Kapitel 13

O kay, das war’s.« Cheyenne lehnte sich im Sessel vor und schnappte sich die Fernbedienung vom Tisch. »Wenn ich noch eine Folge über weinerliche Menschen sehen muss, die aus dem Gefängnis ausbrechen wollen, mache ich den Fernseher kaputt.«

»Zu viel?« Mit einem kurzen Lachen zeigte Ember auf den Bildschirm. »Ich verspreche, dass es nach den ersten paar Folgen besser wird.«

»Ich habe schon drei Stunden mit den ersten Folgen verschwendet.« Die Halbdrow schaltete die Serie aus und ließ den Fernseher zurück in sein Versteck in dem Tisch gleiten. »Ich spüre, wie mein Gehirn schmilzt.«

»Genau. Wir können nicht alle so wahnsinnig schlaue Hacker sein, die die Kurse ihrer eigentlichen Professoren unterrichten und nebenbei zum Spaß Kriminelle verprügeln. Normalos wie wir benötigen schließlich auch normale Hobbys.«

Lachend warf Cheyenne die Fernbedienung auf den Couchtisch und stand vom Stuhl auf. Die Ketten an ihren Handgelenken klirrten, als sie ihre Arme hoch über ihren Kopf streckte. »Du kannst deine Hobbys haben, Em. Ich bin für mindestens den nächsten Monat damit fertig, mir komische Shows anzusehen.«

»Wie spät ist es?«

»Fast halb sechs.« Cheyenne sah ihre Freundin an, hob eine Augenbraue und breitete die Arme aus. »Bist du bereit für deinen ersten Ausflug zu Richmonds eigenem unterirdischen Marktplatz? Buchstäblich.«

»Das ist eine blöde Frage. Natürlich bin ich bereit.«

»Dachte ich mir schon. Ich hole nur schnell meine Sachen.« Die Halbdrow ging die Treppe zum Mini-Loft hinauf, um ihr Handy einzupacken, das auf dem Schreibtisch lag. Kaum hatte sie es in ihre Gesäßtasche gesteckt, klopfte jemand an die Tür.

»Es ist offen«, rief Ember.

»Em!« Cheyenne zeigte über das Geländer auf sie, als sich der Türknauf drehte. »Der Ring.«

»Scheiße.« Ember kämpfte mit dem Illusionszauber an ihrem Finger, als die Tür nach innen schwang. Sie schaffte es gerade noch, ihn zu lösen, bevor Matthew seinen Kopf durch die Tür steckte und seinen Blick auf sie richtete, als das blinkende Licht des zerbrochenen Zaubers wieder verschwand. »Hey, Matthew.«

»Hey. Du hast gesagt, es sei offen.«

Cheyenne stapfte besonders laut die Metalltreppe hinunter.

Er blickte zu ihr auf und kicherte. »Deswegen dachte ich, es wäre okay, wenn ich einfach reinkomme.«

»Ja, das ist in Ordnung.« Embers Hand krampfte sich fest um den Ring, den sie in ihrem Schoß vergrub, als ob sie etwas verstecken wollte.

»Habt ihr für heute Abend Pläne?«

»Wir haben etwas vor.« Cheyenne ging an ihm vorbei und öffnete den Garderobenschrank zwischen der Haustür und der Küche. »Mensch, Em. Hast du genügend Jacken?«

»Nimm die lilafarbene.« Als sie das Wort ›lilafarbene‹ sagte, schnaubte sie und richtete ihren Blick auf ihren Schoß, als würde ihr der Illusionszauber gleich aus der fest geballten Faust entgleiten.

»Sicher.« Die Halbdrow unterdrückte ein Kichern und nahm die lilafarbene Jacke von dem Bügel, bevor sie die Schranktür schloss.

Matthew blickte mit einem verwirrten Lächeln zwischen ihnen hin und her und öffnete die Haustür ein wenig weiter. »Was für Pläne?«

Cheyenne hob Embers Jacke mit einem Finger hoch und nickte ihrem neugierigen Nachbar zu. »Wir gehen aus.«

Die Fae nahm ihre Jacke und warf Cheyenne einen warnenden Blick zu.

»An einem Dienstag?« Matthew legte den Kopf schief.

»Warum nicht?« Cheyenne schnappte sich den Kapuzenpulli, auf dessen Rückseite die weiße Hand mit dem Mittelfinger zu sehen war und zog ihn an.

