Einige Tage vergingen. Johann nahm sich den wiedergekehrten Sieur Callento vor der versammelten Belegschaft zur Brust und stellte sicher, dass weder er noch irgendjemand anderes in seinem Einflussbereich so schnell wieder auf die Idee kommen würde, die eigene Position zu missbrauchen.
Viele Stunden wurden damit gefüllt, dass Johann aufmerksam die Anträge studierte, die von Mitgliedern des Senats gestellt wurden und von dem Rest diskutiert und bewilligt werden mussten. Er war dabei so gewissenhaft, wie es die Sache verlangte, und sah alles durch, auch wenn ihm schon sehr rasch klar wurde, auf welche Papiere Hohenlohe wohl angespielt hatte. Senatorin Leitgeb hatte einen Antrag auf die Abänderung des Frontdienstes für Magiebegabte gestellt, was überraschend war, da die Senatorin weder selbst magiebegabt war noch bisher stark auf der Seite der Magiebegabten gestanden hatte. Zugegeben, sie war immer sehr neutral in diesen Fragen gewesen und hatte nach einem gesunden Mittelweg gesucht, aber dieser Antrag war in gewissen Punkten provokant genug formuliert, dass er Reaktionen von anderen Senatsmitgliedern geradezu herausforderte. Unter anderem forderte er eine Abschaffung des Frontdienstzwangs, der durch einen auf Freiwilligkeit basierenden Dienst ersetzt werden konnte. Eine solche freiwillige Verpflichtung konnte wohl nur durch entsprechende Vergütung gewonnen werden, wenn überhaupt, was die ganze Sache so oder so mehr als fragwürdig machte. Johann kam nicht umhin, sich zu fragen, ob Senatorin Lave’el hier die Finger im Spiel hatte. Sie kannte das Spiel gut genug, um zu wissen, dass derartige Anträge von Nichtmagischen momentan mehr Einfluss hatten, als wenn sie von ihr kamen. Und Deals unter der Hand waren in der Politik immerhin keine Seltenheit. Leider waren sie auch nicht besonders einfach zu beweisen, wenn sich die daran Beteiligten als halbwegs umsichtig erwiesen, was in diesem Fall durchaus zutraf.
Johann sah sich erneut in einer Sackgasse.
Aber er konnte und wollte sich keine Sackgassen mehr leisten. Und wenn es auf dem Weg der Bürokratie nicht mehr weiterging, dann musste er eben andere Maßnahmen ergreifen, auch wenn diese ihm eigentlich widerstrebten. Dennoch, was blieb ihm mittlerweile anderes übrig? Auch seine Position war nicht für alle Zeiten sicher, und wenn er seinen Beruf verlor, was blieb dann noch übrig von seinem Leben? Er hatte hart dafür gekämpft, dort zu sein, wo er nun war. Sicher, es war nicht ideal, aber es war immerhin etwas, und er würde diesen kümmerlichen Abklatsch von dem, was hätte sein können, verteidigen.
Also gab er seinen Leuten den Befehl, auszurücken und die magische Gemeinde aufzuscheuchen.
Ihm war nicht wohl bei der Sache. Es war ein schmutziger Trick, Leute mit Verhören und scheinbar willkürlichen Durchsuchungen ihrer Häuser und Geschäfte unter Druck zu setzen, bis sie die Namen unruhestiftender Personen herausrückten. Aber die Aufklärung dieses Falls ließ schon so lange auf sich warten, dass er mittlerweile beinahe alle anderen Mittel ausgeschöpft hatte. Und vielleicht fand sich ohnehin niemand, denn die magische Gemeinde tendierte an sich dazu, eng zusammenzustehen.
Dennoch war Johann nicht gerne ein Teil des Systems, das er eigentlich verteufelte.
In der folgenden Woche filzten Johanns Leute die magische Gemeinde, so gründlich sie konnten. Die Ergebnisse fielen nicht ansatzweise so ergiebig aus, wie er gehofft hatte, was die Obrigkeit dazu bewegte, ihm sachte auf die Finger zu klopfen, damit er nicht weiter wertvolle Abteilungsressourcen verschwendete. Johann konnte es besagter Obrigkeit nicht einmal verübeln. Was die Aktion brachte, war vielleicht eine Handvoll Namen von Verdächtigen, die besonders laut ihren Unmut über die gegenwärtigen Gesetze für Magiebegabte geäußert hatten. Wenn er irgendetwas daraus gewinnen und nicht komplett ergebnislos dastehen wollte, benötigte Johann eine zweite Meinung, und es gab nur eine magische Person, der er genug vertraute, um sie danach zu befragen.
