Kapitel 11

A lso warte.« Ember schnappte sich die beiden leeren Behälter der Tiefkühlgerichte, die sie in ein spätes Mittagessen verwandelt hatten und stellte sie auf ihren Schoß. »Du solltest dich von der FRoE verhören lassen und dieses Arschloch, das nicht mit seinem richtigen Namen angesprochen werden will, ist derjenige, der in Schwierigkeiten geraten ist?«

Sie rollte sich durch die Küche und warf die Behälter in den Müll, während Cheyenne die Gabeln in die Spülmaschine räumte. »Ja. Ich habe auch meistens die Wahrheit gesagt. Zumindest musste ich nicht direkt lügen

Ember stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Der Typ hasst dich wirklich.«

»Oh, ja. Ich bin auch nicht sein größter Fan.«

»Wie hast du es geschafft, ihnen nicht zu sagen, wo L’zar ist?«

Cheyenne zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich, weil ich ehrlich glaube, dass er überall sein könnte. Er könnte immer noch im Lagerhaus sein. Er könnte aber auch am helllichten Tag in Washington herumlaufen, Autos von der Straße abkommen lassen und Leuten Herzinfarkte verpassen. Irgendetwas sagt mir, dass das eher sein Stil ist.«

»Oh Mann.«

Die Halbdrow drehte sich um und lachte. »Aber für diesen Drow bin ich nicht verantwortlich. Es war seine Entscheidung, aus dem Gefängnis auszubrechen und anscheinend alles zu vermasseln, was er mit Corian und den anderen vorhatte. Sie sind diejenigen, die ihr ganzes Leben diesem Kerl gewidmet haben. Ich bin nur sein Kind.«

Ember lachte laut auf. »Normalerweise würde das nicht viel bedeuten, aber ich glaube, die Umstände ändern das ein wenig, oder?«

»Nö.« Die Halbdrow lehnte sich gegen die breite Kücheninsel aus Marmor und verschränkte die Arme. »Ich habe schon mehr als genug Sorgen, ohne mich um L’zar Verdys und den ganzen Mist, in den er sich verstrickt, kümmern zu müssen. Maleshi hat ihn als einen der größten O’gúl-Diebe bezeichnet, der noch seinen Kopf auf den Schultern trägt. Wenn das stimmt, bedeutet das, dass er bei allem, was er tut, gut genug ist, um nicht erwischt zu werden.«

»Cheyenne, ich weiß nicht, ob dir das klar ist, aber wenn man aus dem Gefängnis ausbricht, muss man vorher schon mal gefasst worden sein.«

Cheyenne warf ihrer Freundin einen spielerisch verärgerten Blick zu, bevor sie ein leises Lachen ausstieß. »Ich meinte, er wird nicht erwischt, wenn er es nicht will. Was ich nicht verstehe, ist, was er in den letzten fünfundzwanzig Jahren seiner Strafe tun wollte, die eigentlich nichts bedeuteten. Auf seine Entlassung warten, damit er mich zum ersten Mal treffen kann, wenn ich sechsundvierzig bin?«

»Vielleicht hatte er immer vor, früh auszubrechen.«

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht.« Die Halbdrow schaute sich in der großen Küche um. »Aber Corian und Maleshi schienen wirklich überrascht und ein bisschen sauer zu sein, als ich ihnen erzählt habe, dass der Drow sich selbst aus dem Gefängnis befreit hat.«

»Es ist immer noch komisch, dass du sie so nennst.«

»Ich weiß, oder? Das hätte ich ihr fast ins Gesicht gesagt, als ich vorhin in ihrem Büro war. Und ja, sie ist wieder zur Arbeit gegangen.« Ember schüttelte den Kopf und Cheyenne zuckte mit den Schultern. »Aber ich glaube, du hast recht mit dem Ausbruchsplan. Ich vermute, es ist eine Mischung aus beidem. Als hätten sie bereits etwas in die Wege leiten sollen, bevor L’zar Chateau D’rahl verlässt und er war zu sehr in seinen Sieg vertieft, um noch länger auf die Entfaltung des Plans zu warten.«

»Sein Sieg?«

»Ich bin davon überzeugt, dass er das so sieht. Ich habe die Drowprüfungen bestanden, das Ding im Haus meiner Mutter vernichtet und anscheinend eine jahrhundertealte Prophezeiung widerlegt, die besagt, dass die Kinder von L’zar Verdys nie lange genug leben werden, um zu sehen, wie das alles ist. Ja, er war mächtig stolz auf sich

