15
Es war heiß – viel zu warm für die Jahreszeit. Sarah hatte sich von Ken auf der Straße verabschiedet. Jetzt lag sie in ihrem Schlafzimmer auf dem Bett. Unruhig, aufgewühlt und durcheinander. Als würde etwas unter ihrer Haut krabbeln. Aber sie wusste nicht, wie sie diese Unruhe loswerden sollte. Die Decke hatte sie bereits von sich heruntergezogen. Zart berührten ihre Brüste den hauchdünnen Stoff des T-Shirts, das sie übergeworfen hatte. Ihre Hände lagen locker auf ihren Hüften. Ihr Blick ging zum Fenster. Keine Gardinen. Sie konnte bis hinaus in den Garten blicken. Die Rasenfläche schien leer, aber dort hinten im Schatten des Baumes? Konnte sich jemand dort nicht verstecken?
Ungeduldig zog sie den Rollstuhl zu sich heran und schwang sich von der Matratze auf den Sitz. Bugsierte sich zum Fenster und linste auf die sonnenbeschienene Rasenfläche herunter. Niemand zu sehen.
Dennoch: Der Gedanke, dass jemand sie gerade genauso beobachten könnte, wie sie mit Lou Ken und Cybill am ersten Tag in deren Haus beobachtet hatte, machte sie nur noch unruhiger. Entschlossen drehte sie ihren Stuhl und wandte dem Fenster den Rücken zu. Sie musste mit Lou reden – sie brauchten unbedingt Vorhänge vor den Fenstern. Wann Lou wohl nach Hause kam?
Unentschlossen rollte Sarah zu der Kommode, die gleich beim Bett stand, und zog die Schubladen auf, ohne zu wissen, was sie eigentlich suchte. Gleich oben lag ihre Unterwäsche. Ihre Hand versenkte sich in dem weichen Seidenstoff der Höschen, die sie sich eigens für New York gekauft hatte, und die in den Kartons gewesen waren, die sie vorab in das Haus hatten liefern lassen. Gedankenverloren ließ sie die sanfte Berührung wirken – und stieß die Schublade verwirrt zu, als sie merkte, wohin ihre Gedanken von der Berührung gelenkt wurden.
Die Schublade darunter enthielt Lous Boxershorts. Sie zog die unterste Schublade auf – und stutzte. Was war das?
Dort unter ihren BHs. Sie schob den obersten Spitzenbüstenhalter beiseite.
Es glänzte dunkelbraun und war nicht viel größer als ein Armreif.
Aber breiter.
Für einen Moment dachte Sarah, das Ding keinesfalls berühren zu wollen – dann aber hielt sie es sich instinktiv an die Nase. Der künstliche Geruch von Plastik.
Eine Rolle Klebeband. Braunes, breites Packpapier-Klebeband.
Genau wie das, das Cybill benutzt hat.
Fühlte sich die Rolle ein bisschen klebrig an?
Sarah schauderte – und konnte doch nicht anders als den Geruch, der von der Rolle ausging, noch einmal tief in sich aufzunehmen. Parfüm – die Rolle roch auch nach Parfüm, ein billiges, süßes Parfüm, das dennoch auf seltsame Weise ihrer Nase …
oder vielmehr einem verborgenen Knoten in meinem Kopf
schmeichelte.
Und die Rolle roch nach noch etwas.
Sarah zuckte zusammen. Sex – das Band roch nach Sex. Nach Frau. Diese ganz bestimmte Vanillenote, von der sie doch wusste, wie Lou sie liebte!
Oder bildete sie sich das bloß ein?
Mit voller Wucht schleuderte sie das Band durchs Schlafzimmer. Es ist nur ein Klebeband, Sarah
, hörte sie zugleich eine Stimme in sich. Nur ein Schreibwarenartikel.
Mit einer energischen Bewegung riss sie den Stuhl herum und beförderte sich aus dem Schlafzimmer heraus ins angrenzende Bad. Schlug die Tür hinter sich zu. Atmete schwer. Das Fenster war hier eine Milchglasscheibe.
Gut.
Sie schob sich zur Toilette. Das Klebeband zu finden, hatte sie vollends durcheinandergebracht. Sie würde Lou danach fragen, kaum dass er nach Hause kam.
Mit geübten Griffen zog sie sich von ihrem Stuhl auf den Sitz der Toilette. Das T-Shirt hatte sie unter ihrem Gesäß nach oben geschoben – es bauschte sich an ihrem Rücken und reichte ihr vorne nicht ganz bis zu den Knien. Darunter trug sie keinen Slip.
Sie starrte auf die Wand vor sich und wartete. Fühlte, wie sich die Unruhe langsam legte. Und musste zugleich denken, dass sie, wenn sie so saß, gerade auf die Seitenwand ihres Townhouses schaute – auf die Wand, an die das Nachbarhaus grenzte.
Was hatten Cybill und Ken von diesem Nachbarhaus erzählt? Dem einzigen Haus in der Anlage, das über eine Vortreppe am Eingang verfügte und ein Souterrain?
Dass es schon länger leer steht, weil ChemCom darüber nachdenkt, es zu verkaufen.
Sarah hörte unter sich das feine Geräusch in der Schüssel. Und hatte zugleich ein merkwürdig kühles Gefühl an den entblößten Kniescheiben.
Ihr Blick wanderte über die Kacheln vor ihr. Blieb an einem schwarzen Fleck dicht über dem Boden hängen.
Ein Fleck oder …
War das ein Luftzug
- ein kühler Windhauch, der dem Fleck dort entströmte?
Sie griff hinter sich, riss ein Stück Papier ab, säuberte sich und betätigte die Spülung.
Wenn es ein Loch in der Wand ist – und sich dahinter jemand hingehockt hat, um hindurchzuschauen, sieht er mir genau zwischen die Beine.
Was war nur los mit ihr! Der Nachmittag mit Ken, diese Hitze …
Gut, Ken hatte ihr die ganze Zeit über geschmeichelt, es war ja praktisch mit Händen zu greifen gewesen, wie sehr sie ihm gefallen hatte. Aber das war doch kein Grund, derartig von Gedanken an Sex durchtränkt zu sein!
Ohne darüber nachzudenken, legte sie eine Hand zwischen die Beine, um die Blickachse zwischen ihren Schenkeln und dem Fleck an der Wand zu durchtrennen.
Hinter ihr tröpfelte die Spülung noch, um den Kasten wieder aufzufüllen.
„Hey!“
Nichts.
Vorsichtig schob Sarah sich nach vorne, stützte sich mit den Händen auf den kalten Kacheln ab, kam auf dem Boden zu liegen und brachte ein Auge genau vor den Fleck, der ihr aufgefallen war.
Schwarz. Unmöglich hindurchzuschauen. Aber es war tatsächlich kein Fleck. Sondern ein Loch
. In der Mauer. Und durch es hindurch wehte ein kühler Hauch.
„Hallo?!“
Keine Antwort. Sarahs rechte Hand kam nach vorn und sie spürte, wie sich ihr Zeigefinger in das Loch schob. War es feucht darin? Warm?
Sie rückte noch ein Stück weiter nach vorn, um besser in die Öffnung fassen zu können – sah im gleichen Augenblick eine Art Lichtwechsel am anderen Ende des winzigen Tunnels.
„Ist da jemand?!“
Es wirkte, als wäre es in dem Durchstich ein wenig heller geworden
weil derjenige, der dahinter gehockt hat, jetzt weg ist?
Mit einem Mal war ihr eiskalt.