Kapitel 3

Das Mädchen kreischte und stolperte zurück, um sich an das gewundene Geländer der Stiege in den nächsten Stock hinauf zu klammern. Marius konnte es ihr nicht verübeln. Sie hatte einen unfassbar schlechten Tag hinter sich, war in eine vollkommen neue Welt geraten und ging vermutlich von ganz falschen Annahmen über Quellenkinder und ihre Praktiken aus. Die Vulgax in diesem Land waren alle grauenvoll uninformiert, aber die meisten von ihnen waren auch gar nicht interessiert daran, mehr zu erfahren. Wie man so leben konnte, war Marius ein Rätsel, aber dann wiederum war es auch nicht seine Angelegenheit. Das Mädchen jedoch … das Mädchen war wohl zu seiner Angelegenheit gemacht worden, ob er wollte oder nicht. Deswegen musste er aber nicht noch absichtlich zu ihrer Verstörung beitragen.

»Tausendmal habe ich dir gesagt, dass du das lassen sollst!«, schimpfte Marius den Schatten auf Altlimisch, seiner Erstsprache, und pflückte ihn von sich herunter. »Lass dich wenigstens von unserem Neuzugang ansehen, du unhöflicher Bastard.«

Besagter unhöflicher Bastard klapperte mit den Kiefern und präsentierte sich dann in all seiner Glorie, die zugegeben wohl für die meisten recht befremdlich sein musste.

Der Übeltäter war nämlich ein Affe.

Das allein war in diesen Breitengraden wohl schon eine Seltenheit, allerdings war dieser Affe noch dazu nichts mehr als ein Skelett. Marius versuchte, ihn aus Aurelias Sicht wahrzunehmen, als ob er ihn das erste Mal sah. Statt eines Fells waren besagte Knochen mit dichtem, feucht glänzendem – er musste wieder in Kilians Regentonne gekrochen sein – Moos überzogen, und anstelle von Augen saßen zwei exakt hineinpassende, grausilbern glänzende Blutsteine in den leeren Höhlen. Sein knochiger Schwanz wand sich um Marius’ Arm, und er schaukelte darauf sorgenfrei vor und zurück, während er Aurelia neugierig bestaunte.

Die Sache mit Untoten war, dass man vorsichtig sein musste, in welcher Gemütslage man sie erschuf und wie rein die Ausgangsmaterialien waren. Es war eine eigene Kunst, Knochen entsprechend zu präparieren und zu reinigen. Und selbst dann waren nicht alle Dienende der Herrin dafür prädestiniert, Untote zu erschaffen, denn es benötigte ein ruhiges, moralisch gefestigtes Gemüt, das wusste, was es wollte. Bösartigkeit im Herzen erschuf Bösartigkeit in Untoten, die dann gerne einmal ihre Schöpfer oder andere Lebewesen zur Strecke brachten, ohne sich darum zu kümmern, dass es ihr eigenes Ende bedeutete. Waren die Schaffenden während des Prozesses müde, konnte man höchstwahrscheinlich auch mit dem Untoten nichts anfangen. Waren die Schaffenden fröhlich, hilfsbereit, voller Sehnsucht, spiegelte sich dies auch in ihren Kreationen. Immerhin war es das Blut der Dienenden der Herrin, das die Untoten letztendlich existieren ließ.

Marius’ vhindonische Untote waren ein kleines Arschloch und ein liebebedürftiger Tollpatsch. Er wusste wirklich nicht, wie es dazu hatte kommen können.

Aurelia starrte den Affen so reglos an, dass Marius einen Moment lang überlegte, ob sie einen Schlaganfall erlitten haben mochte.

»Man nennt ihn Gustav«, stellte Marius den Affen nun wieder auf Radbonisch vor, woraufhin Gustav sich bekräftigend mit einer Hand gegen sein ebenfalls moosbedecktes Hinterteil schlug. »Er ist einer meiner Assistenten, eigentlich, aber um ehrlich zu sein, finde ich ihn einfach nur unterhaltsam.« Einen Moment lang dachte Marius darüber nach, sie darauf hinzuweisen, dass Gustav gerne einmal mit fremder Kacke um sich warf und sie deshalb vorsichtig beim Toilettengang sein sollte, aber sein Humor hatte auf Radbonisch die Tendenz, noch flacher als ohnehin schon auszufallen und niemanden außer ihn selbst zu amüsieren. Es mochte seine Abneigung gegen das Land und die Sprache sein, die ihm selbst nach so vielen Jahren im Ausland die Fähigkeit nahmen, auf einer fremden Sprache wirklich lustig zu sein. Andererseits war Humor wohl einfach nur Ansichtssache.