Ember runzelte die Stirn und rollte sich in das weitläufige Wohnzimmer, wo sie aus der langen Fensterwand schaute und die Aussicht über den Norden Richmonds genoss. »Das Einzige, was er sich zuschreiben kann, ist, dass er deine Mutter verführt hat und so lange hinter Gittern war.«

»Ja, viel Glück dabei, ihm das zu sagen.« Die Halbdrow gesellte sich zu ihrer Freundin ins Wohnzimmer und ließ sich in einen der neuen, schwarzen Ledersessel fallen. »Ich glaube, dass ich mit der FRoE verbündet bin und dass all diese neuen Grenzportale auftauchen, hat allen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es ist aber auch schwer, alles Jahrhunderte im Voraus vorauszuplanen.«

Mit einem Schnauben blieb die Fae zwischen dem Couchtisch und dem besetzten Sessel stehen und verschränkte die Arme. »In ein paar Jahrhunderten kann eine Menge passieren.«

»Stimmt. Es fühlt sich aber so an, als würde das alles gerade jetzt passieren.«

»Scheiß auf ihn.« Ember zuckte mit den Schultern. »Er hat dich einundzwanzig Jahre lang versuchen lassen, den ganzen Scheiß allein hinzukriegen. Der Typ verdient es, dass seine Pläne durchkreuzt werden.«

»Danke.« Die Halbdrow zog den Griff an der Seite des Sessels hoch, bis die Fußstütze ganz nach oben kam und sie so nah an der Horizontalen lag, wie man es in einem solchen Sessel nur tun konnte. Dann verschränkte sie beide Hände hinter ihrem Kopf und richtete ihren Blick auf die hohe Decke ihrer Wohnung. »Normalerweise würde ich ihn einfach sein Ding machen lassen und zuschauen, wie er sich zunehmend in die Scheiße reitet. Nur gibt es leider einen Portalgrat und ein Team wütender FRoE-Agenten im Haus meiner Mutter, einen Haufen alter O’gúl-Teile für Kriegsmaschinen in Persh’als Lagerhaus und natürlich die unvermeidlichen Angriffe, von denen ich weiß, dass sie immer noch auf mich zukommen. Wenn die Krone schon auf halbem Weg war, mich zu finden, bevor Corian mir den Anhänger gegeben hat, dann weiß sie auf jeden Fall, dass ich die Prüfungen bestanden habe. Weißt du was? Vielleicht musste L’zar deshalb so dringend sein Erbe finden.«

Im Wohnzimmer wurde es still und Ember legte den Kopf schief. »Den letzten Teil habe ich nicht verstanden.«

»Was?« Cheyenne setzte sich so weit auf, dass sie sich noch im Sessel ausbreiten und gleichzeitig ihre Fae-Freundin ansehen konnte. »Oh. Ich habe Neuigkeiten, Em. Die Drow-Rätselkiste hat sich geöffnet. Ich habe herausgefunden, was mein Erbe wirklich ist.«

»Echt jetzt?« Die Augen der Fae weiteten sich vor Aufregung und sie lächelte gespannt. »Was ist es?«

»Eine riesige, nutzlose Münze.«

»Ernsthaft?«

»Ja.«

Ember blinzelte, dann brach ein erschrockenes Lachen aus ihr heraus. »Das hat er sich wirklich nicht gut überlegt. Eine Münze. Er hatte keine Ahnung, wer deine Mutter war, als er sie für eine Nacht von Cheyenne-zeugen aufgesucht hat, oder?«

Die Halbdrow kicherte erst leise und brach dann in lautes Gelächter aus. Die Fae stimmte mit ein und die Freundinnen lachten unkontrolliert, bis sie beide zu atemlos waren, um etwas zu sagen.

»Oh, Mann.« Cheyenne wischte sich die Tränen von den Wangen und lehnte den Sessel wieder ganz zurück, sodass sie erneut lag. »Ich glaube, der Wahnsinn der Drow ist ansteckend.«

»Es ist nichts Verrücktes an einem guten Sinn für Humor.« Ember lachte wieder und wischte sich über die Augen. »Aber das kann doch nicht sein, oder? Dass dein Erbe nur eine Münze ist, die dir ein verrückter Dieb gegeben hat?« Sie lachte wieder.

