vokabeln darauf zu notieren.

Am Anfang, so begann das Buch, war das Nichts. Und aus dem Nichts entstand das Licht, und das Licht legte Keime ins Nichts. Die Keime formten sich und wuchsen, und die Welt wurde aus ihnen geboren. Erde und Wasser, Luft und Feuer wurden geboren, und sie formten die Bäume und Berge, das Meer und den Himmel, die Sonne und die Abgründe der Welt. Und das Licht legte Keime in die Welt. Die Keime formten sich und wuchsen, und sie formten sich nach dem Abbild des Ortes, an den das Licht sie brachte. Und sie formten die Menschen auf allen Ebenen und die Elfen des Waldes, des Eises und Feuers, und sie formten die Äolix und Gestaltwandelnden, die Gehörnten und die Tiere, und sie formten auch die Kreaturen der See. Aber das Licht sah, dass das Leben Führung brauchte, und so ließ es Sterne vom Himmel regnen, und aus den Sternen fielen die ersten Gottheiten, um das Leben zu führen. Das ist, was der Erste Sternenfall genannt wird.

Aurelia nickte sich selbst zu. Diesen Anfang kannte sie aus den Predigten, weil er für alle Gottheiten gleich war, selbst für die neuen. Sich mit zwei Fingern das linke Auge reibend, beugte sie sich wieder über den Text und las weiter:

Und das Licht legte ein Netz über alle Welten, und das Netz war Kamrušepa, und Kamrušepa war die Quelle. Kamrušepa aber sah die Welt anders als ihre Geschwister, und sie vereinigte ihr Blut mit dem ihrer Geschwister, um sie sehen zu lassen. Und Kamrušepa sagte: ›Euch gehört der Rest der Welt, aber mir gehören einige wenige, und sie werden mehr sehen als der Rest.‹ Und die Kinder von Rauch und Zauber wurden geboren und sahen anders. Berührt von der Quelle selbst sind sie in der Lage, die Gottheiten zu schauen, ohne auf der Stelle vergehen zu müssen. Berührt von der Quelle selbst sind sie gesegnet, die höchste Priesterschaft der höchsten Wesen zu verüben, bestimmt für Großes abseits der Nichtmagischen. Und die Kinder von Rauch und Zauber wandern durch die Welt für Jahrhunderte, die den Nichtmagischen für immer verwehrt bleiben werden. Und nur die Gottheiten sind ewig, doch die Kinder der Quelle sind alt, bis die Macht der Quelle ihren Tribut fordert und über den Rand ihrer sterblichen Hülle hinauswächst, und sie müssen …

Aurelia runzelte die Stirn und kaute am Ende ihres Bleistifts – eine schlechte Angewohnheit, die ihr auch die jahrelange Erziehung als Tochter der höheren Gesellschaft nicht hatte austreiben können –, während sie die Konstruktion des unendlich langen, gewundenen Satzes zu entwirren versuchte, am Ende jedoch aufgeben musste. Und gleichzeitig: Was für ein erhebendes Gefühl es war, überhaupt so weit zu kommen! Vor der Entgiftung, da war sie sich ganz sicher, hätte sie es niemals zustande gebracht, diesen Text doch im Großen und Ganzen recht flüssig zu bearbeiten. So schrieb sie fein säuberlich auf ihrem Notizzettel auf, was ihr Rätsel aufgab, um morgen Meister Marius danach befragen zu können.

Mittlerweile waren ihre Augenlider müde und schwer geworden, aber sie zwang sich dazu, mindestens noch einen Absatz zu lesen, getrieben von einer gewissen Faszination. Schon jetzt war das Buch anders als die Texte, die Aurelia von den in ihren Kreisen üblichen Kulten kannte, auch wenn in diesen ebenfalls heiß umstritten war, welches die erste Gottheit gewesen war, die der Sternenfall hervorgebracht hatte. Es ergab Sinn, dass die Magiebegabten Kamrušepa für ebendiese Gottheit hielten.

Und die Geschwister Kamrušepas befanden ihr Werk für gut und begannen, manche ihrer Kinder zu belohnen. Trenzi beschenkte die Kinder der Quelle mit seiner Wandelbarkeit. Inar beschenkte die Kinder der Quelle mit der Fähigkeit, zu Tieren zu sprechen und die Natur zu ihrem Willen zu nutzen. Telipinu erlaubte denselben, als Einzige Lebensfunken zu kreieren für einen bestimmten …Auch hier war der Text für Aurelia nicht verständlich, und sie notierte sich den Satz. Es half, den Text laut vorzulesen, und es brachte seine rhythmische Schönheit noch mehr hervor.

Janum ist es, der die Zukunftssehenden mit dem Kreislauf der Zeit vertraut macht …

 

Der sanfte Rhythmus des Textes forderte seinen Tribut. Aurelia merkte schon gar nicht mehr, wie die Zeilen vor ihren Augen verschwammen und der Notizzettel zusammen mit dem Buch aus ihrer Hand glitt. Sie schlief und träumte von den weit aufgerissenen Augen ihrer Mutter, von Blut auf sorgfältig poliertem Holzboden und von grünen Augen in der unendlichen Dunkelheit des Nichts, das von scharfen Lichtsplittern durchbohrt wurde.