Es war schon spät, als Johann sich schließlich mit unter den Arm geklemmter Ledertasche auf den Weg zu Marius und seiner Schülerin machen konnte. In den frühen Stunden des Tages war Schnee gefallen, aber davon zurückgeblieben war nur eine dünne Schicht, die sich wie Zuckerguss über alles gelegt hatte und unter Johanns Stiefeln knirschte, als er durch Marius’ Garten hinkte und an der Haustür klopfte.
Etwas krachte im Inneren des Hauses. Nach einigen Minuten, in denen Johann geduldig gewartet und die Kälte in seinen Fingern ignoriert hatte, wurde die Tür geöffnet, und Marius blickte ihm entgegen. Der Kajalstrich über seinem linken Auge war ein wenig verschmiert, und Johann fragte sich, ob er ihn darauf hinweisen sollte.
»Setz dich in die Küche«, wies Marius ihn ohne Begrüßung an. »Ich bin gerade dabei, Aurelia zu unterrichten. Du musst dich ein wenig gedulden, wenn du schon ungebeten hereinplatzt.«
Johann hob eine Augenbraue, nickte jedoch und trat ein. Marius öffnete ihm die Küchentür, dann zwinkerte er ihm zu und rauschte mit wehendem Kaftan die Treppe hinauf. Einen Moment lang lauschte er seinen Schritten über das knarzende Parkett; eine Tür wurde geöffnet, Marius sagte etwas, dann schloss die Tür sich wieder, und Stille trat ein. Johann atmete aus und setzte sich auf die Küchenbank, wo er sich die Handschuhe von den Fingern zupfte und den Gehstock neben sich lehnte, um die Mappe mit den Fotografien der Verdächtigen vor sich hinzulegen. Magiebegabte, zumindest die älteren, hatten eine gewisse Furcht vor Fotografien und ließen sie nur ungern zu, weil sie der Ansicht waren, dass ein Teil ihrer Seele darin gebannt würde. Es war schwierig gewesen, von allen eine Fotografie zu erhalten, aber Johann war hartnäckig geblieben. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Gustav von einem der Regale herabsprang, um auf die Bank neben ihn zu klettern und sich dort einzurollen. Johann lächelte und kraulte seinen knochigen Kopf, dann wandte er sich einem Bericht zu, der noch einer Evaluation bedurfte.
Es dauerte eine Weile, dann hörte er die Tür wieder aufgehen. Die alten Treppen knarrten unter zwei Paar Füßen, dann stieß Marius die Tür zur Küche auf. Fräulein Frank kam hinter ihm herein, lächelnd und mit geröteten Wangen. Sie sah Johann, und ihr Gesicht wurde sofort wachsamer; dennoch nickte sie ihm zu und knickste leicht. Er bemerkte, dass sie an diesem Tag kein Korsett trug, sondern nur einen knöchellangen Rock und eine Bluse, die lose mit einem Gürtel umschlossen wurde.
Johann erhob sich halb, um eine leichte Verbeugung anzudeuten, dann machte er Platz und schob dafür den Affen ein wenig zur Seite, damit sich Marius und Fräulein Frank ebenfalls auf der Bank niederlassen konnten. Fräulein Frank folgte der subtilen Aufforderung und setzte sich ihm gegenüber, wo sie ihre Bluse ein wenig zurechtzupfte. Marius hingegen wanderte zur Küchentheke und begann, Kaffee zu mahlen.
»Sie sehen gut aus, Fräulein Frank«, sagte er, und es war keine reine Floskel der Höflichkeit. Die junge Frau sah tatsächlich munterer und gesünder aus als zu Beginn. Ganz eindeutig war ihre Aufmerksamkeit sehr viel schärfer als die Male, bei denen er sie zuvor gesehen hatte. Sie war präsenter, wacher, eindeutig mehr im Moment.
»Und sieh, was sie schon kann«, sagte Marius, der sich alle Mühe gab, seinen Stolz zu verbergen und glorreich daran scheiterte. Er winkte Fräulein Frank zu. »Zeig ihm, was du gelernt hast, Kind.«
»Oh! In Ordnung, Moment …« Marius’ Schülerin blickte sich hektisch um, dann fand sie eine kleine Schüssel, mit der sie zum Waschbecken eilte, um sie aufzufüllen. Vorsichtig setzte sie die Schüssel am Tisch ab, dann konzentrierte sie sich so sehr, dass ihre Wangen sich röteten.
