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Der Nachthimmel. Die Notbeleuchtung der Hochhäuser. Der Lärm der Stadt.
Die Luft, die er durch die zusammengebissenen Zähne einzieht.
Das Keuchen.
Sarah fühlt, wie sich ihr Mund langsam öffnet.
Alles wirkt auf sie wie verzerrt.
Ein Schweißtropfen, der sich von ihrer Haarsträhne löst, und in Kenneth‘ geöffneten Mund fällt.
Der Schrei, den sie ausstoßen will.
Stattdessen klickt es nur in ihrer Kehle, und sie ringt nach Luft.
Kens Augen, die mich ansehen - aufgerissen - wie eingeschossen von dem Entsetzen, das ihn gepackt hat .
Und dann ergießt es sich über sein Hemd. Der Blutschwall, der aus seinem Hals hervorschießt. Während sich Kens Keuchen in ein Schmatzen und Gluggern verwandelt.
Jetzt entweicht der Atem durch das Loch in der Luftröhre.
Sie ringt selbst nach Luft, bekommt aber keinen Sauerstoff in die Lunge.
Als würde er meine Kehle durchschneiden.
Und wenn ich keine Luft kriege
jetzt jetzt -
werde ich ersticken -
jetzt jetzt .
Mit beiden Händen greift sie an ihren Hals, als könnte sie sich selbst ein Loch in die Luftröhre reißen, damit die Atemnot endlich stoppt. Fühlt, wie ihre Finger etwas zu fassen bekommen –
„AHHHHHHHH!“
und schrie.
Hellwach jetzt. Aufgerichtet. Den Blick nicht länger auf Ken gerichtet, sondern auf ein Augenpaar, das dicht vor ihr in der Dunkelheit schwamm. Der Dunkelheit ihres Schlafzimmers.
„Um Gottes Willen, Sarah – Sarah , komm zu dir!“
Ahhhhhhhhh!
„Ich krieg keine Luft!“
Etwas riss ihren Kopf herum und ihre Wange glühte.
Stille.
Wimmern. Sie weinte und schmeckte das Salz ihrer Tränen auf ihren Lippen.
„Lou … Lou … Lou.“ Sie rollte sich in seinen Armen zusammen und sog seinen Geruch in sich ein.
Nur ein Traum.
Sie hatte geträumt, Kens Ende zu sehen - war in Panik erwacht und von Lou mit einer leichten Ohrfeige zur Besinnung gebracht worden.
„Hast du einen Alptraum gehabt?“ Seine Hand tastete nach der Nachttischlampe. Das Licht flammte auf. Lous Körper ein Umriss, hinter dem die Nachttischlampe brannte.
Aber sie wollte nicht reden. Griff nach seinem Arm und legte ihn um sich wie einen Schal.
„Halt mich einfach fest, Lou.“ Sie fühlte, wie sich sein Griff um sie straffte, und atmete aus.
„Besser?“ Er verschob die Position seines Beines ein wenig – so dass ihr Rücken auf der Matratze zu liegen kam.
Vorsichtig legte er die Hände auf das Bund ihrer Schlafanzughose. Schob sich noch etwas weiter unter die Decke, dass er jetzt mit gerundetem Rücken vor ihr kauerte wie eine Katze. Gleichzeitig bewegte sich ihre Schlafanzughose über ihre Hüften. Sie fühlte, wie er sie ganz von ihr abstreifte, während zugleich seine andere Hand flach auf ihrem Bauch lag. Es kitzelte und im nächsten Augenblick übergoss sie ein Gefühl der Erregung, während seine Zungenspitze an ihrem Bauchnabel entlangtastete.
Ihre Hand wanderte nach unten und ihre Finger landeten in seinem Haar. „Lou?“
„Hm?“
„Lou, ich muss dir was sagen.“
„Mäter.“ Was wohl ‚später‘ heißen sollte.
„Nein, jetzt.“ Sie zog an seinen Haaren.
„Bist zu sicher?“ Sein Gesicht kam unter der Decke zum Vorschein und er sah zu ihr hoch.
Sie nickte und zog sich in eine aufrechtere Position.
„Können wir das nicht kurz fertig machen?“
Nein, Lou.
Sie drehte sich so, dass ihre Beine aus dem Bett hingen und angelte nach einem frischen Höschen aus der Schublade. „Nachher, Lou. Lass uns mal auf die Dachterrasse gehen und reden. Wir sollten das nicht länger aufschieben.“
„Warum denn auf die Dachterrasse?“
Weil Ken dort den Tod gefunden hat, und wir ernsthaft was klären müssen.
Aber stattdessen sagte sie: „Ich brauch ein bisschen frische Luft. Es ist so stickig hier drin.“
Der Nachthimmel. Die Notbeleuchtung der gigantischen Hochhäuser. Die nächtlichen Geräusche der Stadt. Beinahe so, wie sie es vor wenigen Minuten erst in ihrem Traum gesehen hatte.
