Kapitel 30

A ls Cheyenne um 11:53 Uhr ihre Wohnung betrat, ließ sie die völlige Stille innehalten. »Em?«

»Hey.«

Als sie die Tür schloss und den Riegel sofort wieder vorlegte, trat die Halbdrow ins Wohnzimmer und spähte um die Ecke in das Badezimmer unter der Mini-Hochebene. »Alles in Ordnung?«

»Jetzt schon.« Nasses Gummi klatschte auf Marmor und Ember kam mit einem genervten Gesichtsausdruck aus dem Bad. »Meinst du, wir können die Einladungen widerrufen, die Corian gestern Abend erwähnt hat? Denn ich möchte dieser Kobold-Tussi sagen, dass sie nicht mehr kommen darf.«

Cheyenne lachte. »Oh-oh.«

»Ja. Großes Oh-oh.« Ember wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich habe gerade die letzte Stunde damit verbracht, die Toilette zu putzen. Eine Stunde. Ich glaube, ich habe meinen Geruchssinn verloren.«

»Ich sehe, dass du viel Bleichmittel benutzt hast.«

»Mehr als ich jemals für irgendetwas verwenden musste.« Die Fae erschauderte und rieb ihre verschwitzten Hände an ihrer Hose. »Wer macht so etwas in einem fremden Haus? Ganz zu schweigen davon, dass sie noch nie hier war und dass sie Schutzzauber errichtet haben, um alles fernzuhalten . Sie hätten etwas im Bad anbringen sollen.«

Lachend verschränkte Cheyenne ihre Arme und warf ihrer Freundin einen mitfühlenden Blick zu. »Das hätte ich auch machen können.«

»Hey, nur weil ich nicht laufen kann, heißt das nicht, dass ich nicht putzen kann. Das bedeutet zwar nicht, dass ich putzen will , aber ich konnte das nicht länger hinnehmen.«

»Ich werde auf jeden Fall etwas dazu sagen.«

Ember sah ihre Freundin mit großen Augen an. »Tu das nicht. Das mit der Einladung war ein Scherz. Mehr oder weniger.«

»Nein, mach dir keine Sorgen.« Cheyenne sah sich im Wohnzimmer um. »Ich lasse es so aussehen, als käme es direkt von mir. Schlimmstenfalls wird sie sich darüber aufregen und nicht mehr vorbeikommen wollen. Ehrlich gesagt glaube ich, dass sie nur lachen und sagen wird: ›Willkommen in der Rebellion, Halbblut‹. Oder etwas ähnlich Dämliches. Aber ich bin da ganz deiner Meinung. Nicht cool. Bist du bereit, loszufahren?«

»Ist es schon Zeit zu gehen?« Ember blinzelte und klopfte auf ihre Hosentasche, dann deutete sie mit einem Nicken auf den Couchtisch. »Schnapp dir meine Tasche und wir verschwinden.«

»Ja.«

Nachdem sie Ember ihre Tasche in den Schoß gelegt hatte, schloss Cheyenne die Haustür auf und hielt sie offen, damit die Fae in den Flur rollen konnte. Sie konnte nicht anders und warf einen kurzen Blick auf Matthew Thomas’ Haustür auf der anderen Seite des Flurs, bevor sie hinter den beiden abschloss. Ember war bereits auf halbem Weg zum Aufzug.

»Hast du lilafarbene Flecken im Bad gefunden?«

Die Fae beugte sich vor, um die Ruftaste zu drücken und rutschte in ihrem Stuhl hin und her. »Nö. Ich würde sagen, es ist ein bisschen gruselig, dass dir winzige Kameras im Badezimmer überhaupt in den Sinn kommen, aber ich muss zugeben, dass es auch das Erste war, woran ich gedacht habe.«

»Es ist in Ordnung. Wir können beide unheimlich sein. Das ist auch nötig, um mit all dem anderen Zeug fertig zu werden.«

Ember warf ihrer Freundin einen Seitenblick zu. »Du bist noch viel gruseliger als ich.«

