Kapitel 2

D as hat sich ganz schön verzögert.« Cheyenne verschränkte ihre Arme und hob eine Augenbraue. »Ich habe dir vor fast zwölf Stunden eine SMS geschickt.«

»Was soll ich sagen? Ich war damit beschäftigt, diesem Namen zu folgen.«

»Hat er zu einer Person geführt?«

»Oh, ja. Noch ein bisschen mehr.« Die Augen des Nachtpirschers blitzten triumphierend, was sogar durch seine Illusion hindurch erkennbar war. »Und ich war bei deiner Wohnung. Du hast es geschafft, Cheyenne.«

Die Augen der Halbdrow weiteten sich, als Corian ihr Drow-Vermächtniskästchen hinter seinem Rücken hervorzog. Die Runen leuchteten in einem sanften, goldenen Licht auf der kupfernen Oberfläche, jede Schicht war an ihrem Platz und bildete nun ein viel größeres Muster aus Runen, die sie noch immer nicht verstand.

»Ich habe es geschafft«, murmelte sie und betrachtete das Kästchen.

»Ich vermute, dass dein Zusammenstoß mit den Dingern aus dem Dazwischen gestern Abend den Rest der Arbeit für dich erledigt hat.«

Cheyennes Finger kribbelten vor warmer Energie, als sie den Cuil Aní aus den Händen ihres Mentors nahm. »Ich wäre also wirklich fast gestorben, als ich mich allein gegen diese Dinger gewehrt habe. Gut zu wissen.«

Corian schnaubte. »Mach es auf.«

»Bist du verrückt?« Die Halbdrow warf einen schnellen, vorsichtigen Blick über ihre Schulter zu den geschlossenen Flügeltüren und senkte ihre Stimme. »Ich kann das hier nicht öffnen. Ein Grenzportal und ein Team von FRoE-Agenten in ihrem Hinterhof ist alles, was meine Mutter an Magie verträgt. Du hast ihre Toleranz überstrapaziert, als du so unangekündigt aufgetaucht bist.«

»Ich wusste nicht, dass sie da war. Ich habe nach dir gesucht.«

»Offensichtlich.« Sie strich mit ihren Fingern über die verschlossenen Lagen der Rätselkiste und nickte. »Ich muss erst mal die Sauerei aufräumen.«

»Was für eine Sauerei?«

»Hey, wenn Bianca Summerlin von ihrem Stuhl aufsteht und überrascht den ersten Nachtpirscher anschreit, den sie je gesehen hat, gibt das eine Sauerei.« Cheyenne tippte sich an die Schläfe. »Es ist alles hier oben, aber das macht es noch wichtiger, dass wir uns so schnell wie möglich darum kümmern. Dann muss ich Ember nach Hause bringen und mich vergewissern, dass es ihr gut geht, bevor ich anfange, die Kisten mit dem Erbe zu öffnen.«

»Das ist deine Freundin?« Als die Halbdrow nickte, zuckte Corians menschlich aussehende Nase auf eine sehr katzenhafte Weise. »In dem Zimmer riecht es nach Fae.«

»Nun, mit deinem Geruchssinn ist alles in Ordnung.« Sie schaute wieder zu den geschlossenen Türen. »Du musst jetzt wirklich gehen. Ich rufe dich an, wenn ich wieder in meiner Wohnung bin.«

Er warf ihr ein für seine menschliche Erscheinung seltsam wildes Grinsen zu und nickte. »Das solltest du auch. Beeil dich, Kleine. Die eigentliche Arbeit beginnt jetzt und L’zar wird das so schnell wie möglich wissen wollen.«

»Ja, er hat mich letzte Nacht in meinem Kopf besucht.« Cheyennes Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Er ist übrigens nicht sehr glücklich darüber, dass du auf deine eigene kleine Mission gegangen bist. Anscheinend sollst du mein Babysitter sein.«

»Sehr witzig.« Die Finger des Nachtpirschers bewegten sich in einer schnellen Reihe von präzisen Mustern und der dunkle Kreis eines neuen Portals öffnete sich vor ihm. »Ruf mich an, sobald du kannst.«

»Ja.«

Corian warf noch einmal einen Blick auf den Cuil Aní in Cheyennes Händen, dann trat er durch das Portal zurück an den Ort, von dem er gekommen war. Nachdem der Kreis aus dunklem Licht mit einem leisen Knall verschwunden war, stürzte Cheyenne in das Schlafzimmer ihrer Kindheit und warf die aktivierte Drowbox auf ihr ungemachtes Bett.