Aurelia rührte sich nicht vom Fleck und nahm auch nicht den Blick von Gustav. »Der Affe ist tot.«

»Ich würde sagen, das ist Auslegungssache«, sagte Marius. »Beziehungsweise führt es uns zu der sehr philosophischen Frage: Was genau ist eigentlich Leben, und wo hört es auf?« Etwas flackerte in Aurelias Augen. Marius konnte es nicht deuten und schüttelte deswegen einfach den Kopf. »Er tut dir nichts. Also, nichts Schlimmes. Wie sagt man, er treibt gerne Schabernack, aber das ist auch schon alles.«

Aurelia wirkte nicht überzeugt. »Totes beleben ist dunkle Magie. Verboten.«

Marius entfuhr ein unschöner Ausdruck, den er von Johann gelernt hatte und der Aurelias Augen weit werden ließ. Es tat ihm nur bedingt leid. »In dieser Stadt ist für Vulgax alles dunkle Magie. Es gibt keine dunkle Magie, und es gibt keine helle Magie. Es gibt einfach nur Magie und viele verschiedene Arten, sie zu verwenden, das ist alles. Ich wünschte, Leute hierzulande würden damit aufhören, vor ein paar überwucherten Knochen Reißaus zu nehmen. Bei uns hat man den Nutzen davon schon vor Jahrhunderten erkannt. Man spart sich damit viele Dinge – Sklaverei etwa, oder lebende Personen auf den Schlachtfeldern.«

Aurelia hob den Kopf und starrte ihn mit harten, dunklen Augen an, die ihn einen viel zu langen Moment an jemand anderen erinnerten. »Ihr seid ein Totentänzer.«

Totentänzer. An den Begriff hatte Marius sich erst gewöhnen müssen, nachdem er ihn das erste Mal gehört hatte. Sicherlich war das Wort einmal positiv verwendet worden, damals, als die Vulgax in Radbod noch Vertrauen in die Quellenkinder gehabt hatten. Nun aber hatte es eine negative Bedeutung, die jeden Stolz auf seinen Dienst deutlich erschwerte. Und dabei hatte gerade Vhindona einst der Herrin gehört. Man hatte ihre Wichtigkeit erkannt und sie gefeiert, indem man ihr eine Stadt errichtet hatte. Nun führten seit ein oder zwei Jahrhunderten nichtmagische Gläubige die Begräbnisse durch – Personen, die mit dem Tod selbst noch nie in Berührung gekommen waren. Man packte die Toten in Kisten und senkte sie in den Abgrund, anstatt sie zu verbrennen und den Sternen zurückzuführen. Die Vulgax hierzulande hatten vergessen, wie es einmal gewesen war, ja, sie konnten sich nicht einmal mehr an die magischen Knotenpunkte erinnern, auf denen die Stadt aufbaute. Sie waren misstrauisch, und selbst die Quellenkinder dieser Stadt hatten ihre Skepsis teilweise übernommen, was gerade unter den Jüngeren zu Selbsthass und Verunsicherung führte. Die toten Seelen der Stadt waren hohle, hungrige Existenzen, die sich mit aller Brutalität ans Diesseits klammerten, weil man sie nie auf den Übergang vorbereitet hatte, und nicht, weil sie noch etwas zu erledigen hatten oder jemandem beistehen wollten. Vhindona, nördliches Juwel der Herrin, hatte die Bedeutung des Todes vergessen und stattdessen begonnen, ihn zu fürchten. Es war nicht das, was er sich erhofft und erwartet hatte, als er vor zwanzig Jahren in die Stadt gekommen war.

Aber es machte seine Aufgabe hier auch ein wenig leichter, weil es ihn rücksichtsloser sein ließ. Zumindest wollte er sich das gerne einreden.

Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich würde bei etwaigen Unannehmlichkeiten deinerseits gerne um rasche Information darüber bitten.«

Aurelia hob die Augenbrauen und schlang die Arme um sich, als ob sie fror. »Würde das irgendwas ändern?«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Marius ehrlich. Armes Ding, dachte er insgeheim. Jedes junge Quellenkind in dieser Stadt war bei seinem Erwachen bereits verloren. Kein Wunder, dass Sofja davon beinahe vernichtet gewesen war, als sie Bycaea erreicht hatte.