Es war immer fantastisch, aktivem Wirken von Magie beizuwohnen. Johann sah zu, wie die Wasseroberfläche wie unter einem Kraftansturm zitterte, ehe sie von einer Sekunde auf die andere zu Eis gefror. Zwei Sekunden später bildeten sich Risse im Eis, das knackend auseinanderbrach und Fräulein Frank damit einen sehr undamenhaften Fluch entlockte, der Marius hellauf begeistert dreinblicken ließ. Es war nicht auszuschließen, dass die junge Frau den Ausdruck von ihrem Lehrmeister aufgeschnappt hatte. Johann verkniff sich hinter vorgehaltener Hand ein Schmunzeln.
»Es gibt noch Verbesserungspotenzial«, sagte Fräulein Frank und kniff kritisch die Augen zusammen, als sie das Eis begutachtete. »Ich verwende noch immer zu viel Kraft für manche Sachen.«
»Das geht schon in die richtige Richtung«, versicherte Marius ihr. Ehe Johann sich dazu äußern konnte – auch wenn er ohnehin nicht gewusst hätte, wie er sich sinnvoll in die Konversation über Magie einbringen sollte –, fuhr Marius schon fort: »Ich vermute aber, es ist nicht dein Interesse an Aurelias Fortschritten und auch nicht die Sehnsucht, die dich hierhertreibt?«
Johann war zu alt, um noch schamvoll zu erröten, also ärgerte er sich lieber im Stillen und holte sein silbernes Etui hervor, um ihm eine Zigarette zu entnehmen.
»Du vermutest richtig.« An Fräulein Frank gewandt fragte er höflich: »Stört es Sie?«
Fräulein Frank schüttelte den Kopf und erhob sich, um einen Aschenbecher für ihn zu holen, den sie vor ihm abstellte. »Gibt es Neuigkeiten bezüglich des Falls?«, fragte sie dabei.
Johann zog mit leisem Dank den Aschenbecher heran und nickte, ehe er sich die Zigarette anzündete, einen tiefen Zug davon nahm und dann die Hand auf die mitgebrachte Mappe legte. »Ich weiß nicht, wie weit Sie bereits informiert sind, aber gegenwärtig gehen wir … gewissen Vermutungen über politisch aktive Elemente nach, die vielleicht ihre Finger im Spiel haben könnten.«
»Politisch aktive Elemente«, wiederholte Marius. Etwas in seinem Gesicht zuckte, aber er glättete seine Züge rasch wieder zu einem Ausdruck passiven Interesses, als Johann ihn fragend anblickte.
»Es ist der Ermittlungsweg, für den ich mich entschieden habe, nachdem du mir mit Senator Hohenlohe geholfen hast«, gab Johann zu und holte die Fotografien heraus. »Ich möchte dich bitten, einen Blick auf diese Fotografien zu werfen. Ich hätte gern deine Meinung dazu.«
Marius sah die Fotografien nicht an, sondern behielt den Blick auf Johann gerichtet. »Meine Meinung? Wozu genau?«
»Nun, ob diese Individuen gefährlich sind und genügend radikalisiert, um Veränderung mit Gewalt herbeizuführen.«
Ein feines Lächeln umspielte Marius’ Mundwinkel, das Johann nicht unbedingt gefiel. »Gefährlich sind wir alle. Aber gut, ich sehe es mir an, sobald der Kaffee fertig ist.«
»Fräulein Frank darf natürlich ebenfalls gern behilflich sein«, fügte er rasch hinzu. »Vielleicht möchten Sie sogar beginnen?«
Fräulein Frank warf ihm ein höfliches Lächeln zu, dann vertiefte sie sich in die Betrachtung der ersten Fotografie. Sie versuchte sich immer an eine gewisse Grundhöflichkeit zu halten, stellte Johann insgeheim fest, ganz anders als ihr Lehrmeister, der selten ein Blatt vor den Mund nahm und die soziale Etikette in Vhindona nicht immer ganz ernst nahm.
Nun schüttelte Fräulein Frank den Kopf und legte die Fotografie beiseite, um sich der nächsten zuzuwenden.
Marius kam heran und stellte eine Tasse vor ihm ab. »Die übliche Mischung«, meinte er, dann ließ er sich neben Johann nieder – ohne ihn zu berühren, aber nahe genug, dass Johann meinte, ihn dennoch spüren zu können. Sein Handrücken kribbelte; er legte die Zigarette im Aschenbecher ab. Dann umfasste er die Tasse dort, wo gerade noch Marius’ Finger sie gehalten hatten, und führte sie an die Lippen. Als er aufblickte, sah er, dass Marius’ leuchtende Augen auf ihm ruhten. Er wandte auch dann nicht den Blick ab, als er Johanns Aufmerksamkeit bemerkte. Etwas zog in Johanns Bauchgegend, ohne dass er spezifizieren wollte, was es war. Er senkte die Augen und nahm noch einen Schluck, fühlte überdeutlich die Wärme, die seine Kehle hinabrann.