Das Letzte, was Mom jetzt sehen will, ist das, was L’zar ihr in dieser Nacht außer mir hinterlassen hat.

Schnell kehrte sie in den Frühstücksraum zurück, klopfte leicht an die Tür und drehte beide Griffe, um den Raum zu betreten. »Ich habe mich um alles gekümmert. Entschuldigt bitte.«

Bianca und Eleanor hatten sich beide wieder in die cremefarbenen Sessel gesetzt. Biancas langes, ruhiges Einatmen klang besonders laut in dem stillen Frühstücksraum. »Ich nehme deine Entschuldigung an, Cheyenne. Ich erwarte, dass dieses kleine Missgeschick das erste und letzte seiner Art sein wird.«

»Das wird es, Mom. Ich verspreche es dir. Es hätte gar nicht erst passieren dürfen.«

»Das sehe ich auch so.«

Cheyenne presste ihre Lippen zusammen und begegnete Embers Blick, als das Fae-Mädchen über ihre Schulter blickte. Ich habe Ember mitten in Moms Wut gelassen. Es wird Zeit, hier zu verschwinden.

»Bist du bereit zu gehen?«

Ember schenkte ihr ein schwaches Lächeln und rollte ihren Rollstuhl zurück, bevor sie sich geschmeidig umdrehte. »Ich bin bereit, wenn du es bist.«

»Ja, ich glaube, es wird Zeit. Ich werde mich bei den Agenten draußen melden, dann fahren wir nach Hause.«

»Klingt gut.« Ember warf einen Blick auf Bianca, die durch die geschwungene Fensterwand geradeaus schaute. »Danke, dass du mich hierher eingeladen hast, Bianca. Und für deine Gastfreundschaft.«

Die Frau des Hauses bewegte sich keinen Zentimeter. Ember warf einen Blick auf Eleanor, die ihr ein mitfühlendes Lächeln schenkte. Als die Fae Cheyenne ansah, deutete die Halbdrow mit einem Nicken in Richtung der offenen Türen.

In dem Moment, in dem Ember mit ihrem Stuhl vorwärts fuhr, schoss Biancas Hand hervor und legte sich kurz und leicht auf den Unterarm des Fae-Mädchens. Ember hielt inne und sah Cheyennes Mutter mit großen Augen an.

»Du bist hier immer willkommen, Ember. Das ist keine Einladung, die ich leichtfertig ausspreche.«

»Danke.«

Bianca streckte ihre Hand aus, die Ember nach einer Sekunde des Zögerns ergriff. »Es war mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen.«

»Die Freude war ganz meinerseits. Nochmals danke.« Sobald Bianca ihre Hand losließ, rollte Ember wieder nach vorne.

Eleanor stand von ihrem Stuhl auf. »Ich begleite euch hinaus.«

Sie gingen gemeinsam zu den offenen Türen, bevor Bianca ihnen nachrief, ohne sich von ihrem Stuhl zu bewegen. »Eleanor, bring uns bitte einen Tee. Einen starken Earl Grey, wenn es dir nichts ausmacht.«

»Natürlich.« Die Haushälterin drehte sich um und neigte den Kopf, auch wenn Bianca ihn nicht sehen konnte. Dann geleitete sie Cheyenne und Ember in den Flur und schloss leise die Tür hinter sich. »Nicht gerade einer unserer besten Morgen.«

Cheyenne hob die Augenbrauen. »Das habe ich bemerkt. Was dagegen, wenn ich das Steuer übernehme, Em?«

»Nimm es dir.« Die Mädchen tauschten amüsierte Blicke aus, dann griff Cheyenne nach den Griffen des Rollstuhls. Sie atmete scharf ein und blickte auf die Einstichwunden in ihren Handflächen. Ich muss die Salbe aus Schwarzzunge immer bei mir haben. Sie biss die Zähne gegen den Schmerz zusammen und schob Ember in Richtung ihres Zimmers.

»Ich treffe euch unten«, sagte Eleanor, als sie die breite, geschwungene Treppe zum Erdgeschoss hinunterging.

