Kapitel 9

S o viel kann ich dir zumindest sagen. Jeder in Ambar’ogúl kennt deinen Drowvater als Scharlatan und Witzbold, einen der größten O’gúl-Diebe, der sich einen Namen gemacht hat, bevor er für seine Verbrechen den Kopf verlor. Die Prophezeiung, die er so lange zu widerlegen versuchte, war nicht die erste, für die er bezahlt hat. Ich bin mir sicher, dass es nicht die letzte sein wird und soweit ich weiß, waren alle anderen genauso düster und erschütternd.« Maleshi runzelte die Stirn und schloss kurz die Augen, als die Erinnerungen langsam an die Oberfläche kamen. »Wenn er nicht schon vorher ein bisschen verrückt war, als er versuchte, die letzte Prophezeiung rückgängig zu machen, dann ist er es jetzt ganz sicher, nachdem er sie mit dir gebrochen hat. Wie soll jemand den Verstand bewahren, wenn er Hunderte von Jahren damit verbracht hat, einen Erben zu zeugen und sich um ihn zu kümmern, dem prophezeit ist, seine Prüfungen nicht zu überleben?«

»Ja, das klingt unmöglich.« Dutzende seiner Kinder sterben zu sehen, obwohl er schon wusste, dass sie sterben würden. Definitiv ein Rezept für Verrücktheit .

»Na ja.« Maleshi seufzte. »Andererseits ist es nicht das erste Mal, dass er das Unmögliche möglich macht. Du bist seine Erbin, Cheyenne, ob es dir gefällt oder nicht. Du hast deine Prüfungen bestanden und lebst noch.«

Die Halbdrow blickte finster auf ihren Rucksack und die Kiste mit dem Vermächtnis. »L’zar hat nichts damit zu tun. Ich habe es möglich gemacht.«

»Das ist mein Punkt. L’zars Prophezeiung hat sich zerschlagen, weil er nichts getan hat. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er das geahnt hat und sich deshalb so lange in diesem Gefängnis einsperren ließ.« Maleshi breitete ihre Arme aus. »Ich hoffe nur, er hat seine Lektion gelernt.«

»Er scheint nicht der belehrbare Typ zu sein.«

Die Nachtpirscherin hob die Augenbrauen. »Das ist er nicht und deshalb hätte er hinter Gittern bleiben sollen, bis wir die Sache mit dem anderen Portal in den Griff bekommen haben.«

»Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg.« Cheyenne musterte Maleshis grün schimmernde Augen, die sich jetzt interessiert verengten. »L’zar hält sich vorerst im Lagerhaus versteckt. Denke ich.«

»Das sollte er auch.«

Die Halbdrow lachte. »Aber wer weiß das schon? Ich war heute Morgen dort. Anscheinend haben sie den Kerl gefunden, der die O’gúl- und die Erdtechnologie miteinander verknüpft hat, also sollten sie zumindest damit beschäftigt sein.«

»Sie haben ihn gefunden.« Maleshi fing wieder an zu lächeln. »Ich bin mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass L’zar sich einen Dreck um dieses kleine Teil unseres Puzzles schert. Er ist nur auf dich fixiert. Ich hingegen würde wirklich gerne hören, was sie dir erzählt haben.«

»Nicht viel.« Cheyenne schüttelte den Kopf und versuchte, nicht über den niedergeschlagenen Blick zu lachen, der den Eifer der Nachtpirscherin erstickte. »Sie hatten einen schuppigen Kerl an einen Stuhl gefesselt, als ich aufgetaucht bin. Sie haben ihn in einen Schrank gesteckt und mir gesagt, sie würden den Rest herausfinden.«

»Nun, das ist frustrierend.«

»Ja. Genauso wie von all den magischen Wesen, die den verrückten Drow zu ihren eigenen Zwecken verfolgen, abgewiesen zu werden. Was auch immer sie herausfinden, ich bin mir nicht sicher, ob sie es mir sagen werden.«

»Sie werden es dir sagen, Cheyenne.« Maleshi nickte langsam und die kalte, harte Intensität von Generalin Hi’et kehrte in ihre Gesichtszüge zurück. »Du verdienst es, genauso viel zu wissen wie alle anderen, wenn nicht noch mehr. Wenn sie das noch nicht begriffen haben, musst du sie eben dazu bringen, es dir zu sagen.«

Cheyenne lehnte sich von ihrer alten Professorin weg und hob eine Augenbraue. Die Kampfeslust steht ihr förmlich ins Gesicht geschrieben, selbst mit diesem Illusionszauber. »Ich werde nicht anfangen, die Leute zu verhören, die versuchen, mir zu helfen.«

»Was?« Maleshi lachte. »Wer hat etwas von Verhören gesagt? Nur ein paar gute Schläge mit deiner Magie, Mädchen und sie werden es kapieren.«