Fräulein Frank schüttelte den Kopf und legte die Fotografie beiseite, um sich der nächsten zuzuwenden. Marius griff danach, studierte sie eine Sekunde und legte sie dann achtlos beiseite.
»Unnötig, die weiterzuverfolgen«, meinte er mit einem Nicken auf das Sepiagesicht einer Magiebegabten, die sich auf elementare Magie spezialisiert hatte. »Sie schreit laut, aber sie würde sich niemals an einen Mord heranwagen.«
»In Ordnung.« Johann nahm die Fotografie wieder an sich und fühlte sich ermüdet. Er erinnerte sich nur noch undeutlich an die Zeit, in der er genauso alt wie Fräulein Frank gewesen war. Damals hatte er die Hoffnung, doch noch magisch zu sein, endgültig begraben, denn es gab zwar immer wieder Spätzünder, wenn auch selten. War er verliebt gewesen? Er wusste es nicht mehr. Später an der Militärakademie, ja, daran konnte er sich noch mehr als deutlich erinnern. Dort hatte er auch in Liebesdingen seine ersten Erfahrungen gemacht, aber davor hatte er seine Zeit in der Schule einfach abgesessen, immer mit durchschnittlichen oder guten Noten. Jemand wie Marius war ihm in diesen abgeschirmten, nichtmagischen Kreisen nie untergekommen. Seine Gedanken flatterten um ihre erste Begegnung, als er frische zwanzig Jahre alt gewesen war, jung genug, um tatsächlich noch unter Marius’ Blick und Worten zu erröten.
Fräulein Frank schüttelte den Kopf und legte die Fotografie beiseite, um sich der nächsten zuzuwenden. Auch auf diese warf Marius einen Blick, schnaubte und schien sie nicht einmal eines Kommentars wert zu befinden.
»Ich bin übrigens wirklich sehr zufrieden mit ihren Fortschritten«, sagte er schließlich und nickte zu Fräulein Frank, die flüchtig aufblickte und sich dann erneut auf die Fotografie besann. »Wir haben die Explosionen so gut wie unter Kontrolle, und sie meistert die Grundlagen bisher recht gut, wie du gesehen hast. Das Kind ist jedenfalls keine wandelnde Katastrophe mehr.«
»Danke für Ihre ermutigenden Worte, Meister«, murmelte Fräulein Frank trocken und legte auch die vierte Fotografie beiseite.
Dann fiel ihr Blick auf die fünfte und letzte Fotografie, und sie gab einen Laut des Erstaunens von sich, der Marius von der Fotografie aufsehen ließ, die er gelangweilt studiert hatte.
»Was soll das?«, verlangte sie empört zu wissen. Es war ihr anzusehen, dass sie nur mühsam nicht unhöflich wurde. »Wieso ist hier ein Bild von Gale dabei?«
»Sie kennen sich gut?«
»Wir wohnen nebeneinander und verbringen recht viel Zeit miteinander, weshalb es mich wirklich interessieren würde, wieso Gale unter Mordverdacht steht«, sagte Fräulein Frank mit gehobenen Augenbrauen.
»Wir können noch niemanden ausschließen, deswegen bin ich immerhin hier«, sagte Johann möglichst ruhig und neutral. »Gale ist schon mehrfach aufgefallen. Erstens ist sie ein oder zwei Mal nur knapp der Verhaftung aufgrund von Unruhestiftung entgangen, zweitens macht sie keinen Hehl daraus, dass sie eine stärkere magische Lobby in der Stadt befürworten würde –«
»Die würden wir alle befürworten«, murmelte Marius.
»– drittens«, sagte Johann, der beschloss, den Einwurf einfach zu ignorieren, »ist sie nicht einmal richtig registriert, und viertens ist sie ein bekanntes Mitglied der radikaleren Gruppen in der Stadt.«
Fräulein Frank schüttelte den Kopf. »Gale ist sehr … intensiv in gewissen Ansichten, ja, aber deswegen doch nicht gleich kriminell! Noch ist es kein Verbrechen hierzulande, frei die eigene Meinung zu äußern, und das ist alles, was Gale getan hat.«
Johann zog eine Augenbraue in die Höhe. »Dann erzählt Ihnen Ihre Bekanntschaft nicht alles. Gale stand schon mehrmals unter dem Verdacht des Vandalismus in nichtmagischen Bezirken.«
Fräulein Franks Augen blitzten, und sie erhob sich halb von ihrem Sitz, eine unbewusste Geste, die ihr selbst gar nicht aufzufallen schien. »Vandalismus, besonders unbestätigter Vandalismus, ist aber nicht das Gleiche wie Mord, Herr Oberspäher.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Gale hatte recht. In dieser Stadt ist jeder, der eine lautere Stimme besitzt, automatisch der Feind. Dabei wollen wir alle nur leben. Wieso ist das ein Verbrechen?«
Johann öffnete den Mund zu einer Antwort, aber sein Kopf war wie leer gefegt. Was sollte er ihm sagen, diesem jungen Menschen, der schon einiges erlebt hatte und dem noch einiges bevorstand? Er atmete tief durch.