»Nur äußerlich.«

»Haha. Nö.«

»Wenigstens haben wir jetzt mehr Beweise dafür, dass die Wohnung nicht verwanzt ist, sodass wir uns weniger Sorgen um unseren Voyeur Matthew machen müssen.«

»Psst.« Ember warf einen Blick den Flur hinunter auf die Haustür ihres Nachbarn und schüttelte den Kopf. »Haben wir unseren Verdacht nicht sowieso schon im Flur geäußert?«

»Hey, wenn ihm nicht gefällt, was er sieht und hört, vorausgesetzt, er sieht und hört zu, ist das sein Problem.« Die Fahrzeugtüren öffneten sich und Cheyenne wartete darauf, dass ihre Freundin zuerst hineinrollte. Ein violettfarbener Lichtblitz half Ember über den gerippten Metallstreifen und den Raum zwischen dem Gang und dem Aufzug. Die Halbdrow trat hinter ihr ein. »Es sollte ihn nicht überraschen, wenn jemand ein Problem damit hat, beobachtet zu werden.«

Ember presste ihre Lippen aufeinander und sagte nichts, bis der Aufzug seine Fahrt begann. »Vielleicht versucht er nur, seine Wohnung sicher zu halten, weißt du?«

»Was?« Cheyenne lachte. »Versuchst du wirklich, dir Ausreden für einen Kerl auszudenken, der zu beobachten scheint, wann wir gehen und wann wir nach Hause kommen?«

Achselzuckend verzog Ember das Gesicht und lächelte verlegen. »Er ist einfach so nett

»Oh, Mann.«

»Es ist wahr. Du weißt, dass es wahr ist.«

»Ja und das ist gruselig.«

»Warum? Weil niemand in seinem Innersten völlig nett sein kann?«

»Die meisten Menschen sind es nicht.«

Ember schnaubte. »Ich wusste nicht, dass du allen gegenüber so misstrauisch bist.«

»Mir ist es egal, ob die Leute nur gelegentlich nett sind oder ob sie immer hundertprozentig nett sind. Ich finde es nur ziemlich verdächtig, dass dieser super nette Typ, der von dir besessen ist, zufällig eine Reihe von Unternehmen in Branchen besitzt, die nicht dafür bekannt sind, nett zu sein.«

Ember runzelte die Stirn. »Wie viel hast du nachgeforscht?«

»Genug, um zu wissen, dass es ziemlich schwer sein wird, zu beweisen, dass er nicht nur ein netter Kerl ist.«

Die Fae lachte unverhohlen, was im Aufzug laut widerhallte. Cheyenne schmunzelte und richtete ihren Blick auf den schwarzen Spalt zwischen den Türen. Ember seufzte, nachdem sie sich beruhigt hatte. »Wir werden weitersuchen, denke ich. Entweder finden wir einen lilafarbenen Fleck oder du findest irgendeinen Dreck an seinem Stecken, dann werde ich deine Theorie glauben. Aber bis dahin fühle ich mich viel wohler in meinem Leben, wenn ich nicht von jedem das Schlimmste annehme.«

»Du hast dich gestern Abend ziemlich gegruselt.«

»Ich hatte gerade meine erste Nacht auf einem magischen Marktplatz mit ein paar verrückten Freunden von dir verbracht und wurde von einem riesigen Bagger angegriffen, den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Ich konnte nicht wirklich klar denken.«

»Okay, Em.« Die Fahrstuhltüren öffneten sich und Cheyenne gab ihrer Freundin ein Zeichen, zuerst auszusteigen. »Ich spiele mal mit und behaupte, dass er unschuldig ist, bis seine Schuld bewiesen ist, aber ich habe das Gefühl, dass ich ihn am Ende für schuldig erklären werde.«

»Dann ändere ich meine Haltung.« Sie gingen durch die leere, weitläufige Lobby ihres Gebäudes. »Ich hätte allerdings nicht erwartet, dass du dich so sehr für Recht und Ordnung einsetzt.«

»Nur, wenn es mein Privatleben beeinträchtigt.«

Als sie im Porsche saßen und Embers Stuhl im Kofferraum verstaut war, startete Cheyenne den Motor und hielt inne. »Verdammt. Ich habe Corian nicht angerufen.«

»Er kommt doch mit uns, oder?«

»Das sollte er. Das war der Plan.« Cheyenne holte ihr Handy raus, um ihn anzurufen. Er antwortete fast sofort.