Aurelia stieß geräuschvoll die Luft aus. »Ich habe mehr als ein Problem«, sagte sie und klang dabei nur ein wenig hysterisch. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob Sie mir dabei helfen können, diese Probleme zu lösen.«

»Tja«, sagte Marius ein wenig ungehalten. »Ein hartes Los.«

Was er eigentlich sagen wollte, war: »Scheißleben«, aber er war sich recht sicher, dass Aurelia ihm das übel genommen hätte.

Einen Moment lang maßen sie einander schweigend mit verhärteten Gesichtern und langen Blicken, dann war es an Marius, schwer auszuatmen. Er hatte vergessen, wie anstrengend es war, jung zu sein – und er hatte verdrängt, wie viel physische und psychische Kraft es verlangte, mit der Jugend Schritt zu halten. Außerdem wusste er noch nicht, was er von Aurelia halten sollte. »Ein heißes Bad und eine Handvoll Schlaf werden es schon richten, Kind. Zumindest ist man dann sauber und ausgeschlafen, wenn man schon verzweifelt – so sagt man das bei uns.«

Aurelia blickte drein, als ob ihr eine scharfe Erwiderung auf der Zunge lag. Dann jedoch war es, als ob sie einfach stillschweigend resignierte, als ob sie nicht die Kraft aufbrachte, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Sie sank ein wenig in sich zusammen, nickte nur und ließ sich widerstandslos von ihm die schmalen Treppen hinauf in den oberen Stock führen.

Er brachte sie zu einem kleinen Badezimmer, das er bis dato weitgehend ignoriert hatte, weshalb eine fingerdicke Staubschicht alle Oberflächen bedeckte, die überwiegend in einem ganz scheußlichen Lachsrosa gehalten waren. Doch das Haus passte sich der neuen Bewohnerin an und entflammte die Kerzen in den Haltern an der Wand, sodass der goldene Rahmen des Spiegels über dem Waschbecken in ihrem Schein glänzte. Aurelia blieb im Türrahmen stehen, während Marius sich ins Badezimmer schob und dabei Gustav anwies, die Wanne mit warmem Wasser zu füllen. Der Knochenaffe zeigte ihm den Mittelfinger, begann jedoch, geübt mit den Knöpfen der goldenen Armatur an der großen, runden Wanne aus grauem Stein zu hantieren.

»Gustav kümmert sich um das Wasser, ich bereite solange dein neues Zimmer vor. Bleib einfach hier, Gustav wird das Wasser abdrehen, wenn es genug ist«, teilte Marius dem Mädchen mit, das nur stumm nickte. Sie war ein blasses, mageres Ding, das ihm bis zur Schulter reichte und ihn momentan entfernt an einen halb zerrupften Vogel erinnerte, mit zerzausten, kastanienfarbenen Haaren, die fedrig um ihr herzförmiges Gesicht bis auf ihre Schlüsselbeine fielen. Sie sah Sofja nicht im Entferntesten ähnlich. Marius massierte sich die plötzlich enge Brust. Nein, stellte er mit einem Blick in ihre dunklen Augen fest, sie sah Sofja mit dem getriebenen Ausdruck in ihren Augen viel zu ähnlich, und das war Teil des Problems.

Zwanzig Jahre und ein Meer trennten ihn von Sofjas Erinnerung, und doch hatte der Schmerz in den Jahren nur wenig abgenommen.

Marius biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

»Schick mir Gustav vorbei, wenn du fertig bist, dann zeige ich dir dein Zimmer. Vergiss nicht, die Temperatur zu prüfen, bevor du reinsteigst – Untote besitzen keine Nerven, mit denen sie Kälte und Wärme spüren können, und am Moos ist es nur bedingt zu merken«, empfahl er ihr noch, dann marschierte er in das dem Bad gegenüberliegende Zimmer.

Es gab eine Menge Räume in diesem Haus, die er kaum bis nie benutzte. Auch dieser gehörte dazu, weshalb er dementsprechend vernachlässigt aussah. Marius grollte vor sich hin, verfluchte Johann und seine Schnapsideen und holte trotz seiner tiefen Abneigung gegen Hausputz einen Besen, um durch das Zimmer zu fegen. Binnen einer Dreiviertelstunde waren der ärgste Staub beseitigt, das Bett frisch und fast lochfrei überzogen und eine kleine Öllampe auf dem Nachttisch angezündet. Eine Weile lang haderte Marius mit sich, dann gab er sich einen Ruck und legte nicht nur zwei frische Handtücher, sondern auch eines seiner eigenen Nachthemden für das Mädchen bereit. Marius war der Ansicht, dass sie einem geschenkten Gaul nun wirklich nicht ins Maul schauen und lieber dankbar sein sollte. Handtücher und Nachthemd schob er ins Badezimmer, ohne die Tür dafür weiter als notwendig zu öffnen, dann beschloss er, dass er für den Moment genug getan hatte, und marschierte in sein Arbeitszimmer, um sich in seinen Schreibtischsessel fallen zu lassen und sich die Augen zu reiben.