Der Bereich, auf dem die Liegestühle gestanden hatten, war mit Polizei-Flatterband abgesperrt. Die Liegen waren nicht mehr dort, offensichtlich hatten die Beamten sie mitgenommen. Aber einen Wachposten oder so etwas hatten sie nicht aufgestellt.
Sarah fuhr an das Geländer auf der Ostseite des Dachs, von wo aus sie in den Gemeinschaftsgarten hinabschauen konnte. Von diesem Punkt aus hatte man einen guten Blick zur Rückseite des Hauses der Halberstams. Hinter dem Wohnzimmerfenster brannte Licht, aber es war niemand zu sehen.
Sie drehte sich zu Lou um, der nur eine abgeschnittene Sporthose angezogen hatte, und ein T-Shirt über den Oberkörper.
„Also?“ Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. „Du meinst, wir sollen hier weitermachen? Ist das nicht ein bisschen makaber?“
Sie sah ihn ruhig an. Was?
„Sorry, war nicht so gemeint.“ Er winkte ab, und sie konnte noch sehen, wie er mit den Augen rollte. „Okay, gut, Sarah“, fuhr er fort, „ich weiß, das ist alles andere als lustig, aber … wie soll ich sagen? Wir leben noch? Du lebst noch, ich leb noch! Schwein gehabt! Ich freu mich. Ich kann jetzt nicht den Rest meines Lebens in Trauer versinken.“ Er senkte die Stimme. „Und außerdem hast du mich eben bei was unterbrochen, was mir echt besser gefallen hat, als hier rumzustehen.“
Seine Hände griffen nach ihr. Aber es ging nicht, nicht bevor sie ihm nicht gesagt hatte, was hier oben geschehen war.
„Gleich, Lou, okay?“ Sie drehte sich wieder zum Garten und konnte sehen, wie eine Silhouette hinter dem Fenster des Halberstam-Hauses entlang ging. „Siehst du Cybill dort?“ Sie nickte zu der Silhouette, die jetzt stehen geblieben war und sich an dem Schreibtisch, der dort an der Wand stand, zu schaffen machte.
„Seh ich.“
„Die Sache ist die, Lou“, hörte sich Sarah leise sagen, „ich hab mit Ken Sex gehabt. In der Nacht, in der er ermordet worden ist. Hier oben.“ Sie versuchte, in der Dunkelheit Lous Gesichtsausdruck zu lesen. Aber es lag ein Schatten darauf. „Und ich weiß, dass du mit Cybill Sex hattest, Lou. Du mit ihr – ich mit ihm. Cybill hatte das vorgeschlagen, an dem Tag, als wir im Whitney waren – “
„Whow … whow whow … langsam, Sarah“, fiel er ihr ins Wort. „Was ist los?“ Er bewegte sich ein wenig und sein Gesicht tauchte in einem Lichtdreieck auf, das von der Gartenbeleuchtung zu ihnen nach oben geschickt wurde.
„Du hast mich gehört, Lou. Du mit ihr – ich mit ihm. Cybill wollte das so. Ich hab versucht, mich dagegen zu wehren, aber es ging nicht und irgendwann habe ich nachgegeben. Und dann hat sie ihn umgebracht. Oder umbringen lassen. Als sie sicher sein konnte, dass alle Spuren auf mich weisen. Sie hat sogar die Tatwaffe in unser Haus geschmuggelt. In das Bett, Lou, auf dem du mich gerade … haben wolltest.“
Er hatte die Spitzen seiner Finger auf die Stirn gepresst.
„Hast du mir zugehört?“
Keine Antwort.
Sie schaute wieder zurück zum Haus der Halberstams. Das Licht im Wohnzimmer war verloschen. Stand die Silhouette noch immer hinter der Scheibe? Sah sie zu ihnen nach oben? Wenn sie sie von hier oben sahen, musste Cybill sie auch von unten aus sehen können.
„Es tut mir leid, Sarah“, hörte sie Lous Stimme hinter sich. „An dem Tag, als wir mit der Firma nach Chicago geflogen sind. Sie … es tut mir leid.“
Sie drehte sich nicht um. „Bist du dir sicher?“
„Sie ist eine Schlange, Sarah. Wenn sie das mit dir verabredet hat, weißt du das selbst.“
Hättest du nicht stark sein können, Lou? Und ich? Hätte ich nicht auch stark sein können?
„Wir müssen – “, fing sie an, wurde aber von Lous Stimme unterbrochen.
„Die Tatwaffe? Hast du eben gesagt, dass die Tatwaffe in unserem Bett war?“
„Ich hab sie verschwinden lassen.“ Sie zog an den Rollstuhlrädern, um ihn anzusehen. „Aber manchmal denke ich, dass es für uns eigentlich nur einen Ausweg gibt.“
„Ja?“
„Wir müssen sie umbringen, Lou. Bevor sie unser Leben völlig zerstört.“