»Bereit?«

»Wow. Hat deine Hand gerade über dem Handy geschwebt oder was?«

»Ich habe angenommen, du würdest Ember noch zu ihrem Termin um halb eins in die Klinik bringen. Es ist zwölf Uhr zehn, also ja, ich habe deinen Anruf erwartet.«

Cheyenne unterdrückte ein Lächeln. »Ja, wir sind bereit. Wir sitzen aber schon in meinem Auto.«

»Das ist gut. Es ist nur schwer, ein Portal zu kreieren, wenn ihr schon in der Stadt herumfahrt. Ich bin gleich da.«

»Warte, kannst du uns nicht einfach an der …?«

Er legte auf, bevor sie zu Ende sprechen konnte und Cheyenne warf ihr Handy in das Fach unter dem Armaturenbrett.

»Er kommt doch noch, oder?«

»Ja, Em.« Cheyenne drehte sich halb herum und sah sich den Rücksitz an. »Anscheinend wird er einfach …«

Das schwarze Licht von Corians Portal erschien über den schwarzen Ledersitzen im Fond und der Nachtpirscher trat hindurch, duckte sich und rutschte auf die andere Seite. »Hey.«

»Oh!« Ember zuckte zusammen und drehte sich um, um ihn über ihre Schulter anzusehen.

»Du öffnest ein Portal in meinem Auto.« Cheyenne hob die Augenbrauen.

»Was zum Teufel?« Ember sah ihn finster an. »Du solltest die Leute wirklich warnen, bevor du das tust.«

Mit seinem Illusionscharme sah Corian mit seinen hellbraunen Haaren, den blauen Augen und dem offenen Lächeln wie ein durchschnittlicher, aufrechter Einwohner Richmonds aus.

Wenigstens trägt er nicht mehr diesen blöden, roten Hut .

Der Nachtpirscher blickte zu Ember. »Ich habe Cheyenne gesagt, dass ich komme.«

»Ich hatte nicht genug Zeit, das zu erklären, bevor du in mein Auto gestiegen bist.«

»Das ist übrigens sehr schön.« Corian strich mit der Hand über die Ledersitze, lehnte sich zurück und machte es sich bequem. »Daran könnte ich mich gewöhnen.«

Cheyenne warf ihm einen kurzen Blick durch den Rückspiegel zu. »An meinen Rücksitz oder daran, mit dem Auto zu fahren?«

»Nur weil ich kein Auto habe, heißt das nicht, dass ich noch nie in einem gesessen habe.«

»Ich weiß. Der lustige Ausflug zum ersten neuen Portal ist noch gar nicht so lange her.«

Er schnallte sich an, senkte das Kinn und betrachtete ihr Spiegelbild. »Du klugscheißt also nur.«

»Jetzt gerade? Ja.«

Als sie aus dem Parkplatz herausfuhr, schaute Corian aus dem Rückfenster und nickte langsam. »Wenn wir da sind, Mädchen, bleiben Ember und ich im Auto.«

»Und ich werde mich mit Marsil ›George‹ Keldryk unterhalten.« Cheyennes Griff um das Lenkrad wurde mit einem Knarzen des Leders fester.

»Nur ein Gespräch«, warnte Corian. »Wir müssen vorsichtig sein, wie wir die Sache angehen. Wenn dieser Marsil der ist, für den er sich ausgibt, kann Ember zu ihrem Termin gehen und nichts hat sich geändert. Dann verschieben wir unseren Fokus und suchen nach einer anderen Spur. Aber wenn er nur so tut, als ob?«

»Ich weiß genau, was ich mit ihm machen muss, wenn das der Fall ist.«

»Ruhig.«

»Das wird es nicht sein.« Cheyenne ließ die Schultern hängen, als sie in die nächste Seitenstraße einbog, um zum Gebäude der Physiotherapie zu fahren.