»Verdammt. Wenn du so mit mir geredet hättest, als ich zum ersten Mal hierhergekommen bin, um deine Hilfe in Anspruch zu nehmen, wäre ich nicht zurückgekommen.«

»Gut, dass ich weiß, wie ich mein Blatt spielen muss, nicht wahr?« Die Nachtpirscherin blinzelte. »Danke, dass du vorbeigekommen bist, um mir das besondere Drow-Schmuckstück zu zeigen, das du endlich aufbekommen hast, aber du musst dir nicht die Mühe machen, an deinen freien Tagen vorbeizukommen, um mich zu informieren. Ich denke darüber nach, dem Lagerhaus selbst einen kleinen Besuch abzustatten.«

»Um den schuppigen Kerl zu verhören?«

»Ha. Wäre das nicht ein Spaß?« Schmunzelnd ließ sich Maleshi langsam wieder auf ihren Stuhl sinken. »Um ehrlich zu sein, würde ich das Angebot nicht ablehnen, aber ich muss noch ein oder zwei Prophezeiungen klären. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich dabei ein wenig Hilfe brauche.«

»Du siehst nicht gerade glücklich über diesen Teil aus.«

»Ich wurde in einen Krieg zurückgesaugt, den ich vor Jahrhunderten hinter mir gelassen habe, Cheyenne. Absichtlich. Wenn ich nicht glücklich darüber aussehe, ist das so, weil ich es nicht bin.«

Die Halbdrow kniff die Augen zusammen und musterte die Nachtpirscherin von oben bis unten. »Weil du zu Corian gehen musst, um Hilfe zu holen, richtig?«

Maleshi starrte sie direkt an. »Das ist einer der Gründe, sicher.«

»Was ist eigentlich zwischen euch beiden passiert?«

»Genug. Nichts, was in Mattie Bergmans Büro besprochen werden muss, vielen Dank.«

Cheyenne hob entschuldigend ihre Hände. »Ich bin nur neugierig.«

»Du kannst so neugierig sein, wie du willst. Ich werde heute nicht mit dir durch meine Erinnerungen wühlen.«

»Kein Problem.« Cheyenne machte einen weiteren Schritt zurück und griff wieder nach dem Gurt ihres Rucksacks. Ich könnte mich hier drin behaupten, wenn ich es zu weit treiben würde. Aber es ist der falsche Ort und die falsche Zeit. »Kannst du mir wenigstens sagen, was du über die seltsame Prophezeiung herausgefunden hast, die du von Gúrdu gekauft hast?«

Maleshis Augen verengten sich noch mehr, dann lachte sie. »Ja, du bist nur neugierig.«

»Ich kann nicht anders.« Die Halbdrow lachte. »Es war unheimlich.«

»Ja, das war es.« Die Generalin und Professorin atmete tief durch und setzte sich wieder in ihren Stuhl. »Das meiste habe ich schon selbst herausgefunden. In der Prophezeiung war auf Umwegen von den neuen Portalen die Rede. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Krone etwas damit zu tun hat, aber nicht absichtlich. Sie hat die Lieferungen durch das neue Portal geschickt, das wir gefunden haben, aber ich wette, dass das ein glücklicher Zufall war. Sie hat es gefunden und genutzt.«

»Nun, es ist schon eine Weile da.«

Maleshi runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf?«

Mist. Ich kann nicht versprechen, Geheimnisse zu bewahren und dann so etwas sagen. »Ich habe irgendwo etwas darüber gehört.«

»Aha. Es ist doch egal, wie lange es sie schon gibt, wenn neue in den Hinterhöfen zurückgezogen lebender Menschen auftauchen, oder?« Maleshi lehnte sich seitlich in die Armlehne ihres Stuhls. »Im Grunde sieht es so aus, als ob der sich ausbreitende Wahnsinn der Krone in Ambar’ogúl keinen Platz mehr hat und auf die Erde überschwappt. Ich glaube nicht, dass die Krone weiß, wie direkt die beiden Welten miteinander verbunden sind. Jedenfalls noch nicht.«

»Wenn ja, ist es ihr egal.«

»Hmm.« Maleshi schenkte der Halbdrow ein schmallippiges Lächeln. »Du redest langsam wie ein O’gúleesh, der gesehen hat, was auf der anderen Seite passiert.«

Cheyenne breitete ihre Arme aus. »Camouflage.«

»Sehr lustig.«

»Was ist mit dem Rest der Prophezeiung?«

»Was ist damit?«

Cheyenne legte den Kopf schief und wirbelte eine Hand in der Luft herum. »Der Teil mit dem Herausschneiden des Herzens und der Fäulnis. Das Schicksal oder die Ketten. ›Blut verbindet sich mit Blut‹ war auch dabei und den Teil habe ich schon mal gehört.«