»Das Leben ist nicht gerecht, und ich kann Ihren Unmut verstehen«, sagte er dann. »Aber jeder von uns ist gezwungen, Prioritäten zu setzen und Kompromisse zu machen. Und meine Priorität ist es gerade, die Person, die hinter diesen Serienmorden steckt, zu finden und Leben zu retten.«
»Auf Kosten anderer Leben?«, fragte Fräulein Frank harsch zurück. Sie schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sind Sie dann so viel besser als diese mordende Person?«
»Es besteht doch wohl ein Unterschied zwischen dem Tod und einem Gefängnisaufenthalt –«
»Sprach der Mann in Freiheit«, fiel ihm Fräulein Frank kalt ins Wort. »Nur, dass wir uns hier richtig verstehen: Ich teile Gales harte Ansicht nicht, dass der Tod besser ist als Freiheitsentzug, aber ich weiß, dass auch ein goldener Käfig jemandem das Rückgrat brechen kann.«
Johann lachte hohl. »Ich verstehe, dass Sie schlechte Erfahrungen gemacht haben, aber Sie wissen noch nicht das Geringste davon, dass es auch für die persönliche Freiheit Grenzen geben muss – nämlich dann, wenn sie die Freiheit eines anderen massiv beschneidet. Und wenn man jemanden davon durch das Gefängnis abhalten kann, dann, so denke ich, ist das immer noch milder, als Gleiches mit Gleichem zu vergelten.«
»Genug«, sagte Marius in einem gebieterischen Tonfall, den er selten nutzte und der sie beide verstummen ließ, ohne das Feuer aus dem Blick seiner Schülerin zu nehmen. Wann war sie so wütend geworden? Oder war sie es immer schon gewesen, und die Angst hatte es nur überlagert? »Ich bin dieser Diskussion überdrüssig. Und auch ich bezweifle, dass Gale etwas mit diesen Vorfällen zu tun hat. Das Kind ist zwar schon lange genug in der Stadt, dass es zeitlich möglich wäre, und es ist heißblütig, aber diese Morde sprechen nicht von Heißblütigkeit, sondern von kalter Kalkulation, und diese besitzt Gale sicher nicht.« Etwas flackerte in seinen Augen, dann sammelte er die Fotografien zusammen und reichte sie Johann. »Ich glaube nicht, dass es eine von diesen Personen war.«
»Danke für deine Hilfe«, erwiderte Johann, steif vor zurückgehaltenem Ärger, aber er nickte auch Fräulein Frank zu. »Mein Dank auch an Sie, Fräulein Frank.«
Sie nickte nur, dann sah sie Marius an. »Ist es in Ordnung, wenn ich mich zurückziehe?«
Marius machte nur eine abwinkende Geste des Einverständnisses, woraufhin Fräulein Frank vor Johann knickste und dann ohne ein Wort aus der Küche rauschte.
Nachdenklich sah Johann ihr hinterher, dann wandte er Marius den Kopf zu und sprach mit gedämpfter Stimme: »Wir würden uns alle leichter tun, wenn du einfach ihre Erinnerungen untersuchen würdest. Vielleicht hat sie jemanden gesehen in der Mordnacht, und wir könnten –«
»Einfach?« Marius schnaubte und machte sich nicht die Mühe, seine Stimme zu senken. »Oh, ja, ich bin mir sicher, dass es aus der Sicht eines Vulgarus so simpel wirkt. Ich streiche dem Kind einfach über die Augen, gebe mich einer kleinen Ruhepause hin, und schon ist die Sache erledigt, wirklich ganz einfach!« Er schnaubte erneut. Als er fortfuhr, klang seine Stimme alt und bitter. »Ich mache dir keinen Vorwurf, dass du die Bedeutung dessen, worum du mich damit bittest, nicht verstehst. Du kannst es nicht verstehen. Ich weiß, dass du dir eine simple Lösung erträumt hast, als du mir Aurelia zugespielt hast, aber ich weigere mich. Ganz rundheraus weigere ich mich. Du hast mich gegen meinen ausdrücklichen Willen für sie verantwortlich gemacht, und das hast du jetzt davon. Ich habe dir aus Sympathie schon genug dabei geholfen, einen Verantwortlichen unter meinesgleichen zu finden und zu verurteilen. Solange es noch andere Möglichkeiten gibt, werde ich ihre geistige Gesundheit nicht so sehr in Gefahr bringen. Diese Stadt hat schon genug ihrer magischen Kinder auf dem Gewissen, ich will nichts damit zu tun haben.«
Johann fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. »Aber du wusstest von Anfang an, dass diese Fähigkeit, die du hast, einer der Gründe ist, warum ich sie zu dir gegeben habe.«
»Ja, ich wusste es«, erwiderte Marius ruhig. Jedes seiner Worte fühlte sich wie eine Ohrfeige an. »Dennoch hatte ich nie die Absicht, deinem Wunsch in dieser Hinsicht nachzukommen. Der einzige Grund, warum ich dir überhaupt zur Hand gehe, ist, dass ich dich und dein Anliegen schätze. Damit aber verlangst du zu viel von mir. Bitte mich nicht noch einmal darum.«
Ein ungutes Gefühl in Johanns Brust drohte ihm die Luft abzuschnüren, aber dennoch schaffte er es nach einem Moment, zu nicken.