»Ich muss raus«, fügte Ember achselzuckend hinzu. Dann klopfte sie auf die Armlehnen ihres Stuhls. »Ich kann nur mit diesem Ding irgendwo hinfahren.«

»Oh.« Matthews Lächeln verblasste ein wenig. »Also, ich habe nachher ein paar Freunde zu Besuch. Wenn ihr dann vorbeikommen wollt, könnt ihr das gerne tun.«

Ember setzte sich etwas aufrechter hin und lächelte. »Danke. Das klingt lustig.«

»Wenn wir Zeit haben.« Cheyenne blieb neben ihrer Freundin stehen und steckte ihre Hände in die Vordertasche ihres Hoodies. »Wer weiß, wie lang wir unterwegs sein werden?«

»Klar. Klar.« Matthews Blick fiel schnell auf Embers Faust in ihrem Schoß, die sie durch Verschränken der Arme zu verbergen versuchte. »Ihr wisst, wo ich wohne, also klopft einfach an.«

Ember lachte, bevor sie ihren großen, seltsam aufdringlichen Nachbarn von der anderen Seite des Flurs angrinste.

Die Halbdrow blickte von ihrer Freundin zu Matthew Thomas, die beide nicht in der Lage zu sein schienen, den gemeinsamen Blick zu lösen. Was ist mit den beiden los?

»Okay, gut.« Cheyenne trat hinter den Stuhl ihrer Freundin und legte die Finger um die Griffe. »Zeit zu gehen. Viel Spaß bei deiner Hausparty.«

»Ja, danke.« Matthew trat zurück in den Flur, als Cheyenne Ember aus ihrer Wohnung schob. »Den werdet ihr auch haben, wenn ihr vorbeikommt.«

»Das könnten wir.« Ember sah ihn mit einem verschmitzten Lächeln an, ihre lilafarbene Jacke in ihrem Schoß gefaltet, während Cheyenne ihre Schlüssel herauszog, um abzuschließen.

»Wenn wir Zeit haben.«

Ihr Nachbar lächelte breit. »Den Teil hattet ihr schon erwähnt.«

»Oh, gut.« Cheyenne packte den Stuhl wieder an den Griffen, nickte dem Mann zu und schob Ember den Flur hinunter. »Wir sehen uns.«

»Viel Spaß!«

»Danke.« Ember sah ihn ein letztes Mal über ihre Schulter an. Sie lachte, als sie das skeptische Stirnrunzeln der Halbdrow sah und flüsterte: »Was? Es war nett von ihm, uns einzuladen.«

Cheyenne wartete, bis Matthews Haustür wieder geschlossen wurde und ihr Nachbar auf der anderen Seite stand. »Wie viel willst du wetten, dass er mich nicht eingeladen hätte, wenn ich nicht direkt neben dir gewesen wäre?«

»Hm. Ich frage mich, warum.«

Kopfschüttelnd drückte die Halbdrow auf den Rufknopf des Aufzugs und verschränkte die Arme. »Ich bin viel netter zu ihm als zu den Leuten, die ich wirklich nicht leiden kann.«

»Aber du magst ihn auch nicht.«

»Ich weiß es nicht.« Cheyenne blickte den Flur entlang zu Matthews Haustür. »Irgendetwas ist seltsam an dem Kerl. Abgesehen davon, dass er ganz offensichtlich in dich verknallt ist.«

»Warum ist das komisch?«

»Das ist es nicht. Er macht es nur unheimlich, wenn er direkt in die Wohnung geht und dich anstarrt.« Die Fahrstuhltüren öffneten sich und Cheyenne schob ihre Freundin hinein, bevor sie den Knopf für die Lobby drückte. »Wenn ich nicht so viel anderes zu tun hätte, würde ich den Typen vielleicht nicht nur googeln.«

»Du hast ihn gegoogelt.«

»Ja. Das macht man.«

»Cheyenne.« Ember neigte ihren Kopf ganz nach hinten und sah verärgert aus. »Warum ist es so seltsam, dass jemand nett und hilfsbereit ist und zufällig etwas für deine Mitbewohnerin im Rollstuhl übrig hat?«

»Das Letzte meine ich nicht, Em. Das Seltsame ist, dass niemand nach außen hin immer so nett ist, es sei denn, er versucht insgeheim, davon zu profitieren. Er hat mich nicht ein einziges Mal angeschnauzt. Da klingeln bei mir die Alarmglocken.«

»Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass niemand eine Gothic-Tussi anschnauzen will, die aussieht, als könnte sie einem jeden Moment das Licht ausknipsen?«

Cheyenne lachte. »Natürlich tut es das. Die Leute, die ein Problem damit haben, wie ich aussehe, sind die Leute, die nichts mit mir zu tun haben wollen, auch nicht mit einer kleinen Runde bissigem Geplänkel. Das ist mir völlig egal. Aber dieser Matthew hat nicht ein einziges Mal darauf reagiert, wie ich aussehe oder was ich sage. Nichts. Es ist, als ob er einfach …«

»Nett ist?«

Die Fahrstuhltüren öffneten sich wieder im Erdgeschoss und Cheyenne zog Ember rückwärts in die Lobby. »Zu nett, Em. Zu nett, um echt zu sein.«

»Weißt du was?« Die Fae beugte sich vor, um ihre Jacke anzuziehen, als sie sich auf den Weg zur Eingangstür machten. »Ich glaube, du hast viel zu viel Zeit damit verbracht, das Verhalten deiner Mutter zu studieren.«