»Anscheinend nicht.« Die Halbdrow verschränkte die Arme und blickte wieder hoch an die Decke. »Ich habe heute Morgen herausgefunden, dass das wahre Erbe, wenn wir es noch so nennen, auf der anderen Seite liegt.«

»In Ambar’ogúl?«

»Ja. Ich bin die Einzige, die es holen kann.«

»Nein. Auf keinen Fall.« Ember schüttelte den Kopf und versuchte, näher an Cheyennes Sessel heranzurücken. Der Stuhl blieb an der Kante des Couchtisches hängen und sie stöhnte genervt, wich zurück und bewegte sich in einer irritierten Dreipunktdrehung vorwärts, bevor sie sich schließlich neben den ausgefahrenen Sessel schob und direkt über dem Gesicht der Halbdrow auftauchte. »Du gehst nicht rüber, weil dir ein Verrückter, der zufällig dein Vater ist, gesagt hat, dass du das tun sollst.«

Cheyenne schluckte. »Er ist nicht der Einzige, der das gesagt hat, Em.«

»Wen kümmert es schon, was die anderen sagen? Diese Leute haben dich beobachtet und darauf gewartet, dass du irgendeine dumme Prophezeiung ganz allein brichst. Sie hätten jederzeit eingreifen können, um dir zu helfen, aber sie haben es nicht getan. Das hört sich an, als würden sie dich an die Front schicken, weil sie nicht den Mut haben, es selbst zu tun.«

»Aha. Das habe ich gemeint. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das alles ist, was ich für L’zar bin.«

Embers Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie den apathischen Gesichtsausdruck ihrer Freundin musterte. »Du gehst doch nicht dahin, oder?«

Mit einem tiefen Atemzug drehte Cheyenne langsam ihren Kopf zu ihrer Freundin und begegnete Embers Blick. »Wenn nicht so viel anderes los wäre, würde ich nicht gehen.«

»Alter. Ist das dein Ernst?«

»Ich muss es tun. Die dunkle Scheiße, die da drüben vor sich geht, sickert durch die Portale und schafft neue, weil kein Platz mehr da ist. Diese Welt, die einzige, die wir kennen, ist nur noch das Überlaufbecken.«

»Und du traust den magischen Wesen, die dich im Stich gelassen haben, zu, dass sie das alles allein bewältigen.« Embers Lippen pressten sich zusammen, dann riss sie ihren Blick von Cheyenne los und schob sich durch das Wohnzimmer. »Du willst ihnen einfach so glauben und diese Überfahrt machen, weil sie gesagt haben, dass dein Erbe auf der anderen Seite auf dich wartet?«

»Nicht nur deswegen, nein.« Cheyenne schaute wieder an die Decke, aber jetzt fühlte sich der Sessel nicht mehr ganz so bequem an. »Niemand hat es direkt gesagt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie alle denken, dass ich das, was hier passiert, aufhalten kann, wenn ich diese dumme Münze auf den O’gúl-Altar lege. Du weißt schon, riesige Portale, die aus dem Boden reißen, Erdbeben verursachen und Monster freisetzen, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.«

»Na ja, Halbwesen sollte es auch nicht geben, Cheyenne. Sollen wir dich einfach irgendwo von einer Klippe werfen und uns die Hände abwischen?«

Cheyenne schnaubte. »Das würde eine Menge meiner Probleme lösen.«

»Ich meine es ernst!«

Langsam setzte sich die Halbdrow in der Liege auf und drückte den Griff nach unten, sodass ihre Füße den Boden berührten. Als sie eine Augenbraue zu ihrer Freundin hochzog, rötete sich Embers Gesicht und sie konnte ein nervöses Lachen nicht unterdrücken.