»Oh, keine Sorge«, brachte er heraus und erhob sich. »Ich werde dich nicht weiter belästigen. Entschuldige, falls es dir unangenehm war, dass ich versuche, noch mehr Leute davor zu bewahren, dass ihnen die Herzen herausgerissen werden und ihr Blut am Erdboden verteilt wird.«
»Du bist ungerecht wie ein trotziges Kind, dem man beim fünften Mal die Hand aus dem Keksglas zieht«, sagte Marius barsch. »Es hätte dir bewusst sein müssen, dass auch ich meine Grenzen habe. Auch dir gegenüber.«
»Oh, glaub mir«, erwiderte Johann rau, »das werde ich in Zukunft nicht mehr vergessen. Schönen Tag noch.«
Er versuchte, trotz des beginnenden Pochens in seinem Stumpf so würdevoll wie möglich das Haus zu verlassen. Er sah nicht noch einmal zu Marius, der seinerseits kein Wort mehr sagte.
Nun, immerhin bekam Johann ein bisher unausgesprochenes Gefühl davon, woran er eigentlich war, nun sehr klar bestätigt.
Der Gedanke brannte bitter in seiner Brust. Man hatte ihn mehr als deutlich auf seinen Platz verwiesen, und es tat weh. Vielleicht tat es doppelt weh, weil es Marius gewesen war, von dem er eine solche Abfuhr nicht erwartet hatte. Vielleicht tat es auch deshalb weh, weil Marius durchaus in einem Punkt recht hatte: Johann wusste tatsächlich nicht, was genau er damit von Marius verlangte. Derartige Magie hatte es seines Wissens nach schon lange nicht mehr in Vhindona gegeben, und er hatte überhaupt nur erfahren, dass dergleichen möglich war, weil es Marius einmal herausgerutscht war und er es daraufhin unwillig erläutert hatte.
Verdammter Stolz, der ihn nicht nüchtern darauf reagieren ließ. Aber was konnte er tun? Er war – wie man ihn nicht vergessen ließ – eben auch nur ein Mensch.
Wenigstens konnte er sich in den Fall vertiefen, bis er sich wieder beruhigt hatte. Dann wiederum half es nicht, dass die positiven Ereignisse auch weiterhin auszubleiben schienen, denn bei aller Infiltration der magischen Gemeinde ergab sich auch in den nächsten Tagen kein brauchbarer Hinweis, sodass Johann die Aktion abbrechen ließ. Er widerstand dem Drang, den unschuldigen Sieur Parcis anzubrüllen, als dieser ihm den Endbericht überbrachte, sondern riss sich am Riemen und dachte dann einen Moment lang mit gegeneinandergepressten Fingerspitzen über seine nächsten Schritte nach.
Es half nichts. Er hasste es, aber er musste sie um Hilfe bitten, auch wenn es ein letzter Strohhalm war, an den er sich zu klammern versuchte.
»Lassen Sie mir den Fiaker herrichten, bitte.«
Parcis nickte und verneigte sich, ehe er den Raum verließ. Es dauerte nicht lange, bis er Johanns Befehl ausgeführt hatte – womit dieser sich bald wieder im Fiaker befand und sein Bein massierte, durch das ein stumpfer Schmerz schoss. Dieser Tage schien der Schmerz ihn nicht verlassen zu wollen, egal was er tat. Vielleicht war ein Urlaub angebracht, irgendwo, wo es schön warm war. Rhy vielleicht, oder Irhi, irgendetwas an der Küste, wo er auf das Meer schauen konnte. Er hatte gehört, dass Salzluft bei diversen seelischen und körperlichen Beschwerden lindernd wirkte.
