Kapitel 7

V ierzig Minuten später parkte Cheyenne den Panamera neben der langen Reihe schwarzer FRoE-Jeeps, Vans und Nutzfahrzeuge auf dem Gelände. Trotz ihrer Gründe, hierher gerufen worden zu sein, musste die Halbdrow schmunzeln, als sie den Knopf für die automatische Verriegelung am Schlüsselanhänger drückte und ihr Auto dieses leise, hohe Piepen von sich gab. Es sind die kleinen Dinge .

Sie schlenderte auf die Eingangstür zu und war nicht überrascht, dass die Lobby leer war. Als sie nach rechts auf den kurzen Flur zuging, der in den Gemeinschaftsraum führte, räusperte sich jemand zu ihrer Linken und ließ sie innehalten.

Sheila stand in ihrer vollen zwei Meter großen Ogerpracht da, ihr gelber Haarschopf hing zwischen ihren Augen herunter, bis sie ihn beiseite warf. »Hier entlang.«

»Gut.« Cheyenne warf einen letzten Blick auf den leeren Flur und den beunruhigend stillen Gemeinschaftsraum, dann durchquerte sie die Lobby mit den leeren Kabinen und folgte ihrer scheinbaren Anstandsdame durch die Basis. »Wir treffen uns doch nicht im Schulungsraum, oder?«

Sheila warf ihr einen Seitenblick zu und lächelte. »Er würde keine zehn Sekunden mit dir in einer Gummizelle überleben.«

»Das habe ich mir gedacht.« Sie gingen schnell den Flur hinunter und Cheyenne schielte zu den geschlossenen Türen des Trainingsraums, als sie daran vorbeikamen. Ich will da sowieso nicht noch mal eingesperrt werden .

Die Ogerfrau führte sie durch weitere Gänge des riesigen FRoE-Geländes und an einer langen Reihe kleinerer Büros vorbei, bis sie an einer Doppeltür am Ende des Flurs anhielten. »Es wird schneller gehen, wenn du ihnen einfach sagst, was sie wissen wollen.«

Cheyenne breitete ihre Arme aus. »Ich bin ein offenes Buch.«

Sheila warf einen Blick an die Decke, bevor sie beide Türen auf einmal öffnete. Sie trat ein und hielt die eine Tür auf, damit Cheyenne hindurchgehen konnte, während die andere neben ihr wieder zuschwang. Dann machte die Ogerfrau zwei schnelle Schritte zur Seite und stellte sich an die Wand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, sodass sie der Haltung von Rhynehart unheimlich ähnlich sah.

Die Halbdrow schaute auf den riesigen Konferenztisch, der den größten Teil des Raumes einnahm. An ihm saßen vier FRoE-Beamte, die sie noch nicht kannte und natürlich war auch Sir dabei. Er blickte zu ihr auf und strich sich mit der Hand über seinen geschniegelten Schnurrbart, bevor er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und die Arme verschränkte. »Setz dich schon mal hin, damit wir es hinter uns bringen können.«

Die andere Tür schloss sich leise hinter ihr und sie blickte Sheila an. Die Ogerfrau blickte starr geradeaus und bewegte sich nicht. Ohne ein Wort zu sagen, setzte Cheyenne sich auf den leeren Stuhl am Kopfende des Tisches und musterte die Gesichter und Hände der vier anderen Beamten. Keine Ringe. Keine Masken. Sie sind alle Menschen und stehen an der Spitze der FRoE-Kette. Da haben wir es.

Eine Frau mittleren Alters mit langen, kastanienbraunen Haaren, die zu einem festen Dutt gebunden waren, nickte der Halbdrow zu. »Danke, dass Sie gekommen sind, Cheyenne.«

Cheyenne warf einen Blick auf Sir, dessen finsterer Blick sich kein bisschen verändert hatte. »Kein Problem.«

Die Frau nannte weder ihren eigenen Namen noch die der anderen Beamten, die mit ihnen zusammensaßen, bevor sie nach einem Aufnahmegerät in der Mitte des Tisches griff und es zu ihr schob. Sie machte eine große Show daraus, sich zu vergewissern, dass Cheyenne das Gerät sah, dann drückte sie einen Knopf und faltete die Hände in ihrem Schoß.

