Kapitel 6

Nach dem Prozedere war Aurelia verständlicherweise erschöpft, und Marius beschloss, dass es wohl am besten für sie war, früh zu Bett zu gehen. Seine Schülerin protestierte nicht, verabschiedete sich von ihm und verschwand in ihrem Zimmer.

Für Marius wurde es eine lange Nacht, in der er noch viel über seinen Büchern brütete. Er schaffte es dennoch, gegen elf Uhr in die Küche zu stolpern, wo Aurelia bereits herumwerkelte – die Haare glänzend gebürstet und in den gleichen Kaftan wie vom Vortag gekleidet, aber immerhin heiter pfeifend. Sie pfiff zugegeben nicht besonders gut, aber es ließ sich jetzt schon sagen, dass ihre Körperhaltung eine ganz andere war als noch am Tag zuvor. Da war eine Energie in ihren Bewegungen, und als sie sich umdrehte und ihn anlächelte, waren ihre Augen wach und glänzend.

»Guten Morgen«, grüßte sie und deutete auf den Tisch, den sie bereits gedeckt hatte. Marius besah ihn sich ein wenig blinzelnd. Er hatte nicht einmal gewusst, dass er grüne Stoffservietten besaß. »Ich habe bereits Kaffee gemacht. Ich hoffe, er ist genießbar.«

»Wir müssen alle irgendwo beginnen«, sagte Marius großzügig und ließ sich am Tisch nieder, wo wenig später eine Schüssel Brei vor seiner Nase landete. Mit einem zufriedenen Laut probierte er den Kaffee und spuckte ihn nur um ein Haar nicht aus. Er würde Aurelia wohl besser anleiten müssen, aber er wusste die Geste zu schätzen, weshalb er das Gesicht zu einem ermutigenden Lächeln verzog und noch einmal an der Tasse nippte, um dann nach einem Löffel Brei zu bemerken: »Du scheinst heute guter Dinge zu sein.«

»Es geht mir – gut«, sagte Aurelia und schien selbst die Überraschung in ihrer Stimme zu hören, weil sie sogleich hinzufügte: »Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so … ich meine, ich konnte immer denken, das war nicht das Problem. Aber es war so anstrengend, irgendwas festzuhalten. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll … hmmm … als hätte ich jede Schlussfolgerung erst mal aus dem Schlamm ziehen müssen. Und ich wusste gar nicht mehr, wie es ist, wach zu sein, das hier ist so …« Sie spreizte die Finger in einer hilflosen Geste und sah ihn an.

»Ich verstehe«, sagte Marius beschwichtigend und schenkte ihr ein Lächeln. »Es ist schön, dich so zu sehen.«

Sie wirkte ein wenig überrascht, fast verlegen, lächelte dann jedoch zurück. »Danke. Ich – ich bin froh, dass ich mich auf Sie verlassen habe.«

Wie lange war es her, dass er das Gefühl gehabt hatte, etwas richtig zu machen? Marius brummte nur zur Antwort, seinerseits verlegen, und trank noch mehr von dem scheußlichen Kaffee, der gleich ein bisschen weniger bitter schmeckte.

Aurelia räusperte sich, offenbar durchaus daran interessiert, die peinlich berührte Stimmung hinter sich zu lassen. »Ah, wie ist das eigentlich … gibt es irgendwelche bestimmten Regeln, die ich befolgen sollte?«

Marius neigte ein wenig den Kopf, ebenfalls nicht undankbar über den Themenwechsel. »Regeln? Was genau meinst du? Es gibt generell gewisse Grundregeln, die ein Zusammenleben in einer Gesellschaft ermöglichen, in der Tat.«

»Das meinte ich nicht«, erwiderte Aurelia und inspizierte dabei ihre abgekauten Fingernägel. »Ich meinte – für unser Zusammenleben hier in diesem Haus.«