»Du lässt dir nicht zu viel entfallen, oder?«

Die Halbdrow lächelte. »Ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis. Das habe ich meiner Mutter zu verdanken.«

Mit einem Schnauben nickte die Nachtpirscherin. »Das ist ein bisschen tiefer, als ich gehen kann.«

»Aber du glaubst, du weißt, was es bedeutet, nicht wahr?«

»Vielleicht. Deshalb brauche ich ein zusätzliches Nachtpirschergehirn, das mir hilft, es herauszufinden.«

Cheyenne runzelte die Stirn. »Vielleicht kann ich helfen. Bevor ich den Anhänger hatte, hatte ich viele verrückte Träume, in denen mir alle möglichen Prophezeiungsteile entgegengeschrien wurden.«

»Ich habe bemerkt, dass du ihn nicht mehr trägst.«

»Er hat aufgehört zu funktionieren, meistens. Du wechselst das Thema.«

»Ich habe das Recht, das Thema zu wechseln, wenn ich über etwas nicht reden will.« Maleshi beugte sich vor und schüttelte sarkastisch den Kopf. »Verstehst du den Wink mit dem Zaunpfahl oder muss ich härtere Maßnahmen ergreifen?«

Cheyenne warf der Frau einen Seitenblick zu und schürzte ihre Lippen. »Du wirst mich nicht in deinem süßen, kleinen Büro als Uni-Professorin bekämpfen.«

»Natürlich nicht, aber ich kann dich fast überall finden und ich habe meine Portalkünste aufgefrischt.«

»Genau.« Die Frauen sahen einander mit eisernem Blick an, aber als sich Maleshis Mundwinkel zu einem Grinsen verzogen, musste Cheyenne sich zusammenreißen, um nicht ebenfalls zu lachen. »Okay, gut. Sprich zuerst mit deinem Nachtpirscher-Kumpel aus einem früheren Leben darüber, aber ich will wissen, was ihr euch ausgedacht habt. Zwingt mich nicht, es aus euch rauszuquetschen.«

Maleshi lachte kurz auf. »Mein eigener Ratschlag kommt zurück, um mich in den Hintern zu beißen. Das passiert in letzter Zeit öfter.«

»Hey, gut zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin.« Mit einem letzten Blick ins Büro holte Cheyenne tief Luft. »Sonst noch was?«

Ein leises, zaghaftes Klopfen ertönte an der Tür. Beide blickten schnell in die Richtung und Maleshi räusperte sich. »Es ist offen.«

Ein Junge in einem geknöpften, karierten Hemd, mit einer wahnsinnig dicken Brille und einem echten Taschenschützer mit zwei glitzernden Stiften spähte durch die Tür, als er sie öffnete. Seine Augen weiteten sich, als er Cheyenne sah und er überlegte, ob er die Tür noch weiter öffnen sollte. »Ähm, Professor Bergmann?«

»Ja?« Maleshi lächelte freundlich und klimperte mit den Wimpern.

»Störe ich bei etwas?«

»Nö.« Cheyenne nickte. »Ich war auf dem Weg nach draußen. Sie gehört ganz dir.«

Der Junge drückte sich gegen die angelehnte Tür, als das Goth-Mädchen mit dem Rucksack quer durch das Büro auf ihn zuging.

»Cheyenne, warte einen Moment.« Maleshi nahm einen Stift aus dem Glas und einen Block mit Haftnotizen aus der Schreibtischschublade, kritzelte etwas auf den obersten Zettel und zog ihn ab. Sie stand schnell auf, durchquerte den Raum und schenkte dem anderen Studenten ein beruhigendes Lächeln, während sie der Halbdrow den Zettel reichte. »Nur für den Fall.«

»Klar.« Cheyenne nahm ihn an, ohne sich umzusehen, blieb dann vor der Tür stehen und wartete darauf, dass der Junge sie öffnete, damit sie die Plätze tauschen konnten. Seine Augen waren groß hinter den dicken Brillengläsern. »Ich beiße nicht.«

»Was?«

»Die Tür, Mister Thomas.« Maleshi schenkte ihm ein keckes Lächeln.

»Oh. Ähm, ja. Ähm, wie bitte?« Er stieß die Tür auf und drückte sich mit dem Rücken dagegen, als wollte er mit dem Holz verschmelzen, als Cheyenne in den Flur trat.

»Viel Glück.« Die Halbdrow zog die Augenbrauen hoch und schob sich an ihm vorbei. Maleshis leises Kichern und die gemurmelten Beteuerungen, dass ihr verängstigter Student sich nicht auf ihr Glück verlassen sollte, folgten Cheyenne durch den Flur.