»Ist Ihnen bewusst, dass dieses Gespräch aufgezeichnet wird?«

Die Halbdrow schaute stirnrunzelnd auf das Gerät. »Ja.«

»Sind Sie damit einverstanden, dass das Gespräch, das wir gleich führen werden, aufgezeichnet wird?«

Mit einem Blick auf Sir biss sich Cheyenne auf die Unterlippe und machte es sich in ihrem Schreibtischstuhl bequem. Er hält sich an die Regeln, denn dieses Mal steht sein Arsch auf dem Spiel. »Ja.«

»Danke. Bitte nennen Sie Ihren Namen.«

»Cheyenne Summerlin.«

»Sagen Sie uns, was Sie über L’zar Verdys wissen.«

Die Halbdrow schmunzelte, setzte aber schnell wieder eine ernste Miene auf. »Sie müssen schon ein bisschen genauer sein.«

Sir schlug mit der Faust auf den Tisch und erntete dafür missbilligende Blicke von den anderen Beamten. Er räusperte sich und beugte sich vor. »Du weißt verdammt gut, was wir hören wollen.«

Cheyenne begegnete seinem Blick und hielt ihn fest. »Ich weiß, dass er mein Vater ist und ich weiß, dass er die letzten, ich weiß nicht, fünfzig Jahre im Chateau D’rahl gefangen war …«

Die Frau, die sie befragte, schaute langsam von Sir zu Cheyenne. »Fünfundsiebzig, um genau zu sein. Er wurde zu hundert Jahren Haft im Zellenblock Alpha verurteilt. Weißt du, dass L’zar Verdys, auch bekannt als Häftling 4872, aus seiner Zelle in derselben Hochsicherheitseinrichtung verschwunden ist?«

»Sie meinen, dass er entkommen ist?«

Die anderen Beamten bewegten sich unruhig auf ihren Stühlen. Sir ballte seine Faust noch fester auf dem Tisch und Cheyennes Drowgehör registrierte das für alle anderen unhörbare Knacken seiner Knöchel.

»Sind Sie sich der Situation bewusst, Miss Summerlin?«

»Ja, bin ich. Major Carson hat mich heute Morgen angerufen, um es mir zu sagen.«

Die Augen der Beamten weiteten sich, als sie hörten, wie Sirs richtiger Name genannt wurde und dass er eine unbeteiligte dritte Partei wegen solch geheimer Informationen angerufen hatte.

Sieht so aus, als ob noch jemand Geheimnisse hat .

Sirs Gesicht färbte sich dunkelrot, sein Schnurrbart zuckte und seine wachen Augen verließen das Gesicht der Halbdrow nicht.

Die Frau mit dem kastanienbraunen Dutt räusperte sich. »Wissen Sie, wo L’zar Verdys gerade ist?«

Er könnte überall sein. Cheyenne begegnete dem Blick der Frau und schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Blödsinn«, zischte Sir.

»Major.« Ein Blick der Frau genügte und Sir lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück.

Sir hat seinen eigenen Sir. Schau mal einer an.

»Miss Summerlin, hatten Sie in den letzten Wochen außerhalb Ihrer genehmigten Besuche im Chateau D’rahl irgendeinen Kontakt zu L’zar Verdys?«

»Ja.«

Die Sitze wurden noch mehr verschoben. Die drei Beamten tauschten aufgeregte Blicke aus und Sirs Augen verengten sich noch mehr, sodass er aussah, als würde er gleich niesen müssen.

»Wo und wann waren diese Vorfälle?«

Cheyenne rümpfte die Nase und breitete die Arme aus. »Das wird Sie vielleicht überraschen, denn keiner von Ihnen hat Bekanntschaft mit anderen Drow gemacht, nehme ich an. Eine von L’zars vielen liebenswerten Eigenschaften ist seine Fähigkeit, in meinem Kopf aufzutauchen. Dort habe ich ihn gesehen.«

Sir sprang von seinem Stuhl auf. »Wir machen keine Witze, Halbblut!«

»Ich auch nicht«, murmelte Cheyenne.

»Ich schwöre bei Abe Lincoln, Cheyenne, wenn du nicht aufhörst mit dem Scheiß …«

»Major Carson.« Die Frau erhob kaum ihre Stimme und Sir sah die entgeistert an.

»Sie hat uns gerade erzählt, dass der Drow in ihrem Kopf mit ihr spricht. Glauben Sie das wirklich?«

Die Frau schaute Cheyenne an, legte den Kopf schief, schob einen Finger in Richtung des Aufnahmegeräts und hielt es an. »Ich habe meine ganze Karriere damit verbracht, Zeugen und Verdächtige zu befragen, Major, sowohl menschliche als auch magische. Ich bin verdammt gut darin geworden, eine Lüge zu erkennen, noch, bevor sie ausgesprochen wurde.«

Sir sah finster drein und sein Schnurrbart sträubte sich vor seinen Nasenlöchern. Cheyenne musste sich an der Nase kratzen, nur weil sie ihn ansah.

»Das kann nicht sein«, murmelte er.