»Geh da nicht mit voller Magie rein, Mädchen. Das ist das Wichtigste an der ganzen Sache.«

»Wirklich? Ich dachte, das Wichtigste wäre, die Arschlöcher zu finden, die Embers Blut gestohlen haben, um an mich heranzukommen und die ihre gruseligen Kriegskäfer auf uns hetzen.«

Corian wandte den Blick vom Fenster ab und schaute in den Rückspiegel, während er darauf wartete, dass sie seinen Blick erwiderte. »Gab es noch mehr?«

»Ja.« Sie griff in ihre Tasche, zog die kurzgeschlossene Spionagefliege heraus und reichte sie ihm über ihre Schulter. »Die da hat mich heute bei meiner Vorlesung gefunden.«

»Noch eine?« Ember drehte sich um und musterte die winzige, schwarze Metallhülle der wanzenförmigen Maschine in Corians Handfläche.

»Offenbar weiß derjenige, der diese Dinger schickt, jetzt genau, wo er suchen muss. Wir können nicht zulassen, dass noch mehr von diesen Dingern auf den Campus fliegen und sich in meine Vorlesung setzen.«

»Deine Vorlesung?«

»Habe ich dir nicht gesagt, dass ich jetzt unterrichte?«

Corian betrachtete die Fliegenmaschine und legte den Kopf schief. »Das überrascht mich nicht.«

»Haben deine Studenten sie gesehen?« Ember drehte sich wieder um und blickte durch die Windschutzscheibe.

»Das glaube ich nicht. Es hat ziemlich sicher niemand mitbekommen, wie ich das Ding von der Wand geschossen habe.«

Corian warf einen Blick in den Rückspiegel und kicherte. »Wie hast du das geschafft?«

»Ich habe ihnen gesagt, sie sollen die Augen schließen und darüber nachdenken, was sie am Ende des Semesters machen wollen.« Leise lachend schüttelte Cheyenne den Kopf und betrachtete kurz sein Spiegelbild. »Ich habe nur zwei Sekunden gebraucht, um das Ding zu treffen und es in meine Tasche zu stecken.«

»Unkonventionelle Ablenkung.« Corian schmunzelte amüsiert. »Aber die Geschwindigkeit ist wirklich beeindruckend.«

»Ganz zu schweigen von meinem Ziel.«

Ember blinzelte langsam. »Ihr redet darüber, als wäre es lustig.«

»Das ist es. Ein bisschen.« Corian untersuchte den verkohlten Metallkäfer erneut. »Die Maschinen, die sie aussenden, werden jedes Mal kleiner, was mich vermuten lässt, dass entweder die Loyalisten, die diese Dinger programmieren, ihre Taktik mit jedem Fehlschlag ändern, oder dass ihnen die Metallsoldaten ausgehen.«

»Meinst du, der konnte etwas zurückschicken, bevor ich ihn zerquetscht habe?«

»Das glaube ich nicht. Etwas, das so klein und mobil ist, kann meines Wissens nach keine Informationen aus der Ferne weitergeben. Sie wurden unter der Annahme gebaut, dass sie nicht gesehen werden und zur Basis zurückkehren, um sozusagen Bericht zu erstatten. Kann ich das behalten?«

»Ich will es auf keinen Fall.«

»Ausgezeichnet.« Corian steckte das kleine Gerät in seine Tasche und verschränkte die Arme. »Wenn wir uns in der Klinik umgesehen haben, wissen wir mehr darüber, wen wir aufspüren müssen, um diese Dinger von dir fernzuhalten.«

»Ja. Wenn es Marsil ist, müssen wir nicht lange suchen.«

Ember drehte langsam den Kopf, um Cheyenne anzusehen, aber ihre Freundin schaute konzentriert auf die Straße, ohne den besorgten Blick der Fae zu bemerken. Als Ember sich ein wenig weiter umdrehte und Corian anschaute, bekam sie nur ein Achselzucken und ein langsames Kopfschütteln als Antwort.