»Danke, Eleanor.«

Die Frau winkte ihr mit einem unverbindlichen Brummen zu, dann blieb Cheyenne vor ihrem Zimmer stehen und eilte hinein, um die Kupferkiste zu holen. Sie warf einen kurzen Blick auf das ungemachte Bett, klemmte sich die Kiste unter den Arm und machte das Bett in weniger als dreißig Sekunden, indem sie die Bettdecke und die Kissen ausschüttelte. Als sie in den offenen Flur des zweiten Stocks zurückkehrte, schenkte Ember ihr ein kleines, wissendes Lächeln.

»Was?« Cheyenne zuckte mit den Schultern. »Es wurde mir in die Wiege gelegt, okay?«

»Ich habe nichts gesagt.«

»Das musstest du nicht.« Die Halbdrow zog die Kiste von unter ihrem Arm hervor und ließ sie in den Schoß ihrer Freundin fallen. »Kannst du das für mich aufbewahren? Ich brauche meine Hände.«

Ember betrachtete den Cuil Aní , als Cheyenne sie zum Aufzug der Summerlin-Villa rollte. »Das sieht anders aus.«

»Das ist so, weil es anders ist.«

»Warst du das?«

»Ja. Anscheinend ist diese Halbdrow erwachsen geworden und bereit, ihr Erbe anzutreten, was immer das auch heißen mag.« Cheyenne drückte den einzigen Rufknopf an der Wand neben dem Aufzug. »Sobald wir zu Hause sind, mache ich mich mit Corian auf den Weg, um das Ding zu öffnen und herauszufinden, was dieses Vermächtnis ist.«

Die Tür öffnete sich langsam und die Halbdrow rollte ihre Freundin hinein, bevor sie den Knopf drückte, um sie nach unten zu bringen.

»Du solltest es jetzt öffnen.«

»Das sollte ich wirklich nicht.« Cheyenne schnaubte. »Was auch immer da drin ist, war nur für mich bestimmt. Anscheinend. Es gab schon genug Verrücktheiten in diesem Haus für einen Besuch und wenn die Kiste ihre seltsame Lichtshow und wer weiß was noch alles veranstaltet, will ich weder dich noch Eleanor, noch meine Mutter in der Nähe haben.«

Ember nahm ihre Hände von der Schachtel und hob sie vor ihre Brust.

»Entspann dich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nichts macht, bis ich es öffne.«

»Ja, das ist beruhigend«, entgegnete Ember nicht sonderlich überzeugt.

Der Aufzug rüttelte ein wenig, als er das Erdgeschoss erreichte, dann zog Cheyenne Ember heraus und in die Großküche. Eleanor stand am Herd über einem kochenden Wasserkessel und schenkte den Mädchen ein kurzes, abgelenktes Lächeln über ihre Schulter. »Ich bin gleich da. Ich koche gerade den Tee.«

»Kein Problem. Wir sind noch nicht weg.« Cheyenne führte ihre Freundin an der Seite der Küche entlang und durch die Schwingtüren in den offenen Flur, der an der Seite des Hauses entlanglief. »Okay. Schaffst du es von hier aus?«

»Ich arbeite noch an super engen Räumen.« Ember griff nach den Rädern ihres Stuhls und nickte. »Davon gibt es hier nicht viele.«

»Gut. Ich bin gleich wieder da.« Cheyenne machte sich auf den Weg zur Haustür, drehte sich um und zeigte auf den Schoß ihrer Freundin. »Verlier das Kästchen nicht. Es ist sehr wichtig.«

Embers Augen weiteten sich und sie betrachtete die Kiste mit dem Drowerbe in ihrem Schoß, als die Halbdrow hinaustrat und die Tür schnell hinter sich schloss.

* * *

Cheyenne hielt kurz inne, um die frische Morgenluft tief einzuatmen, dann schüttelte sie den Kopf. Es ist noch zu früh für eine große Portion FRoE-Attitüde.

Sie joggte die breite, geschwungene Steintreppe am Eingang des Hauses hinunter, dann ging sie um den Vorgarten herum und die andere Treppe hinunter in den Garten. Als sie unter dem vorspringenden Balkon der Veranda hervortrat, spürte sie, wie sich der Blick ihrer Mutter auf sie richtete. Cheyenne drehte sich nicht um und schaute nicht auf. Gib ihr genug Zeit und sie wird darüber hinwegkommen – solange die Jungs ihren Job machen und für ihre Sicherheit sorgen.

