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Hastig kam Sarah aus dem Bad wieder heraus und griff nach dem Messer, das noch immer auf dem Laken lag. Sie achtete darauf, das getrocknete Blut nicht zu berühren, und rollte durch die Schlafzimmertür zur Treppe. Lou musste alles erfahren. Jetzt! Bevor sie es sich anders überlegte. Die Absprache mit Cybill, aber auch, was sich gestern Nacht auf dem Dach des Nachbarhauses zugetragen hatte. Einfach alles. Wenn das Messer in ihrem Bett lag, konnte das nur eines bedeuten.
Der Killer …
Die Silhouette eines vermummten Mannes flackerte an ihrem geistigen Auge vorbei. Groß - breitschultrig. Ein schwarzer Schatten, der sich über Ken beugte, mit einer Hand in dessen Haare griff, mit der anderen die Klinge auf Kens Gurgel drückte – und so kräftig durchzog , dass das Messer tief ins Fleisch fuhr. In die Luftröhre einschnitt. Das Blut sprudelte dem Mann über die Hand. Ohne abzusetzen zog er das Messer wieder heraus, ließ Kens Kopf los und bewegte sich über das Dach. Auf das Dach ihres Hauses zu.
Sie erreichte die Treppe und schaute nach unten. Lou war nicht zu sehen. Er musste bereits im Wohnzimmer sein. Das Messer brannte in ihrer Hand wie ein glühendes Stück Stahl. Sie wünschte, sie hätte ein Taschentuch benutzt, um es aufzunehmen, und würde es nicht direkt berühren.
Lou, hörst du: er war hier, in unserem Haus, in unserem Schlafzimmer.
Er? Nein!
CYBILL, Cybill war hier –
Kein vermummter Mann – eine FRAU.
„Lou!“
„Hier, Schatz – ich bin mit Detective Mendez“, kam es von unten zurück.
Er ist nicht allein.
Ein elektrischer Funke wanderte Sarahs Rückgrat entlang und verglühte an ihrem Steißbein.
Mendez, natürlich. Im Gemeinschaftsgarten war eben ja nur Cunningham mit der Uniformierten gewesen.
„Kommst du, Sarah?“ Lous Schritte, die sich durch den Gang Richtung Treppe näherten.
Zurück ins Schlafzimmer! Wenn er das Messer sieht …
Mendez wird es Lou anmerken, dass etwas nicht stimmt. Lou würde das alles so schnell nicht verarbeiten können. Panisch bearbeitete Sarah die Räder ihres Stuhls, um wieder ins Schlafzimmer zu kommen, hatte das sperrige Gefährt endlich herummanövriert -
„Hey, da bist du ja?“ Direkt hinter ihr. Bereits oben an der Treppe.
Ungelenk drehte sie den Kopf nach hinten – hielt sich das Messer vor den Bauch. „Hey … Lou. Ich wusste gar nicht, dass sie dich heute so bald schon entlassen wollten.“
Er freute sich, sie konnte es ganz deutlich sehen, seine ganze Miene leuchtete. „Oder? Ich bin heilfroh, dass ich raus bin.“ Sein Gesichtsausdruck wechselte. „Hier ist ja allerhand los. Detective Mendez ist gleich mit mir reingekommen, sie stellt mir gerade ein paar Fragen. Kommst du?“ Seine Nase kräuselte sich. „Was ist denn?“
„Nichts! Ich … ins Bad. Ich muss noch kurz ins Bad, ich komm gleich. Geh schon vor.“ Sie stand noch immer so, dass er das Messer an ihrem Bauch nicht sehen konnte.
„Krieg ich keinen Kuss erstmal?“
„Ganz kurz – dann komm ich.“ Sie rollte das letzte Stückchen zur Badezimmertür.
Aber er kam ihr nach! „Hey, Sarah, ich will erstmal ‚Hallo‘ sagen!“
Sie gab sich einen Stoß, erreichte die Badezimmertür und schlug sie hinter sich zu. „Sekunde nur, Lou.“
Das Fenster. Das Waschbecken. Die Toilette und Dusche. Wollte Mendez das Haus absuchen?
Deshalb hat er geklingelt: weil er mit Mendez gekommen ist!