»Wirklich?« Die Frau blinzelte langsam und hob ihr Kinn zu ihm. »Bis 1999 war es nicht möglich, dass ein Insasse aus dem Chateau D’rahl ausbricht. Bis gestern war es auch nicht möglich, dass ein neues Grenzportal mitten in Henry County oder irgendwo sonst auf der Welt auftaucht. Für die Mehrheit der Menschen in dieser Welt sind Magie und andere Reiche nicht möglich und werden es auch nie sein. Solange Sie keine Beweise haben, die Miss Summerlins Behauptungen direkt widerlegen, Major, schlage ich vor, dass Sie sich hinsetzen und den Mund halten. Verstanden?«

Der Mann schluckte heftig, schniefte und nickte der Frau steif zu. »Ja.« Dann setzte er sich hin und krallte seine Finger in die Armlehnen des Stuhls. Das protestierende Ächzen des Holzes in seinem Griff war laut genug, dass es jeder hören konnte.

Cheyenne blickte auf die Mitte des Tisches, um ihn nicht noch mehr zu provozieren, weil ihr Lachen aus ihr herauszubrechen drohte. Sieht so aus, als bekäme heute jeder seine eigene Medizin zu schmecken. Ich darf mittendrin sein .

»Können wir jetzt weitermachen?«

Die Halbdrow spürte den Blick der Frau auf sich und nickte einmal. »Sicher.«

Die Aufnahme wurde fortgesetzt. »Miss Summerlin, halten Sie derzeit den magischen Geflüchteten L’zar Verdys in Ihrer Wohnung in den Pellerville Gables Apartments fest?«

Cheyenne schaute sie an und hob eine Augenbraue. »Auf keinen Fall.«

»Waren Sie in irgendeiner Weise an der Flucht von L’zar Verdys aus Chateau D’rahl beteiligt?«

»Nein.«

»Vielen Dank. Für die zukünftige Verwendung dieser Aufzeichnung versichern Sie bitte, dass alles, was Sie uns heute Morgen gesagt haben, nach bestem Wissen und Gewissen der Wahrheit entspricht.«

»Das tut es.«

Die Frau faltete ihre Hände auf dem Tisch und rückte ihren Sitz zurecht. »Ich bin geneigt, Ihnen zu glauben, Miss Summerlin. Jetzt würde ich gerne zu einem etwas anderen Thema übergehen. Erzählen Sie uns von dem neuen Portal auf dem Summerlin-Anwesen. Dort sind Sie aufgewachsen, wenn ich mich nicht irre.«

»Ja.« Das wird einfach sein. »Ich war gestern Abend bei meiner Mutter zu Besuch und das Portal schoss einfach aus dem Boden.«

Sir schnaubte und verschränkte die Arme, sagte aber kein Wort.

»Gab es irgendeine Art von Warnung vor diesem Ereignis?«

»Ein Erdbeben. Und einen Haufen blinkender Lichter.«

»Und gab es irgendeine Form von Magie, bevor das neue Portal erschien?« Die FRoE-Angestellte schüttelte den Kopf und suchte nach den Worten. »Gab es Zaubersprüche oder Beschwörungen? Irgendetwas, das schiefgelaufen sein könnte?«

Die Halbdrow runzelte die Stirn. »Ich nehme an, Sie wissen das genauso wie alles andere, aber ich muss es trotzdem erwähnen. Sie wissen, wer meine Mutter ist, oder?«

»Ja, Miss Summerlin. Ich bin mir Ihrer familiären Verbindungen bewusst.«

Cheyennes Lachen war humorlos. »Bianca Summerlin würde ihre Ellbogen auf den Tisch legen, bevor sie jemanden auch nur das Wort ›Magie‹ sagen lassen würde. Es gab keine Zaubersprüche oder Beschwörungen. Wir waren mitten beim Essen, da gab es ein Erdbeben und dann schossen die riesigen, schwarzen Felsnadeln aus dem Boden. Soweit ich weiß, war das ein Zufall.«

»Natürlich.« Die Frau neigte den Kopf und deutete in Sirs Richtung. »Major Carson hat uns informiert, dass er ein Team seiner Top-Agenten zum Haus Ihrer Mutter in Henry County geschickt hat, um dieses neue Portal zu überwachen, das im Grunde die Ursache für die Gründung dieser Organisation ist. Haben Sie zwischen dem Auftauchen des Portals und der Ankunft unserer Agenten auf dem Grundstück irgendwelche Personen durch das Portal gehen sehen?«

»Nein.« Cheyenne leckte sich über die Lippen und begegnete jedem Augenpaar, das sie anschaute. »Aber etwas anderes kam durch.«

Sir setzte sich in seinem Stuhl noch aufrechter hin.