Er hatte nicht mit diesem Kind gerechnet, und er verfluchte Meriwa dafür, ihn nicht vorgewarnt zu haben, obwohl sie sich doch ständig damit brüstete, alle wichtigen Ereignisse voraussehen zu können. Zugegeben, sie konnte nicht in Marius’ Zukunft sehen, aber das würde sie doch sicherlich nicht davon abhalten, ihren Teil der Abmachung zu erfüllen und solche Komplikationen im Auge zu behalten? Es bedurfte nicht der Fähigkeiten von Futurix, um die nächsten Hausdurchsuchungen vorauszusehen. Allein der Gedanke daran rief ein tiefes Stechen hinter seinen Augen hervor, und er presste die Lider aufeinander. Gegen die lästigen Durchsuchungen half nicht einmal sein diplomatischer Sonderstatus. ›Protokoll‹ nannte man dies im Magiestrat. Marius benannte es mit einem Ausdruck auf Altlimisch, der keine Übersetzung auf Radbonisch kannte, die seiner Schärfe gerecht worden wäre.

Er musste eine ganze Weile lang so verharrt haben, denn irgendwann zog etwas heftig an seinem Hosenbein und ließ ihn aufblicken. Gustav krallte sich an dem Stoff fest und zog sich unbeirrt daran hinauf, bis Marius ihn im Nacken packte und auf seine Schulter setzte, während er sich erhob und das Arbeitszimmer verließ. Er beabsichtigte, an die Badezimmertür zu klopfen und sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen – nur um festzustellen, dass Aurelia unbeweglich und rigide wie eine Statue vor dem Badezimmer stand und auf den Boden zu ihren nackten Füßen starrte. Immerhin war sie in das Nachthemd gekleidet, trug ein Handtuch um den Kopf gewickelt und war nicht mehr voller Blut, was vermutlich eine Verbesserung darstellte. Trotzdem bot sie einen jämmerlichen Anblick, der ihn an einen getretenen Straßenhund erinnerte. Marius versuchte sich nicht davon beeindrucken zu lassen. Alles in allem hatte das Mädchen bei der nachteiligen Gesetzeslage für Quellenkinder noch Glück gehabt. Dennoch erwischte er sich dabei, wie er einen Moment lang die Lippen aufeinanderpresste und dann langsam ausatmete. Er wollte nicht für dieses Kind verantwortlich sein. Es gab wenig, was er noch weniger wollte als das. Das schien nur niemanden zu interessieren.

»Schlaf wird uns beiden guttun, und dann sehen wir morgen weiter. Und mit morgen meine ich sicher nicht vor elf Uhr, sonst werde ich ungemütlich«, teilte er ihr mit, während er sie zum vorbereiteten Zimmer dirigierte und die Tür für sie öffnete. »Hier wirst du für die Dauer deiner Ausbildung nächtigen.«

Aurelia ließ die Augen einen Moment lang durch den Raum wandern, aber ihr Blick war matt und unfokussiert. Sie sagte kein Wort über das Zimmer, sondern trat nur ein und setzte sich auf den Bettrand, die Hände im Schoß gefaltet. Dann senkte sie ein wenig den Kopf wie ein erschöpftes Küken, das aus dem Nest gefallen war. Man hatte ihm gesagt, dass man sie mit Medikamenten ruhiggestellt hatte, um ihre Fähigkeiten zu unterdrücken, was vielleicht ein wenig von ihrem Verhalten erklärte. Der andere Teil davon war vermutlich dem Schock geschuldet, der nach dem Erlebten nur natürlich war.