Marius tippte sich gedankenvoll gegen das Kinn. »Nun, alle Räume, die dir nicht sofort oder gar nicht zugänglich sind, werde ich ab sofort verschließen, damit sich diese Frage gar nicht stellt. Ansonsten darfst du in die geteilten Räume gehen – hier unten wären das die Küche und der Tanzsaal, aber der ist nicht sehr spannend. Mein Schlafzimmer ist tabu. Hmmm … Alle Bücher in diesem Haus bleiben auch in diesem Haus. Wenn du jemanden einlädst, will ich es vorher wissen, um mich darauf vorbereiten zu können.« Er hielt inne und blickte auf. »Macht das so weit Sinn?«

Aurelia sagte einen Moment lang nichts. Dann, sehr leise: »Ja. Kann ich den Garten betreten?«

Marius zuckte mit den Achseln. »Natürlich, was spräche dagegen?«

Ein paar Sekunden lang wirkte es, als ob Aurelia mehrere Gründe aufzählen wollte, die dagegensprachen, dann jedoch nickte sie nur und faltete die Hände vor sich. »Und wie soll ich mich in den Haushalt einbringen?«

»In den Haushalt einbringen?« Marius blinzelte verdattert, woraufhin seine Schülerin ebenfalls verdattert den Kopf neigte.

»Nun, ich denke nicht, dass ich mich hier durch die Gegend schmarotzen möchte«, sagte sie. »Also was soll ich tun? Ich kann kochen, stricken und nähen. Im Putzen bin ich … ungeübt. Aber ich schätze, ich kann es lernen. Oder soll ich die Blumen hier gießen?«

»Die brauchen kein Wasser«, sagte Marius sofort. »Finger weg von den Blumen. Von mir aus kannst du für dich selbst kochen. Ich bin nicht gut darin. Aber du bist nicht mein Dienstmädchen, und ich habe durchaus Hilfe in diesem Haushalt, auch wenn du sie noch nicht gesehen hast. Du sollst dich auf deine Ausbildung konzentrieren.«

»Oh! In Ordnung.« Sie wirkte beinahe aufgeregt bei der Vorstellung, nichts zu tun, außer zu lernen. Marius konnte nicht leugnen, dass ihm das gefiel. Mit Wissensdurst hatte er immer gut umgehen können, und sie bewies gleich noch mehr davon, indem sie vorschlug: »Vielleicht wäre es hilfreich, mir die Küche und den Rest des Hauses ein wenig näher zu erklären? Ich meine, ich habe jetzt für das Frühstück im Prinzip nur Dinge genommen, die auf der Theke waren, und mich ein bisschen verzweifelt durch Schubladen gegraben.«

»Das ist gar nicht so dumm«, befand Marius und grinste flüchtig, als Aurelia etwas beleidigt dreinblickte. Er ließ seinen Blick durch die Küche wandern, dann deutete er auf eine dunkle Truhe in der Ecke. »Hier ist das Eisfach – nur die Dinge auf der linken Seite sind essbar.«

Aurelia erhob sich augenblicklich, spähte in die Truhe und gab ein undefinierbares Geräusch von sich. »Was für Fleisch ist das auf der rechten Seite? Und wie bleibt das alles kühl? Ich sehe keine Luftkompression oder dergleichen … auch keine Zinkverkleidung oder Ähnliches.«

Marius verzog ein wenig verwirrt und nicht angetan von Begriffen, die ihm nichts sagten, das Gesicht, tippte aber gegen die Runen an den Innenwänden des Eisfaches. »Da. Die sorgen für ständige Kühlung von allem, was da drin liegt. Frag mich nicht, wie das funktioniert, ich weiß es nicht.«

»Schade, das wäre interessant gewesen«, murmelte Aurelia, schloss die Eistruhe jedoch wieder und drehte sich zu ihm um. »Was gibt es sonst noch Aufregendes?«