»Was zum Beispiel?«

»Ich habe keine Ahnung, wie ich sie nennen soll.« Die Halbdrow zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nur ein Haufen dunkler Gestalten. Sie versuchen durchzukommen und schlagen auf alles ein, was sich bewegt, glaube ich. Wenn Sie einige der O’gúleesh in den Reservaten fragen, werden sie Ihnen sagen, dass diese Dinger nur zwischen den Portalen existieren. Das ist ein Teil der Überquerung, schätze ich – an ihnen vorbeizukommen.«

»Haben Sie die Überfahrt selbst gemacht?«

»Nein.« Es ist besser, es dabei zu belassen, wenn sie Lügen wirklich riechen kann. »Aber ich habe gestern Abend im Garten meiner Mutter gegen eins dieser Dinger gekämpft, die aus dem Portal kamen. Es sollte nicht in der Lage sein, das zu tun.«

»Nein, das sollte es nicht.« Die Frau musterte die drei namenlosen Männer am Tisch, die intensive Blicke austauschten, um unausgesprochene Entscheidungen zu treffen. »Ich denke, wir haben alles, was wir von Ihnen brauchen, Miss Summerlin. Ich bin mir sicher, dass es sich von selbst versteht, aber wenn Sie noch mehr dieser Portale entdecken, informieren Sie bitte Major Carson. Wir müssen die Sache so lange wie möglich unter Verschluss halten, bis wir wissen, was los ist.«

»Klar. Ich halte ihn auf dem Laufenden.«

Die vier Beamten erhoben sich von ihren Stühlen und die Frau griff nach dem Aufnahmegerät, um es in ihre Tasche zu stecken. »Vielen Dank für Ihre Zeit, Miss Summerlin. Major.«

Sir stand ebenfalls auf, drückte seine Fingerspitzen auf den Tisch und nickte, als er beobachtete, wie sich seine Vorgesetzten schnell und ruhig aus dem Raum entfernten. Sobald sich die Türen hinter ihnen schlossen, blickte er Cheyenne mit einem wutentbrannten Blick an. »Du hältst mich auf dem Laufenden, ja?«

»Es sei denn, Sie wollen nicht, dass ich das tue.« Die Halbdrow machte sich nicht die Mühe aufzustehen. »Wollten Sie damit etwas beweisen?«

»Wolltest du das?« Er atmete scharf durch die Nase ein und sein Kopf bebte, als er sich wieder unter Kontrolle brachte. »Ich glaube nicht eine Sekunde lang an deinen Drow-Telepathie-Blödsinn. Aber wenn du noch ein Portal siehst, hörst oder riechst, Halbblut, dann denkst du besser als Erstes an mich. Dann können wir alle so tun, als würdest du L’zar nicht irgendwo in einem Schuhkarton verstecken.«

Cheyenne runzelte die Stirn und ließ ihren Kopf zurück gegen den Stuhl fallen. »Okay.«

Er zischte und trat gegen den rollenden Schreibtischstuhl. Dann musste er ihn aus dem Weg ziehen, um zu den Türen zu gelangen. »Hau ab von meiner Basis.«

Der Mann schlug mit der Hand gegen eine der Doppeltüren und stieß sie auf, bevor er auf dem Flur verschwand.

Die Halbdrow rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, dann drehte sie sich um und sah Sheila an. »Ich glaube, das lief ziemlich gut.«

Die Ogerfrau sah blinzelnd auf die gegenüberliegende Wand und ließ dann ihren Blick zu der Halbdrow schweifen, die auf dem Stuhl saß. Ein kleines Lächeln hob einen ihrer Mundwinkel. »Du hast ein gutes Verhandlungsgeschick, Drow.«

»Ich weiß, oder? Es ist erstaunlich, dass ich es noch nicht aufgebraucht habe.« Cheyenne schob sich aus dem Stuhl und steckte ihre Hände in die Gesäßtaschen. »Ich kann mich selbst hinausbegleiten, wenn du irgendwo anders sein musst.«

»Nur hier«, antwortete Sheila und lachte. »Ich werde nämlich noch ein paar Minuten hier abhängen, bis Hurrikan Sir vorbei ist.«

Mit einem leisen Lachen nickte Cheyenne und ging durch den Raum. »Gute Idee. Wir sehen uns.«

»Ja.«

Die Halbdrow stieß die Tür auf und trat in den Flur. Es war genauso ruhig wie vorhin, als Sheila sie hierhergeführt hatte, aber zwei Sekunden später krachte etwas gegen die Wand in einem Büro zu ihrer Rechten, gefolgt von Sirs wütendem Gebrüll: »Verdammt noch mal!«

Japp. Perfekter Zeitpunkt, um hier zu verschwinden.