Zuerst jedoch hatte er eine unangenehme Aufgabe zu erledigen.
Doris hielt den Fiaker vor einem Haus mit gepflegten Beeten und einem weiß gestrichenen Zaun. Über die rissige Fassade des zweistöckigen Gebäudes zogen sich langsam, aber durchaus geschmeidig in regelmäßigen Abständen zwei Drachen, deren Farben schon beinahe verblasst waren. Einen Moment lang sah Johann ihnen zu, wie sie sich umeinanderwanden, an einer Seitenwand verschwanden und dann bei einem Fenster wiederauftauchten. Das steinerne Gesicht über der Haustür blinzelte ihm aus schwarzen Obsidianaugen zu, ohne zu lächeln. Man konnte sehen, dass die Besitzerin sich bemühte, Magie in die Wände zu versenken, um die magische Architektur weiter am Leben zu erhalten. Aus diesem Grund war Meisterin Lave’els Domizil eines der magoarchitektonisch interessantesten Häuser der Stadt.
Johann besann sich und wollte die Klingel drücken, als unvermittelt die Haustür aufschwang und Aywyn heraustrat. Er hatte mit Meisterin Lave’els Schülerin nie besonders viel zu tun gehabt, wusste aus ihren im Magiestrat hinterlegten Daten jedoch immerhin, dass sie mütterlicherseits eine entfernte Verwandte von Meisterin Lave’el war, die man offensichtlich aus dem Norden zu ihr gesandt hatte. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Johann mit ihr zu tun gehabt hatte, hatte sie auf ihn wie eine ruhige, heitere junge Frau gewirkt, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Es war schwer vorstellbar, dass ihre telepathischen und hellseherischen Kräfte laut Lave’els eigener Aussage die ihren bereits jetzt fast schon übertrafen.
Jetzt allerdings war ihr Gesicht kummervoll, und sie lächelte nicht. Stattdessen sah sie ihn mit einem intensiven Blick an, und er wusste, dass ihr klar war, warum er hier war. Sie atmete lautlos aus, dann knickste sie und ließ ihn herein.
Das Innere des Hauses war licht und sauber. Wie Marius verzichtete auch Meisterin Lave’el auf elektrisches Licht und hatte die Räume mit magischen Lichtquellen und Kerzen erhellt. Seine Schritte wurden von weichen, dicken Teppichen geschluckt, die von guter Qualität waren, aber schon reich an Jahren zu sein schienen. Johann hängte seinen Mantel an einen der Haken in der Diele, dann blickte er auf, als Meisterin Lave’el aus einer der Türen trat und lächelnd auf ihn zukam.
»Da sind Sie ja endlich«, sagte sie freundlich und wies auf das Salonzimmer, aus dem sie eben gekommen war. »Bitte, treten Sie ein.« Sie berührte Aywyns Schulter, als diese an ihr vorbeigleiten wollte. »Liebes, würdest du uns einen Krug Wasser bringen?«
Aywyn nickte und verschwand hinter einer anderen Tür, von der Johann annahm, dass sie in die Küche führte – er selbst war bei den beiden einzigen Malen, die er Meisterin Lave’el notgedrungen einen Besuch abgestattet hatte, nur in dem Salon gewesen, in den sie ihn auch jetzt wies. Als er eintrat, fiel sein Blick sogleich auf den schwarzen, runden Tisch in der Mitte des Raumes, der von einem Tuch aus spinnwebenfeiner, weißer Spitze bedeckt wurde. Eine glatt polierte Kugel stand darauf, in der sich nebelhafte Schlieren bewegten. Daneben lagen ein Stapel goldener und dunkelblauer Karten mit leichten Abnutzungserscheinungen an den Rändern sowie ein Stadtplan, auf dem mehrere ungeschliffene Edelsteine verschiedener Sorten lagen, daneben ein metallenes Pendel. Irgendwann hatte Meisterin Lave’el einmal beiläufig erwähnt, dass die Edelsteine dort auf der Karte verteilt waren, wo magische Energieknoten unter der Stadt lagen, oder irgendetwas in der Richtung. Johann hatte damals nicht nachgefragt, und nun hütete er sich davor, den Gegenständen zu nahe zu kommen, also setzte er sich möglichst weit weg davon.
»Da Sie meinen Besuch ja offensichtlich vorhergesehen haben, wissen Sie wohl auch, worum ich Sie bitten möchte«, sagte er.
Meisterin Lave’el summte und ließ sich auf ihren Stammplatz sinken.
