12
Am nächsten Morgen war das unangenehme Gefühl, das Sarah Lou gegenüber verspürt hatte, fast vollständig verflogen. Miteinander geschlafen hatten sie zwar nicht mehr, aber friedlich nebeneinander die Nacht verbracht.
Lou war zeitig aufgestanden, um zur Arbeit zu gehen – keine Geschäftsreise an diesem Tag und auch nicht in den bevorstehenden Wochen – und Sarah hatte sich, kurz nachdem er aufgebrochen war, ebenfalls fertig gemacht und das Haus verlassen, um ein paar Besorgungen zu machen.
Ihr Viertel zeigte sich von seiner besten Seite. Kleine Tische auf den Bürgersteigen, eine herrliche Sonne, die durch die ganz jungen Blätter an den Bäumen schien, in der Ferne das unermüdliche Brausen und Surren von Midtown. Weit weg und doch nah genug, damit einen die Hektik noch angenehm elektrisierte.
‚Sie stellen meinen auf die Probe – ich Ihren.‘
Ganz waren Cybills Worte aus Sarahs Kopf natürlich noch immer nicht verschwunden. Ausgerechnet, oder? Am Tag nachdem Cybill dieses … unmoralische? abstoßende? freche? … Angebot gemacht hatte, war Lou zu spät nach Hause gekommen. Ein bisschen schräg hatte er auf jeden Fall auf Sarah gewirkt. Aber sie sollte sich davon sicherlich nicht verrückt machen lassen.
Die Tasche an den Stuhl gehängt, rollte sie die MacDougal Street weiter nach Norden. Und spürte, wie ihr das Herz wieder schwer wurde.
Was, wenn –
Geradezu gewaltsam schob Sarah den Einfall beiseite, bevor er wirklich Form annehmen konnte.
Nein!
Traute sie Lou etwa nicht?
Doch! Aber natürlich tat sie das!
Nur …
Wenn ich ihn auf die Probe stelle, habe ich Gewissheit.
Ausgeschlossen! Wie konnte sie sich solchen Unsinn von Cybill einreden lassen? Am Ende würde sie selbst noch Lou zu einem Seitensprung ermuntern, den er sonst gar nicht gemacht hätte. Eine Art Selffulfilling Prophecy, oder nicht? Jedenfalls wäre es durchaus möglich, dass sie mit ihrem … ja geradezu krankhaften Misstrauen das Unglück überhaupt erst in Bewegung setzte!
Kenneth war nicht dabei gewesen auf der Geschäftsreise – das hatte Lou ja gesagt. Sie hatte ihn ausdrücklich danach gefragt. Wenn Ken nicht dabei gewesen war, war Cybill wahrscheinlich nicht allein gewesen. Sie brauchte sich also keine Sorgen zu machen.
Und wenn Lou gelogen hat?
Ja, war es nicht geradezu zwingend, dass es so war? Dass Cybill bereits getan hatte, was sie ihr vorgeschlagen hatte?! Angenommen, Ken war auf der Geschäftsreise sehr wohl dabei gewesen. Das würde bedeuten, dass Cybill … unbeaufsichtigt gewesen war. Angenommen, die Kollegen hatten keineswegs einen späteren Flug genommen. Stattdessen war Lou pünktlich in New York gelandet, Cybill hatte ihn abgepasst – und verführt! Möglicherweise war Cybill am Flughafen gewesen, um Kenneth abzuholen. Hatte Lou gesehen. Sich kurz versteckt und ihren Mann allein nach Hause fahren lassen. Und stattdessen mit Lou was gemacht. In einem der Hotels dort? Auf dem Parkplatz im Wagen? Auf einer der Flughafentoiletten, vielleicht in einer VIP Lounge? Lou wird nach der ganzen Reiserei durchaus an ein bisschen Abwechslung und Spaß interessiert gewesen sein. Wusste Sarah nicht, wie geschickt Cybill sich anstellen konnte? Wenn diese Hexe es wirklich darauf angelegt hatte, konnte so etwas ganz schnell gehen. Dafür reichten ja ein paar Minuten! Hatte Sarah nicht ganz deutlich gespürt, dass mit Lou gestern Abend etwas nicht gestimmt hatte? Was zum Teufel hatte er denn so dringend abduschen müssen?
‚Sie stellen meinen auf die Probe - ich Ihren.‘
Nichts hatte sich geändert. Kleine Tische auf den Bürgersteigen. Frauen mit Coffee-to-go-Bechern in der Hand, Sonne in den Frühlingsblättern. Und doch spürte Sarah, wie eine leichte Schweißschicht sich unter ihrem T-Shirt gebildet hatte.
Lous und Cybills Körper nackt und verschwitzt umschlungen …
Sie schlug beinahe mit den Armen um sich, versuchte das Bild, das sich ihr aufdrängte, abzuschütteln. Aber es war klebrig – ganz so, wie sich die Haut der beiden angefühlt haben musste.
Fahrig und verwirrt bog sie nach rechts in den italienischen Supermarkt auf der Sixth Avenue ein. Fühlte, wie die klimatisierte Luft sie kühlte – und blieb erschrocken stehen. Exquisit in einer Prada-Gucci-Kombination gekleidet, die Füße in zierlichen Sandalen, beugte sich Cybill gerade über das Obst und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit der Auswahl einer offensichtlich perfekt gereiften Mango.
Zurück! Raus hier!
Aber da trafen sich schon ihre Blicke in dem Spiegel über dem Obst.
Cybill ließ ihre Füße, die auf Zehenspitzen gestanden hatte, herunter, blinzelte, und ein Lächeln breitete sich über ihrem Gesicht aus. Sie drehte sich um.
„Süße! Ich dachte, ich müsste Ihnen erst noch zeigen, wo man in der Gegend einkauft, aber ich sehe, Sie sind mir natürlich mal wieder drei Schritt voraus.“ Schwatzend kam Cybill auf Sarah zu.
Sarahs Nackenmuskeln spannten sich. Sie suchte nach Worten, aber ihr fiel nicht ein, was unter Village-Frauen in einer solchen Situation wohl die richtige Floskel wäre. Einfach nur ‚Hi‘? Oder ‚Hi Cybill, Sie sehen großartig aus‘? ‚Gut, dass ich Sie treffe, ich habe den ganzen Morgen schon an Sie gedacht‘?
Cybill schien ihre Irritation nicht zu bemerken. Sie bemerkt sie schon, sie lässt sich nur nichts anmerken!
„Kommen Sie“, die Mango noch immer in der Hand, lotste Cybill sie sanft Richtung Kasse, „lassen Sie uns den herrlichen Tag bei einem Spaziergang genießen, was meinen Sie?“ Sie legte die Frucht auf ein Regal. „Die kaufe ich später noch.“
Nein? Ja?
Sarah roch Cybills sündhaft teures Parfüm, fühlte, dass die Kombination, die sie selbst trug, bestimmt zwanzigtausend Dollar weniger gekostet hatte als die von Ms Halberstam, innerlich aber schrie es in ihr: Hat sie mit Lou geschlafen?