Marius wanderte zu ihr und öffnete alle wichtigen Schubladen in der Küche. »Hier. Besteck, Pfannen, Töpfe, Kleinkram. Die Lade da fasst du mir ohne meine Anwesenheit nicht an, denn es befinden sich spezielle Zutaten für Tränke darin, und mit diesen willst du dich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auseinandersetzen.«

Aurelia räusperte sich und druckste ein wenig herum, schien sich dann aber einen Ruck zu geben. »Verwenden … also … Totentänzer –«

»Die Dienenden der Herrin.«

»Die Dienenden der Herrin also – man erzählt sich, dass sie unter anderem Zehennägel und Haare für Tränke und Rituale verwenden. Stimmt das?«

Wenigstens fragte sie nach, statt stillschweigend weiter an den Halbblödsinn zu glauben, den Vulgax aufgeschnappt und verdreht hatten. »Manchmal ist dies der Fall, in der Tat. Nägel und Haare sind fast so gut wie Blut«, informierte Marius Aurelia, die daraufhin ein wenig angewidert dreinblickte. Er beobachtete ihr Gesicht, dann fragte er: »Weißt du auch, wieso?«

Aurelia zögerte. »Ich weiß nur, was man sich eben so erzählt – dass Leute damit unter Kontrolle gebracht werden können und dann manchmal schlimme Dinge tun. Dass man damit lebende Puppen machen kann, die herumlaufen und Leute töten. Solche Sachen eben.«

Marius summte. »Das kann passieren, aber grundsätzlich ist so etwas in unserer Zunft außer in Ausnahmesituationen sehr verpönt«, sagte er dann. »So oder so beschreibt das nur mögliche Wirkungen. Wir verwenden Haare und Zehennägel aus dem gleichen Grund, aus dem wir Blut verwenden. Ein Körper ist das, was die Seele in dieser Welt hält, und er ist damit auch ihre Verbindung nach draußen. Nägel und Haare sind weniger mächtig als Blut, weil sie – nun, sie können leichter geteilt werden, Haare fallen aus, Nägel muss man schneiden, oder sie brechen von selbst ab. Blut ist in einem und muss erst einmal an die Oberfläche gezogen werden. Je nachdem, was man machen möchte, muss man über das Material entscheiden. Wie bei einem Hausbau, nicht?«

Ein kleines Lächeln zupfte an Aurelias Lippen, und sie nickte. »Ja, das macht Sinn, denke ich. Gibt es eigentlich eine Art … Tagesablauf?«

Marius nickte. Das war eigentlich gelogen, weil er zwar einen gewissen inneren Rhythmus besaß, der ihn durch die letzten Jahrhunderte getragen hatte. Aber wie es häufig der Fall war, wenn man bis auf ein paar Untote allein lebte und sich nach niemandem richten musste, war sein Rhythmus in Vhindona recht eigenwillig. Das Mädchen benötigte jedoch sichtlich mehr Struktur als das. Er dachte einen Moment lang sorgfältig darüber nach, was eine sinnvolle Vorgehensweise sein konnte.

»Gegen elf Uhr gibt es Frühstück. Das hat heute gut funktioniert, das können wir beibehalten, würde ich meinen«, begann er dann spontan. »Danach machst du mit mir etwa eine halbe Stunde lang Aufwärmübungen, um etwas für deine Magiekontrolle zu tun. Dann widmen wir uns bis etwa zwei oder drei Uhr deinen Studien. Ich halte es für sinnvoll, dich, so weit es mir möglich ist, in theoretischen Grundlagen zu unterrichten. Ich würde sagen, dazu gehören das Lesen und Schreiben von Runen und Keilschrift, die Geschichte der Quellenkinder, eine Ergänzung deiner Kenntnisse über den Ersten und Zweiten Sternenfall und deren Folgen, Pflanzenkunde, Völkerkunde und Anwendungsmöglichkeiten von Magie. Dann gibt es Mittagessen.« Er machte eine Pause und tippte sich gedankenvoll gegen das Kinn. »Ich kann dir nicht mit allen Bereichen helfen, deswegen wirst du nach ein paar Wochen nachmittags Unterricht von anderen Lehrpersonen in mir nicht ganz erschlossenen Gebieten erhalten. Ich werde währenddessen wahrscheinlich meistens im Magiestrat sein und Johann unterstützen. Gegen acht gibt es Abendessen. Dann kannst du mich entweder zu, hm, Missionen begleiten oder machen, was auch immer du willst.«

