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„Ermordet“, flüsterte Sarah, während sie im Hausflur die nassen Sandalen von den Füßen abstreifte und versuchte, das Zittern in ihrem Inneren zu unterdrücken. Ermordet. Nein, der Gedanke war so fremd, sie spürte förmlich, dass er nicht einrastete. Alles, was fassbar war, konkret und verständlich, waren die Polizeisirenen, die Wagen der Beamten, die draußen die Straße entlang standen. Das Flatterband, die Uniformen. Die Blaulichter.
Sie saß in ihrem Stuhl und lauschte. Gedämpft waren draußen Stimmen zu hören, das kurze Aufflammen eines weiteren Alarms, der sofort abgewürgt wurde. Rufe. Ein Wagen, der startete und dessen Motor aufheulte.
Kenneth Halberstam. Es war ja nicht so, dass sie die Nachbarin nicht verstanden hätte. ‚Auf dem Dach dort hinten.‘ Dabei hatte die Nachbarin zu dem Dach des Hauses gezeigt, das sich direkt neben dem von Sarah befand. Zu dem Dach, auf dem sich Sarah gestern Nacht mit Ken getroffen hatte. Auf dem sie mit ihm gesessen hatte.
Wie bin ich in mein Bett gekommen?
Die Erinnerung an die vergangene Nacht war noch immer verzerrt … wie verklebt. Sie hatte Ken … nun, das wusste sie noch: sie hatte ihn in sich gehabt. Dann war ihre Wahrnehmung versunken in einem Strudel aus Empfindungen, Scham, Rausch und Übelkeit. Hatte sie sich in ihren Stuhl gezogen und war zum Fahrstuhl gerollt? Oder kam ihr das nur so vor? Das Nächste, was sie wieder wusste, war, dass sie am Morgen mit einem Kater in ihrem Bett erwacht war, wie sie ihn noch nicht erlebt hatte.
Sarah manövrierte ihren Stuhl in den Aufzug, fuhr in den ersten Stock und rollte auf den Balkon hinaus. Ließ den Blick über den Gemeinschaftsgarten wandern. Die ganze Anlage wirkte wie ausgestorben. Als hätten sich alle Bewohner in ihre Häuser zurückgezogen, um nur ja nicht draußen angetroffen zu werden. Ein Mann und eine Frau marschierten quer über den Rasen auf das Haus zu, auf dessen Dach Kenneth offenbar gefunden worden war. Sarah kannte keinen von beiden. Der Mann hatte kurz geschnittenes Haar, war hager und ausgemergelt als würde er an einer Magenkrankheit leiden, die Frau sah aus wie eine Latina. NYPD? Sie trugen keine Uniformen, aber die beiden sahen aus wie Detectives. Ermordet?
Sarah bewegte sich mit ihrem Rollstuhl etwas nach hinten, um nicht so weit vorn am Geländer zu stehen. Die Mann und die Frau entschwanden aus ihrem Blickfeld. Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Lou? Sollte sie versuchen, ihn im Krankenhaus anzurufen? Cybill?
Der Gedanke an Cybill durchfuhr sie wie ein heißer Stich. Ihr Blick wanderte zu dem Haus der Halberstams, das durch die Blätter des Baums im Garten hindurchschimmerte. Es lag scheinbar friedlich da. Sie schaute zu dem Spielplatz am Ende des Gartens, aber auch dort war niemand, obwohl sich die Schaukel noch bewegte, als habe gerade eben noch ein Kind darauf gesessen.
Cybill will, dass ich mit Ken schlafe und dann ist er tot. ‚Sie stellen meinen auf die Probe – ich Ihren.‘
Und wenn es das war, was Cybill von Anfang an gewollt hatte? Kens Tod?
Sarah fröstelte.
Es war Cybill gar nicht darum gegangen, Ken den Sex mit ihr, mit Sarah, zu verschaffen.
Wie habe ich das nur glauben können?
Hatte sie wirklich gedacht, Cybill würde so weit gehen, Lou in einem Unfall zu verwickeln, nur um Sarah in das Bett ihres, Cybills, Mannes zu kriegen?
Nein, Cybill wollte, dass sie, Sarah, mit Ken schlief, weil Cybill Ken töten wollte – und Sarah sollte dafür belangt werden. Was machten die Beamten nebenan auf dem Dach? Sie sicherten die Spuren. DNA, Fingerabdrücke … es musste von Spuren von ihr, Sarah, auf dem Dach ja geradezu wimmeln, nach dem, was sie und Ken gestern Nacht dort gemacht hatten.