Marius blickte sie einen weiteren Moment nachdenklich an, dann rieb er sich ein wenig unschlüssig die Handknöchel. »Nun, gute Nacht. Falls du etwas brauchst –«

»Danke«, sagte Aurelia in einem absolut neutralen Tonfall und hob den Kopf, um ihn mit ihren dunklen Augen anzusehen. »Ich komme zurecht. Gute Nacht.«

Er nickte und schloss die Tür hinter sich, um dann tief ein- und wieder auszuatmen. Ausgerechnet jetzt, wo er und Meriwa so kurz davorstanden, die Angelegenheit in dieser Stadt zu regeln, wurde ihm dieses Kind aufgedrückt. Und sie war so hilflos und beinahe, nur beinahe schon gebrochen von einem magiefeindlichen System …

»Verdammte Vulgax«, wisperte Marius auf Altlimisch, während er die schmale Treppe hinaufstieg, die zum Dachboden führte. »Verdammte reiche Kinder und verdammter Johann mit seinen blöden Ideen. Verdammte Stiegen. Wieso hatte ich noch mal die brillante Idee, mein Schlafzimmer direkt unter dem Dach einzurichten?«

Er riss die einzige Tür am Ende der Treppe auf, um in sein Schlafzimmer zu stolpern. Mondlicht flutete den äußerst großzügigen Raum in vielfach gebrochenem buntem Licht, das durch die gewaltige Rosette in der Wand über seinem Bett hereinfiel. Auch nach zwanzig Jahren konnte Marius dem Anblick etwas abgewinnen, und sein Blick wanderte einen Moment lang durch das bunte Glas zu dem schmucklosen, grauen Gebäude in absehbarer Ferne, das eine seiner Arbeitsstätten barg. Er brummte zufrieden beim Anblick der Dornenhecke, die er vorsorglich um das Haus hatte wachsen lassen, um unliebsamem Besuch für diese Nacht entgegenzuwirken, während Aurelia bereits hineingegangen war. Der Schnitt an seiner Hand, der dafür nötig gewesen war, brannte ein wenig, als er die Finger streckte.

»Na komm«, sagte er schließlich sachte ins Nichts hinein, während Gustav von seiner Schulter aufs Bett sprang und sich, ohne viel zu fragen, auf einem von Marius’ Dutzenden Zierkissen zusammenrollte. Marius war zu müde, um viel mit einem untoten Primaten zu diskutieren, weshalb er sich einfach den Schleiermantel aufknöpfte – bei all der Unruhe heute hatte er tatsächlich vergessen, ihn nach Eintreten in sein Haus abzulegen. Er ließ ihn zusammen mit dem Rest seiner Kleidung in einem Haufen auf den Boden vor seinem Bett fallen. Dann suchte er ein Nachthemd aus seinem Schrank und zog es sich über den Kopf, den Rücken zum Bett gewandt. Durch jahrelange Übung konnte er nun aus den Augenwinkeln einen schmalen, kleinen Schatten ausmachen, der kurz zögerte und dann rasch über den Boden unter sein Bett huschte.

Erzählst du mir eine Geschichte?

»Eher nicht. Es würde keine gute Geschichte werden, Jakob, ich bin hundemüde«, lehnte Marius ab und warf sich auf die Matratze, nachdem er endlich wieder trockenen Stoff am Leib trug. Mit einem herzhaften Gähnen schlug er die Decke über sich, bettete seinen Kopf auf das Kissen und schloss die Augen. Für einen Moment war es still, bis auf das beruhigende, monotone Ticken der Standuhr in der Ecke. Jakobs Uhr war schon hier gewesen, als er eingezogen war, und sie würde noch hier stehen, wenn er wieder auszog. Nun, vielleicht würde er sie mitnehmen.

Gerade, als er langsam in den Schlaf hinüberzugleiten begann, hob Jakob sanft und zögerlich wieder seine Stimme. Du hast jemanden mitgebracht. Und eine Dornenhecke für sie wachsen lassen!

»Verdammt großartige Dornenhecke noch dazu«, murmelte Marius nicht ohne Befriedigung auf Altlimisch. »Das wird es Kilian zeigen, dem blöden Baumkuschler. Scheiß auf seine nutzlosen Tujenhecken, die braucht wirklich niemand.« Er wechselte zurück in Radbonisch, damit auch Jakob ihn verstand. »Die Hecke kann, glaube ich, für den Moment nicht schaden.«

Wird sie bei uns bleiben?

»Für eine Weile«, bestätigte Marius mit einem kleinen Gähnen. »Du musst keine Angst haben, sie ist noch ein halbes Kind. Ich denke nicht, dass sie irgendwem hier Schaden zufügen möchte.«

Jakobs leise Stimme begleitete ihn ins Land der Träume, aber er war bereits zu sehr abgedriftet, um ihm noch antworten zu können. Es sind immer die Lebenden, vor denen man Angst haben muss, das hast du selbst gesagt. Auf das Alter kommt es dabei gar nicht an.