»Ja, ich weiß es gut«, murmelte sie. Ihr Blick glitt zu der Kugel und verweilte einen Augenblick gedankenverloren darauf, dann schien sie sich einen Ruck zu geben. »Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Wäre es mir möglich, auf gut Glück jemanden auszupendeln, dann hätte ich es schon längst getan. Und momentan sind alle Stränge der Zukunft offen – es ist noch nicht vorherzusehen, wie diese Sache enden wird.«
»Sie lügen«, sagte Johann leise.
Meisterin Lave’el musterte ihn und schenkte ihm dann eines ihrer rasiermesserscharfen Lächeln. »Und wenn es so wäre, was wollen Sie dagegen tun? Die Kraft des Drachen, der Sie in Ihren Jugendjahren begleitete, hat Sie schon längst verlassen. Ohne ihn sind Sie nichts, nur ein Mann auf der Suche nach einer Wahrheit, die Sie gar nicht finden wollen.« Sie lehnte sich ein wenig zurück. »Wissen Sie, Sie sind einer der wenigen Magielosen, die noch ein Gefühl dafür haben, wie wundervoll Magie ist – wie bezaubernd und fantastisch und wie bereichernd für das Leben aller. Ich kann Ihnen nicht verübeln, dass Sie sich danach sehnen, auch wenn es ein hartes Leben in dieser Stadt garantiert. Aber manche Dinge liegen nicht in unserer Macht, genauso wie man manche schlafenden Drachen nicht wecken sollte.«
»Sie wissen nichts von mir«, sagte Johann ruhig, »und es interessiert mich nicht, ob Sie mich gut leiden können oder nicht. Alles, was für mich von Bedeutung ist, ist die Erkenntnis, dass Sie mir nicht helfen wollen – und vermutlich nie helfen wollten. Nun, jetzt weiß ich, woran ich bin, und auch das ist etwas wert. Einen guten Abend noch.«
»Passen Sie auf sich auf, Oberspäher«, rief Meisterin Lave’el ihm noch mit samtiger Stimme hinterher, »und überlegen Sie sich, was Ihnen die Aufdeckung aller Dinge überhaupt wert ist. Denn das Leben ist für manche so unendlich kurz.«
Er erwiderte nichts. Stattdessen humpelte er mit einem Zwischenstopp bei seinem Mantel zurück zur Haustür und riss sie auf, nur um zu pausieren, als eine kalte Hand sich schraubstockartig um sein Handgelenk schloss. Als er einen Blick zur Seite warf, traf er den Aywyns, deren rote Augen ihn fixierten. Sie hielt einen Zettel in ihrer freien Hand, den sie hochhielt, bis er ihn lesen konnte.
Die Knochen der Stadt hüten alte Geheimnisse, und nichts ist, wie es scheint. Graben Sie nicht tiefer. Es wird nicht nur Sie ins Unglück stürzen. Manche Dinge müssen geschehen, auch wenn sie schrecklich sind.
Johann blickte in ihr Gesicht. »Danke für die Warnung«, sagte er leise, »aber leider kann ich ihr nicht folgen.«
Aywyn nickte, aber ihr Gesichtsausdruck war weiterhin tief bekümmert. Sie ließ ihn los und warf ihm noch einen letzten Blick zu. Dann schloss sie die Tür hinter ihm. Er atmete aus und stapfte durch den nunmehr wieder fallenden Schnee zurück zum Fiaker, der ihn durch die spärlich von Straßenlaternen erhellte Winternacht nach Hause brachte.
Beim Ausstieg schmerzte sein Bein, wo es in die Prothese überging, aber für den Moment bemerkte er es kaum. Das Gespräch mit Meisterin Lave’el, die Worte Fräulein Franks nach dem Zeigen der Fotografien und schließlich Marius’ Abweisung rollten in seinem Kopf hin und her wie schwere Steine, bis er schließlich zu einem Entschluss kam. Es war kein Entschluss, den er in jungen Jahren gefasst hätte, als die Magie ihn noch begleitet und er viele Dinge über die Mechaniken der Welt gelernt hatte. Aber die Jahrzehnte, die nach seinem Sturz von Janixh’tijas Rücken gekommen waren, hatten ihm andere Mechaniken beigebracht, und die Welt war kein guter Ort. Sie war grausam, und sie war kalt. Wenn man einen Teil von ihr retten und ein wenig ihres Zaubers bewahren wollte, dann musste man ab und zu Opfer bringen.
Er hatte es mit der Bitte um freiwillige Hilfe versucht. Wenn man ihm diese nicht geben wollte – nun, dann musste eine Reaktion vielleicht einfach erzwungen werden.