»Ich meine, ja. Das würde deine Probleme lösen. Aber nicht die von irgendjemand anderem.«

»Ich versuche nicht, die Probleme anderer zu lösen, sondern nur meine eigenen. Ich zähle die Dinge, die aus den Portalen kommen und die Schläger der Krone, die Kriegsmaschinen auf die Erde bringen, definitiv zu meinen Problemen. Ich werde nicht einfach herumsitzen und das geschehen lassen, wenn ich etwas dagegen tun kann.«

Ember verschränkte ihre Arme. »Würde ich schon.«

»Dann ist es ja verdammt gut, dass du nicht L’zars Kind bist. Sonst wären wir alle aufgeschmissen.«

Sie sahen einander an, dann lachte Ember, lehnte sich über ihren Schoß und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. »Das war eine totale Lüge.« Ihre Stimme klang durch ihre Finger gedämpft. »Wenn ich laufen könnte, wenn ich irgendetwas anderes könnte, als in diesem blöden Rollstuhl ein bisschen zu schweben, würde ich mit dir kommen.«

Cheyenne biss sich auf die Lippe. »Ich weiß, Em. Ich würde es nicht zulassen, aber ich würde es zu schätzen wissen.«

»Wenn ich echte Faemagie hätte, könntest du mich nicht aufhalten.«

»Du hörst dich da sehr sicher an.«

Ember ließ die Hände in den Schoß fallen und sah ihre Freundin an, nachdem sie sich wieder aufgesetzt hatte. »Du hast noch nie eine vollblütige Fae in Aktion gesehen, oder?«

»Nö. Aber ich freue mich auf den Tag.«

»Dieser Plan ist Wahnsinn. Das weißt du doch, oder?«

»Nun, ja. Das ist der Plan von L’zar.«

Die Fae schüttelte den Kopf. »Wie willst du es dann machen?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich warte darauf, dass die Rebellen einen Plan schmieden und mir mitteilen.«

»Und deshalb bist du zurück in die Wohnung gekommen? Um herumzusitzen und auf einen Anruf zu warten?«

Cheyenne seufzte. »Ja, das ist genau der Grund, warum ich hier bin. Weil ich nichts Besseres zu tun habe. Keine Vorlesungen, kein Training mit einem Nachtpirscher, keine FRoE-Einsätze, bei denen mich alle hassen, aber mich trotzdem brauchen. Ich habe wirklich nichts Besseres zu tun.«

»Das müssen wir korrigieren.« Ember deutete mit einem Nicken auf die Fernbedienung, die auf dem Couchtisch lag und die Halbdrow lachte.

»Hat die Einkaufstherapie ihren Reiz verloren?«

»Binge-Watching-Therapie ist eine tolle Sache, weißt du.«

Ein lautes Summen kam aus Cheyennes Rucksack auf der anderen Seite der Couch. Stirnrunzelnd stand sie auf und betastete ihre Gesäßtasche. Nö. Ich habe mein Handy auf dem Schreibtisch liegen lassen. Sie ging um die Couch herum und seufzte, als sie das Wegwerfhandy aus der Vordertasche ihres Rucksacks zog. »Vielleicht habe ich zu früh gesprochen.«

»Ich dachte, die Jungs hätten dich immer wieder angerufen.«

»Ja, normalerweise.« Cheyenne klappte das Handy auf und sah eine Nachricht von der einzigen Nummer, die darin gespeichert war. Yurik. »Hm.«

Sie öffnete die SMS und legte den Kopf schief.

Um 18 Uhr gibt es immer noch Froyo. Das kannst du dir nicht entgehen lassen.

Cheyenne schnaubte. »Der Typ steckt im falschen Jahrzehnt fest.«

»Das braucht definitiv eine Erklärung.«

»Oh.« Die Halbdrow schaute ihre Freundin an und zuckte mit den Schultern. »Ein paar FRoE-Agenten wollten sich heute Abend mit mir treffen. In einem Paralleluniversum könnte ich sie Freunde nennen.«

»Was? Cheyenne, die Halbdrow, ist mit mehr als einer Person befreundet?«

»Du bist witzig.« Cheyenne tippte eine Antwort auf die unhandlichen, klebrigen Tasten des Klapphandys.

Ich werde da sein. D as kann ich mir wirklich nicht entgehen lassen.

Dann steckte sie das Handy zurück in die Vordertasche des Rucksacks und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

»Was bedeutet ›treffen‹, wenn wir von FRoE-Agenten sprechen, die normalerweise jedes Halbwesen, das sie finden, über die Grenze zurückschicken würden?«

Cheyenne zuckte mit den Schultern. »Das sind dieselben Typen, die mich beim ersten Mal nach Peridosh gebracht haben.«

»Oh! «

»Hey.« Ein verschmitztes Grinsen schlich sich auf den Mund der Halbdrow, als sie ihre Fae-Freundin ansah. »Willst du mitkommen?«