Sarahs Blick fiel auf die Kleenex-Packung, die auf dem Regal stand. Fieberhaft riss sie sechs, acht, zehn Tücher heraus und wickelte das Messer darin ein, die Fingerspitzen jetzt mit einem hauchdünnen Film von altem Blut benetzt. Bei dem Gedanken, dass es Kenneth’ Blut war, das an ihren Finger klebte, musste sie kurz würgen - drehte das Heißwasser auf und rieb verzweifelt die Hände darunter ab.
„Sarah. Kommst du?“ Lous Stimme durch die Tür.
„Ja! Ich … genau.“ Das Messer war jetzt ein Packen von Kleenextüchern. In den Mülleimer und nachher entsorgen? Aber sie ertrug den Gedanken nicht, es länger im Haus zu haben. Sie stopfte das Paket neben ihren Oberschenkel an die Seite des Stuhls, entriegelte die Badezimmertür und riss sie auf.
„Hey, komm her.“ Lou breitete die Arme aus. Er war in den paar Tagen Krankenhaus regelrecht abgemagert.
Sarah schlag die Arme um seine Hüften.
„Was ist das?“ Lou drückte den Rücken durch und sah – das Gesicht ein wenig verzogen - auf das längliche Ding neben ihrem Schenkel.
„Du weißt schon, ich hab meine Tage bekommen, ein paar Binden.“ Er weiß, dass ich sonst immer Tampons benutze, aber das wird er schon schlucken. „Ich hab doch gesagt, dass ich erst ins Bad muss.“ Sie lächelte, legte die Hände auf den Rücken, reckte sich hoch, schloss die Augen und bot ihm ihren Mund dar. Fühlte, wie er sie griff und küsste.
„Jetzt aber los. Geh schon vor, ich komm gleich.“ Sie rollte hinter ihm zur Treppe, streckte den Arm aus, und schnappte sich, als er ihr den Rücken zuwandte, um hinunterzugehen, die einzige Handtasche, die sich dort oben auf dem Treppenabsatz befand. Ihre Louis Vuitton, aber das war jetzt auch egal.
„Hast du denn mit Mendez schon geredet?“ Er war auf der Treppe stehen geblieben und hatte sich noch einmal zu ihr umgedreht. Sie bemerkte, wie sein Blick zu der Handtasche wanderte.
„Mit Mendez? Ja. Sie war mit ihrem Kollegen vorhin schon einmal hier. Hast du deshalb geklingelt? Weil sie gleich dabei war?“
„Ich dachte, du willst nicht, dass ich mit einem Detective einfach so ins Haus komme.“ Sein Blick hob sich und er sah ihr ins Gesicht. „Gehst du nochmal weg jetzt?“
„Nur kurz. Ein Brief – genau. Den muss ich noch einwerfen, dann komm ich zu euch.“
Er schaute sie an, als müsste er das Gehörte erstmal einsortieren. „Du weißt, dass dir die Frau vom NYPD auch noch ein paar Fragen stellen will.“
„Lou, es ist nur ein Brief! Ich dachte, ich versuche, einen Job zu kriegen. Die ganze Zeit hier allein zu Hause, das nervt.“ Er starrte sie an, aber was sollte er dagegen schon sagen? „Komm schon, Lou, geh mit Detective Mendez in den Garten und rede mit ihr, ich rolle zum Briefkasten, das dauert genau drei Minuten, dann bin ich bei euch.“ Es kam heftiger heraus als beabsichtigt, aber sie ertrug es nicht mehr. Das ewige Herumdiskutieren, Sarah spürte, dass sie kurz davorstand, vollkommen die Beherrschung zu verlieren.
„Ist ja gut … meine Güte.“ Er stampfte die Stufen nach unten.
Sarah glitt zum Fahrstuhl, der sich noch auf diesem Stockwerk befand, fuhr nach unten, sah durch das Fenster hindurch Lou und die Polizistin auf der Terrasse stehen, und rollte praktisch lautlos im Erdgeschoss Richtung Haustür. Zog die Tür auf – musste instinktiv die Augen schließen, weil die Sonne sie auf der Schwelle genau ins Gesicht traf - blinzelte … und bemerkte, dass die ganze Straße voll war mit Cops.