Rhynehart und sein Team waren aufgestanden und einsatzbereit, obwohl einige von ihnen noch im Gras saßen und ihre Blechbecher mit Instantkaffee füllten. Der tragbare Campingkocher oder was auch immer sie benutzt hatten, war bereits weggeräumt worden. Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn einer von ihnen einen Feuerball in der Hand angezündet und ihn stattdessen benutzt hat .

»Wie läuft’s hier draußen?«

Rhynehart drehte sich um und schaute nicht mehr auf das derzeit inaktive Portal, sondern auf sie. »Dir auch einen guten Morgen.«

»Das ist er nicht, wirklich. Ich will nur sichergehen, dass er nicht noch schlimmer wird.«

Er zeigte auf die schwarzen Säulen aus zerklüftetem, glitzerndem, schwarzem Stein, die eine gerade Linie vom kleinen FRoE-Lager zum Wald bildeten. »Ziemlich unmöglich, findest du nicht?«

»Solange du und deine Leute alles zurückhalten, was durch dieses Ding kommen könnte, damit es nicht das Haus oder meine Mutter erreicht, sehe ich das als weniger schlimm an.«

»Nun, dann kannst du ja deinen Bericht abgeben, Halbdrow.« Rhynehart hob eine Augenbraue. »Hier ist es mucksmäuschenstill, seit wir hier sind.«

Cheyenne schaute zu den Spitzen der Steinsäulen hoch. »Keine blinkenden Lichter?«

»Nö.«

»Okay. Das heißt aber nicht, dass es nicht trotzdem passieren wird.«

»Mädchen, ich weiß, was ein Portal ist, zumindest die Art, die ich in den Reservaten zu regulieren pflege. Was ich nicht weiß, ist, wie das Ding hierher gekommen ist.«

Die Halbdrow schüttelte den Kopf. »Ich wünschte wirklich, ich hätte eine Antwort für dich.«

Rhynehart drehte sich wieder um und betrachtete sie diesmal länger als zwei Sekunden. Seine finstere Miene blieb, aber sein irritierter Blick hatte sich in Verständnis aufgelöst. »Wir werden hier ausharren, bis wir den Befehl zum Zusammenpacken und Fahren bekommen. Ich habe das Gefühl, dass das noch eine Weile dauern wird.«

»Ja, ich auch.« Cheyenne untersuchte noch einmal den Portalkamm, dann begegnete sie dem Blick des Mannes und nickte. »Danke, dass du hier bist.«

»Es ist mein Job. Sonst wäre ich es nicht.«

»Genau. Ich weiß.« Sie nickte den Agenten zu, die sich hinter ihrem Teamleiter versammelt hatten. Einige von ihnen sahen auf und erwiderten ihren Gruß mit einem kurzen Nicken. Die meisten kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten. »Ruf mich an, wenn sich etwas ändert. Ich weiß, dass ihr meine persönliche Nummer habt, also macht euch nicht die Mühe, nach dem Dinosaurier-Handy zu fragen, das ihr mir gegeben habt.«

Rhynehart schmunzelte. »Wenn hier oben etwas passiert, erfährst du es als Erste. Nachdem ich die Anrufe getätigt habe, die ich machen muss, um meinen Job zu behalten. Befehle und so weiter.«

»Sicher.« Die Halbdrow drehte sich um, um über den Rasen zu gehen, hielt inne und schaute ihn noch einmal an. »Viel Glück.«

»Ja.« Rhynehart verschränkten seine Arme, schniefte und blickte auf den Portalkamm.

Mit einem kurzen Nicken schlenderte Cheyenne zurück zum Haus. Ihr Blick schweifte kurz zu der breiten Fensterwand im zweiten Stock, die sich in der gleichen Linie wie die große Veranda darunter wölbte. Die Morgensonne glitzerte in den Fenstern, sodass sie im Frühstücksraum nichts sehen konnte.

Aber sie schaut zu. Das ist es, was sie tut. Sie beobachtet und wartet, aber dieses Mal kann sie nichts tun, wenn etwas passiert. Das ist das erste Mal.

Die Halbdrow eilte unter der Veranda hindurch, um das Haus herum und joggte die Treppe wieder hoch. Wenn ich es richtig anstelle, wird Mom keinen Finger rühren müssen.