»Was soll das denn heißen?«

»Das bedeutet, dass du viel zynischer bist, als du zugeben willst. Oder dass man dir beigebracht hat, das Schlimmste von Menschen zu erwarten.«

Cheyenne drückte den Behindertenknopf neben der Eingangstür und wartete, bis sie sich langsam öffnete. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass du gesagt hast, du würdest die Kunst perfektionieren, keine Erwartungen zu haben.«

»Okay, nun, keine Erwartungen und das Schlimmste erwarten sind zwei verschiedene Dinge.«

»Das Ergebnis ist aber dasselbe, oder? Du bist nie enttäuscht, auch wenn du dich irrst.«

Ember sah die Halbdrow über ihre Schulter an und rümpfte die Nase. »So denkst du nicht über die Welt.«

»Vielleicht. Oder auch nicht.« Cheyenne zuckte mit den Schultern und schob ihre Freundin in Richtung des Panamera, den sie auf dem großen Parkplatz des Wohnkomplexes geparkt hatte. Das macht Moms Motto nicht weniger zutreffend. Alles hat seinen Preis. »Angenommen, er ist wirklich ein netter Mensch. Dann würde ich trotzdem sagen, dass er versucht, hiervon zu profitieren.«

»Oh, ja? Wie denn?«

Sie erreichten das Auto und Cheyenne verriegelte die Räder des Stuhls, bevor sie das Auto mit diesem perfekten, kleinen Piepen aufschloss und die Beifahrertür öffnete. »Dass er dich rumkriegt, zum Beispiel.«

»Oh mein Gott.« Ember verdrehte die Augen und stemmte sich gegen den Stuhl. »Hör auf zu reden und hilf mir ins Auto.«

»Was? Sag mir nicht, dass du das noch nicht mitbekommen hast.«

Ember lachte. »Wir werden dieses Gespräch nicht führen. Nicht jetzt.«

»Aha. Denn dann würdest du mir sagen, dass du total auf ihn stehst.«

»Muss ich mich selbst ins Auto heben?«

Cheyenne schnaubte und bückte sich, um ihrer besten Freundin ins Auto zu helfen.

* * *

Zehn Minuten vor 18 Uhr fuhr sie auf den Parkplatz am Union Hill. Als sie den Rollstuhl ausklappte und ihn neben Embers Tür festzog, sah sich Cheyenne nach einem Auto um, das aussah, als käme es direkt aus einer Zeitmaschine aus den 50er-Jahren.

Ember lachte, als sie es sich auf dem Stuhl bequem gemacht hatte. »Wen suchst du denn?«

»Ich habe dir doch von dem alten Kerl erzählt, der Spezialanfertigungen an Autos macht, oder?«

»Hier hast du ihn getroffen?«

»Ja.« Die Halbdrow schmunzelte. »Er war cool. Ich sollte ihn anrufen.«

»Was zum Teufel soll er mit einem nagelneuen Porsche machen?«

Achselzuckend schloss Cheyenne die Tür und wandte sich der Straße zu, die vom Parkplatz abging. »Was immer er will, schätze ich. Es wäre einfach cool.«

»Ich versteh’s nicht.«

»Hey, du hattest deinen Moment, in dem du dich beim Einrichten der Wohnung ausgetobt hast. Was übrigens total geil ist. Der Typ macht das mit Autos.« Cheyenne musste Ember helfen, den Stuhl über die Unebenheiten in der Einfahrt des Parkplatzes zu schieben und dann noch einmal, als sie die Rampe auf den Bürgersteig neben den Ladenzeilen entlang der Straße erreichten.

»Weißt du, ich habe nie darüber nachgedacht, wie beschissen diese Rampen sind, bevor ich versucht habe, mich auf eine zu schieben.« Ember schob angestrengt ihre Räder nach vorne, während Cheyenne unterstützend gegen die Lehne ihres Stuhls drückte. »Alles eine Frage der Perspektive, oder?«

»So kann man es auch ausdrücken.«

Angesichts der kühlen Luft Mitte Oktober und der Tatsache, dass es Dienstag war, begegneten sie auf der Straße nicht vielen anderen Fußgängern. Ember warf einen Blick in die Schaufenster jedes einzelnen Ladens, an dem sie vorbeikamen und grinste ihr Spiegelbild an. »Also, wie kommen wir runter nach Peridosh?«

Cheyenne zeigte auf das Schild über dem Froyo-Laden, der zwei Häuser weiter war. »Wir müssen zuerst den Frozen-Yogurt-Laden ansteuern.«

»Hey, ich mag Nachtisch vor dem Essen genauso gerne wie jedes andere Mädchen, aber ich bin nicht in der Stimmung für Froyo.«

Die Halbdrow lachte, als sie neben der Tür stehen blieb und sie aufzog. »Ich auch nicht.«

»Oh. Ist es dieser Ort?«

»Ja. Das ist bei Weitem nicht das Beste.«