»Missionen?«

»Dienste als sterbliche Hand der Herrin«, sagte Marius, »Dienste an den Toten.« Aurelia erschauerte sichtlich, weshalb Marius hinzufügte: »Das ist auf freiwilliger Basis. Vielleicht würde es dir aber helfen, einmal zu sehen, was genau ich so mache. Ganz überraschend zählt dazu nämlich nicht, irgendwelche kürzlich verstorbenen Fleischsäcke zu reanimieren und auf die Bevölkerung loszulassen, damit sie ihre Gehirne fressen.«

»Sondern?«

Marius zuckte mit den Achseln. »Sterbende mit starker Energie besuchen und sie reinigen, damit sie nicht in der Welt der Lebenden festsitzen. Letzte Wünsche von Geistern erfüllen oder versuchen, sie genügend zu reinigen, um sie über die Schwelle zu schicken. Im Endeffekt schubse ich tote Leute einfach weiter. Oder ich bringe sie dazu, mir von ihren letzten Eindrücken vor ihrem Tod zu erzählen, was mehr oder weniger das ist, womit ich Johann im Moment assistiere. Früher … Zu Hause, meine ich, hat das auch bei Gericht eine Funktion. Und dann ist da natürlich noch die Sache mit Erinnerungen, die ich unter bestimmten Umständen ansehen oder ausgraben kann. Ähnliches gilt für Träume.«

»Ich verstehe«, sagte Aurelia, die ziemlich sicher nichts verstand, aber immerhin gute Arbeit darin leistete, halbwegs verständig zu wirken. »Ich … ich werde mir überlegen, mitzukommen, danke.« Sie zögerte, dann gab sie zu: »Das ist … anders, als ich dachte.«

Erneut eine Entschuldigung, wo keine zu hören war. Marius nickte nur. »Lass dir Zeit. Momentan ist das ohnehin nicht unsere Priorität.«

Einen Moment war es still. Marius beobachtete das Mädchen, das auf eine der Küchenpflanzen starrte, während er seinen mittlerweile kalt gewordenen Kaffee austrank. Er verzog das Gesicht, weil das Kaltwerden dem Getränk nicht unbedingt besser getan hatte und den letzten Schluck zu einer Überwindung machte.

Aurelia blickte auf, als Marius die Tasse hinstellte und sich streckte, um sich dann zu erheben.

»Komm«, sagte er, »aufwärmen.«

Aurelias Augen leuchteten auf. Sie nickte eifrig und folgte ihm aus der Küche hinaus. Marius wanderte schnurstracks in einen der leeren Räume im Erdgeschoss, den er ihr zuvor nicht gezeigt hatte und der tatsächlich nicht einmal ein einziges Möbelstück beinhaltete. Stattdessen waren die Wände mit sanft geblähten weißen Tüchern verhängt, die das Zimmer heller wirken ließen, als es tatsächlich war. Der Fußboden war poliert und glatt, frei von Staub und Hindernissen. Durch die ebenfalls hellen, unvergleichlich dünnen weißen Tücher vor den Fensterscheiben fiel weiches Licht hinein. Vielleicht hatte man den Raum einmal als Esszimmer verwendet. Vermutlich konnte man Jakob danach fragen, aber was sollte das bringen? Marius wanderte hinein und streckte sich für einen Moment, ließ es zu, dass Aurelia die Knochen und Muskeln seiner Schultern und seines Rückens knacken hören konnte, dann warf er ihr über die Schulter ein Grinsen zu.

»So«, sagte er ruhig. »Und jetzt tanzen wir.«